Der esoterische Moore: PROMETHEA

Comicgott Alan Moore hat so viele bahnbrechende Comics (plus eine Reihe eher vernachlässigbarer Werke) geskriptet, dass ich immer durcheinanderkomme.
Was hat er alles für seltsame Arbeiten für Image Comics erledigt? Was gehörte dann zu Americas Best Comics? Welche Serien daraus sind wo noch in Spin-offs erschienen? Was ist mit der völlig vergessenen Miniserie „1963“ (hatte das mit seinem DC-Streit zu tun)?

Auch wundert mich, dass es keine „Alan-Moore-Bibliothek“ gibt, ein lieferbares Gesamtverzeichnis seiner Comics, will sagen: Es gibt Werke, die finden Sie nicht auf Deutsch, und manchmal kaum auf Englisch. Interessantes Zeug ist in den Archivgrüften der Verlage verschwunden.

Da freut es sich, dass sein obskurer Liebling PROMETHEA wieder zu haben ist. DC hat diesen bemerkenswerten Comic im Jahr 2020 als dreibändige Deluxe-Edition (versammelt insgesamt 32 Hefte) neu aufgelegt.
(Auf Deutsch ist meines Wissens nur ein Paperback der ersten sechs Hefte bei Speed veröffentlicht worden. Kurz darauf ging der Verlag pleite. Ich wage zu bezweifeln, ob man die Publikation bis zum Schluss durchgezogen hätte, denn PROMETHEA wandelt sich nach einem konventionellen Auftakt zu einem beinahe experimentellen Comic – doch dazu später.)

Göttliche Frauen

 

Nach einem dreiseitigen Auftakt im antiken Alexandria, wo eine Templersekte einen heidnischen Prediger ermordet, springen wir in das New York des Jahres 1999, kurz vor dem Millenniumswechsel. Dieses New York ist jedoch mitnichten unser New York, wie wir es kennen (der Comic ist 1999 bis 2005 veröffentlicht worden).

Das New York von PROMETHEA ist eine Stadt der Zukunft mit Flugtaxis, Medien-Feeds an jeder Straßenecke und Supermenschen, die über die Bevölkerung wachen. (Weshalb Moore New York futuristisch verfremdet, dazu äußere ich ganz am Schluss dieses ellenlangen Beitrags eine Theorie.)

Moore zitiert jedoch mit den neuen Supermenschen nicht seine WATCHMEN, sondern präsentiert eine Gruppe von „Science Heroes“ namens The 5 Swell Guys, die gegen einen Joker-Verschnitt namens The Painted Doll antreten.

Doch um diese Konfrontation geht es nur am Rande, denn Hauptfigur ist natürlich Promethea, die als neue Heldin das Spielfeld betritt. Ihre Alltagsidentität ist die von Sophie Bangs, einer Studentin, die über die Romanfigur „Promethea“ forscht.

Hier zimmert uns Autor Moore wieder eins seiner bewährten Literaturspielchen, bekannt aus LEAGUE OF EXTRAORDINARY GENTLEMEN: „Promethea“ taucht durch die Jahrhunderte in diversen Verkörperungen auf – als Dienerin der Märchenkönigin Titania, als Comicstrip-Heldin in „Misty Magic Land“, als Kriegerin in Groschenheften, als kämpferische Patriotin im Zweiten Weltkrieg sowie als Wissenschaftlerin in Comics des Modern Age.

Sophie Bangs besucht auf Recherche das reale Vorbild für die letzte Promethea. Sie ahnt nicht, dass diese Begegnung mit Barbara Shelley ihr Schicksal besiegelt. Barbara war Muse und Ehefrau des verstorbenen Comicautoren Steve Shelley, der seine Promethea nach ihr gestaltete. Als Sophie bei ihr eintrifft, wird Barbara von einem Schattenwesen überfallen.

Dank ihres Wissens um die Figur kann Sophie die Eigenschaften Prometheas channeln – und wandelt sich in die jüngste, eine neue Promethea-Inkarnation.
(Das „Formwandeln“ übrigens geschieht durch einen kreativen Akt: Sophie schreibt einige Zeilen nieder, wie sie sich „ihre“ Promethea imaginiert und welche Fähigkeiten sie damit erlangen würde.)

Hier sahen wir Sophie als neue Promethea (die Feuerbringerin!) im Kampf gegen einen Schattenagenten der Tempelsekte, im Hintergrund die erstaunte Barbara.

Der überraschenden Wandlung folgt eine Einweisung durch Barbara, die als letzte Inkarnation Prometheas nun „abdankt“ und Sophie die Rolle überlässt. Die ist natürlich komplett überrumpelt und verwirrt von den Geschehnissen und muss sich erst mal mit ihrer hippen Freundin Stacia beraten.

Tüchtig feministisch

 

Moore stellt seiner Sophie eine schlagfertige Frau zur Seite: Diese Stacia Vanderveer ist zunächst eine hedonistische Partynudel, wird sich jedoch im Lauf der Serie wandeln, sogar eine eigene Promethea-Inkarnation befehligen und sich darüber mit Sophie verkrachen!
Das ist jetzt gespoilert, aber ich möchte nur klarstellen, dass diese Serie gekonnt ins „human drama“ geht – und in keinster Weise auf Action und Supermenschenkram aus ist.

Hier sahen wir den Abschied von Barbara, die im Kampf gegen die Tempelsekte ihren Verletzungen erlegen ist. Sophie schwört Rache, Stacia spendet Trost.

