THE BEEF: korrekt inkorrekt

Dieser Comic fasziniert mich, weil er den Spagat schafft zwischen politischer Agenda und undergroundiger Respektlosigkeit.
THE BEEF prangert Fleischverzehr und Argarindustrie an, tut das jedoch auf der Folie einer wüsten Provinzromanze und Haudrauf-Superhelden-Action.
(Rosamunde-Pilcher-Fans gehen jetzt bitte in Deckung oder schalten besser gleich ab.)

Im ländlichen Süden Kaliforniens regiert der Viehbaron Vodino, ein eingewanderter Grieche. In seiner Fleischfabrik werden Rinder am Fließband verarbeitet, versorgen die Region mit Arbeit und Wohlstand. Seine nichtsnutzigen Enkelsöhne Khristos und Gaelan nennen sich K-Bob und G-Row und terrorisieren ihre Umgebung.

Auftritt der fiesen Zwillinge Khristos und Gaelan, die erst den Schlachthofarbeiter Chuck Carter anpflaumen, dann eine mexikanische Familie am Nebentisch belästigen.


Mit diesen beiden Kotzbrocken (ein Begriff, der gut in die Welt von THE BEEF passt) führt dieser Comic sein Feindbild ein. Khristos und Gaelan sind die personifizierte Inkorrektheit. Sie sind respektlos, egoistisch und gewalttätig – und damit Motor einer Handlung, die die Idee der Gewaltlosigkeit propagieren möchte.

Die beiden drangsalieren im Fortgang das mexikanische Einwandererpaar Paco und Lilly, das mit ihrer Tochter Mary-Lynn vom Erdbeerenpflücken lebt. Alle drei haben sich von Schleusern ins Land bringen lassen und sehen nun ihren Traum von der Freiheit platzen.

Brutale Wirklichkeit und Flashback zur Schleuseraktion: Paco, Lilly und Mary-Lynn werden in einen Kleinlaster eingebaut! Die Figuren sprechen im ganzen Comic ausschließlich Spanisch, was ihren Figuren Authentizität und Würde verleiht.

 

Diese Seite übrigens schockiert mit ihrem Realismus und setzt einen gekonnten Kontrast zum überbordenden Wahnsinn der BEEF-Handlung. Auf solche Weise schmuggelt dieser Comics seine Anliegen in die Hirne der Leserinnen und Leser.

Hauptfigur und ‚Superheld‘ der Geschichte ist jedoch Chuck Carter.

 

Chuck Carter ist der gutmütige, hard-working All-american guy. Schon sein Vater schuftete im Schlachthof, wurde dort verstümmelt und kam später unter nicht-koscheren (sic!) Umständen ebenfalls dort ums Leben.
Chuck setzt diese Arbeit fraglos fort, hat schon „23.000“ Kühe exekutiert, führt eine brave und zurückgezogene Existenz, bis eines Tages eine seltsame Verwandlung mit ihm vor sich geht.

Da er sich sein Leben lang von Fleisch ernährt und sich mit chemisch prozessierter Nahrung vollgestopft hat, mutiert sein Körper im Erregungsmodus zum fleischigen Muskelmonster.

THE BEEF ist der Hulk ohne Gammastrahlung.

Fleischhulk!!!

 

Du bist, was du isst. Noch nie war es wahrer als in diesem Comic: Chuck Carter ‚channelt‘ im BEEF-Zustand die Herdenintelligenz der Kühe und Rinder, geht eine mentale Verbindung mit ihnen ein und erlangt übermenschliche Kräfte.

Grund für den ersten Ausbruch der Supergestalt ist ein Angriff auf Mary-Lynn, seine heimliche Flamme, der sich Chuck bisher nicht zu nähern wagte. Die beiden Ekelpötte Khristos und Gaelan nämlich stechen eine Kuh mit dem Messer an (!) und hetzen diese auf Mary-Lynn (!!), weil sie solcherart herausfinden wollen, ob die großen Brüste der jungen Frau natürlich sind (!!!), denn in der Laufbewegung der Flüchtenden lässt sich dies begutachten. Ja, isses denn zu fassen?! Wer denkt sich denn so was aus?

Das nenne ich Underground, und zwar von der grotesken Sorte. Das ist zugleich pubertär dämlich und brutal aggressiv – eine Kombination, die für mich glaubhaft rüberkommt.

Die Hatz durchs Erdbeerfeld. Eine schräge Seite, die in ihrer unbeholfenen Ausführung (falsche Größenverhältnisse und Perspektiven, plane Farbgebung) eher wie ein Jugendcomic wirkt. Dazu kreieren die herumfliegenden Erdbeeren einen Pseudo-3D-Effekt.

 

Im  dritten Heft (von fünfen) liefert sich unser Fleischhulk Chuck ein Duell mit einem massigen Cop. Der ist die Marionette von Viehbaron Vodino, verhaftet grundlos die mexikanische Familie. Dieser gottesfürchtige, sadistische Officer Lee schleppt noch ein Golfskriegs-Trauma mit sich herum, wie sich den ihm zugeordneten blauen Textkästen entnehmen lässt.

Und wieder schmuggelt THE BEEF einen Hauch von Sozialkritik in diesen Comic. Was die Macher nicht daran hindert, diese Figur augenblicklich zu verheizen.

Dank der Kraft der Kühe hat Veteran Lee jedoch keine Chance gegen Chuck Carter, die Ein-Mann-Stampede.

Der menschliche Fleischberg scheint mir ein bisschen auch Parodie auf die hypertrophen Körper der Bodybuilding-Kultur zu sein. Hübsch illustriert auf dieser ganzen Seite:

Obenrum ein Gebirge aus Fleischklöpsen, untenrum fließt Milch durch die Adern. Das Genital spaßig angedeutet mit zwei Tomaten und einem großen Milchshake. Im Hintergrund liegt die angeschossene Mary-Lynn.

 

Heft vier eröffnet mit den dramatis personae als Aufstellerfiguren: Zu beachten ist hier, dass nicht nur der getötete Officer Lee schon umgeworfen am Boden liegt, sondern dass eine Kuh die Erzählstimme übernimmt!

THE BEEF macht seine menschlichen Charaktere zu Nebendarstellern, zu tragischen Statisten in einem größeren Drama: dem grausamen Naturschauspiel des Fressens und Gefressen-Werdens.

 

Die Kuh erklärt uns ihr Leben als Verwertungsmaschine. Das alles bejahend und wertfrei, dass man ein wenig an das Rinderwesen aus Douglas Adams‘ „Restaurant am Ende des Universums“ erinnert wird, welches den Restaurantgästen ihre zartesten Teile zum Verzehr empfiehlt.

Auch schaut THE BEEF über den Tellerrand und liefert uns einige kulturspezifische Betrachtungen zum Verhältnis von Mensch und Nutztier.

 

Wie aufs Stichwort dreht THE BEEF jetzt noch einen Gang höher – und lässt im letzten Heft Mahatma Gandhi auftreten! Der ersteht mit einem Kalauer auf den Lippen als wässrige Erscheinung aus einem See aus Milch (den Chuck verursacht hat, indem er einen Milchtanklastwagen gesprengt hat).

Als höhere Instanz verklickert uns nun noch Gandhi Weiteres zur Milchviehhaltung:

Die Chuzpe, die Chuzpe: Die BEEF-Macher lassen Mahatma Gandhi die Feinheiten der Milchproduktion erläutern! An anderer Stelle des Comics weist Gandhi darauf hin, dass Ben & Jerrys auch vegane Eissorten anbieten!