In den folgenden Hefte in Book One der Deluxe-Edition reist Sophie zu ihren Vorgängerinnen: Sämtliche Inkarnationen Prometheas leben im Reich des Nichtmateriellen, der Immateria. Dort sind sie unter sich, reden und planen miteinander, streiten auch und begutachten und kommentieren die Arbeit der aktuellen Inkarnation „aus dem Himmel herab“, sozusagen.

Auf dem folgenden Spread (den ich wie alle Abbildungen fotografiert habe, weil Zeichner J. H. Williams III fast ausschließlich in Doppelseiten-Arrangements arbeitet!) stößt die Barbara-Promethea zur Tafelrunde der anderen.
Bemerkenswert ist, dass eine der Prometheas ein Mann war! Der schwule Comiczeichner Bill Woolcott schuf nicht nur seine Bill-Promethea, sondern lebte als Trans-Frau, die von ihrem Liebhaber Dennis erschossen wurde!

So lernen wir die verschiedenen Aspekte Prometheas kennen – und Sophie erweitert ihre Kenntnis der Mythologie und beherrscht ihre Kräfte immer besser. Zugleich aber erfahren wir auch, dass Promethea ein furchtbares Schicksal bevorsteht: Sie wird das Ende der Welt einläuten!
Der Sophie-Promethea ist offenbar vorbestimmt, diese unsere Welt kollabieren zu lassen. Dagegen sträubt sie sich. Ob ihr das gelingt und auf welche Weise die Welt eventuell zerfällt, das werde ich natürlich nicht verraten!

Interessant ist jedoch, dass Alan Moore uns mit einer Figur identifizieren lässt, die uns Bauchschmerzen macht. Waaas? Unsere Heldin, die sympathische Sophie, trägt den Fluch der Vernichtung in sich? Kann das sein? Kann ich ihr als Leser wirklich die Daumen drücken? Was tut „meine Hauptperson“ denn da?!

Schauen wir einen Moment auf Prometheas Gegenspieler, die Templersekte. Diese Männer und Frauen bewahren seit Jahrhunderten das Wissen darüber, dass Promethea gestoppt und beseitigt werden muss. Schon der Schattenagent vom Anfang des Comics war ein solcher Versuch, die Welt zu retten.

Die Sophie-Promethea aber wird sehr schnell sehr mächtig und bereits in Ausgabe neun konfrontiert sie ihre Gegner und räumt diese Bedrohung vom Tisch: Die folgende Szene vereint Spannung, Drama, Rührung, aber auch Komik in brillanter Komprimierung.

Promethea stellt die drei Anführer der Tempelsekte, in ihrer Freizeit gewandet in Tennisoutfits. Der Versuch, sie mit dem „spear of destiny“ anzugreifen, scheitert kläglich. Promethea ignoriert sie einfach und reißt die Türe auf, hinter der die „Erben des Tempels“ ein Ritual zu feiern scheinen.

Promethea platzt in einen Kindergeburtstag: Simon und Jenny, die letzten Tempelritter, sind noch Schulkinder und halten gerade mit Freunden ihre Party ab. Sophie-Promethea ist geschockt von der Tatsache, dass Kinder gegen sie indoktriniert werden. Sie erkennt, dass sie nicht gegen Simon und Jenny vorgehen kann, entschuldigt sich für ihren rüden Auftritt.

Als Geburtstagsgeschenk beschwört sie einen bunten Märchenfiguren-Reigen aus dem Reich ihrer Fantasie herauf. Die Kinder staunen begeistert, die Erwachsenen ebenfalls, aber warnen zugleich vor den „teuflischen Bildern“.
Die Parade schließt der Rattenfänger von Hameln, der im Abgang noch eine Drohung ausspricht: Verfolgt der Tempel weiterhin Absichten gegen Promethea, wird der Rattenfänger wiederkehren und sich die Kinder holen.

Eine elegante wie subtile Drohung, eine bravouröse Demonstration von Prometheas Macht. (Und ich lese es auch als Mooreschen Metakommentar zur „Verderblichkeit von Comics“.) Denn PROMETHEA, das Gesamtwerk, ist die Feier der menschlichen Kreativität und Kunstausübung. Auch der Spiritualität, das sehen wir später noch!

Erst mal zurück zu einer speziellen Frage:

Gibt es denn überhaupt Männerfiguren in PROMETHEA?

 

Ja, allerdings kaum relevante – wir begegnen dem verstorbenen Ehemann von Barbara, dem Tempel-Hitman Mr. Solomon, einem Duo männlicher Dämonen sowie unseren (nicht vergessen!) Science Heroes, den 5 Swell Guys (von denen einer ebenfalls eine Transperson ist).
Aber da ist noch Jack Faust, vorgeblich ein echter Magier, der seine Kröten aber mit dem Legen von Tarotkarten verdienen muss. Jack bietet der neuen Sophie-Promethea seine Hilfe an, denn er weiß um das Reich der Immateria und wie man sich dort gefahrlos bewegen kann. Sophie traut dem zwielichtigen Typen zunächst nicht, zumal er ihr ein unmoralisches Angebot macht: Sein Wissen gegen eine Liebesnacht mit Promethea!

Dann kommt Heft 10 von PROMETHEA – und ich bin vor Lachen vom Stuhl gefallen!

Sophie nämlich denkt sich: „Was soll’s? Ich mach’s! Ich wandle mich in Promethea und Promethea hat dann Sex mit Jack Faust“.
Das komplette Heft widmet