 

Doch auch ein Gandhi hat keine Schnitte gegen die gewalttätigen US-Amerikaner. Immerhin schafft er es, die mexikanische Familie aus der Gefahrenzone zu eskortieren. Seine klugen Worte treffen jedoch auf taube Ohren bei Vodino und Enkel. Also nimmt er seinen Abschied:

 

Ich lese THE BEEF als modernen Undergroundcomic. Die Autoren Richard Starkings und Tyler Shainline transportieren das Thema Tierrechte in einen krassen, knalligen, auch verstörenden Comic, der zudem noch knallbunt ist und mit schrägem Design aufwartet.

Was sind denn das für Zeichnungen?

 

Ich möchte Shaky Kanes Artwork beschreiben als widersprüchlichen Mix aus Michael Allreds simplifizierendem Outline-Stil und Geoff Darrows hyperdetailliertem Realismus. Das ist zwar eigentlich unmöglich, aber genauso empfinde ich es.
Es gibt sogar eine Stelle, die mich an HARD BOILED denken ließ, vielleicht eine Hommage?

Der Blick durch den zerschossenen Kopf. Hier besteht Gandhi aus purer Milch, was das Bild harmlos macht. Wer das mögliche ‚Vorbild‘ sehen möchte, klicke auf meine Analyse von Darrows Comics und scrolle etwas in Artikelmitte:

Tillmann liest: HARD BOILED

 

Ein Appell zum Schluss

 

Comics sind so seriös geworden. Das bedaure ich gerne mal privat und hier auch öffentlich. Nichts gegen Graphic Novels und biografische Aufarbeitungen, aber mir fehlen krawallige und rotzige Statements zur Lage (wie es die Undergroundcomix in den 1970er-Jahren programmatisch ausgelebt haben).

In Deutschland gab es das hin und wieder in den Werken von Brösel, Moers, König, im frühen Kram von Tom Bunk, bei Fils DIDI UND STULLE, aber es scheint mir ruhig geworden zu sein. Cartoons können immer noch mal böse sein, aber der deutsche Comic ist auf dem Appeasement-Pfad der Ernsthaftigkeit und der kulturellen Anerkennung.

Ich finde: Gerade dieses Medium eignet sich zum Aufbegehren. Knatsch!

Wo sind Comics, die mir Super-Greta im Kampf gegen den bösen Bolsonaro schildern? Wer zeichnet mir die sexuellen Eskapaden in den Hinterzimmern der AfD? Wann verteilen wir den anonymen Piratendruck „Asterix gegen die Automobilindustrie“?

Comics sind so verdammt seriös geworden. Selbst eine Oldie-Gaga-Serie wie CLEVER UND SMART erfährt im Carlsen-Verlag eine ‚seriöse‘ Neuauflage mit aktualisierter Übersetzung und richtiger Farbgebung. Wer braucht denn so was?!
(Ist ein Riesenverkaufsschlager.)

Ich bin eine alte Nervensäge, die von Comics auch gepfeffertes Engagement, unbändigen Spaß und intelligente Tabuverletzung erwartet. Zum Glück passiert es hin und wieder. Wie hier mit THE BEEF.

Ein wichtiges Thema wird plakativ in Szene gesetzt, anhand von Sympathieträgern und Feindfiguren durchgespielt, frech vor Augen geführt, drastisch im Bewusstsein verankert. Geht doch!

So – und jetzt zieht los, Leute!

Irritierend ist, dass Gandhi von den Machern des Comics nur als der „Oscar-Gewinner“ präsentiert wird, so als hätte es nur den Film und keine reale Person Gandhi gegeben! Ist unsere Welt schon so kaputt, dass die Rettung der Welt nurmehr als Filmstoff vorstellbar ist?!

Besorgt euch den Comic, schneidet die Gandhi-Maske aus, praktiziert Gewaltfreiheit und macht die Welt zu einem besseren Ort!

Wie immer blättern wir im Anschluss durch das englische Tradepaperback im Insta-Video: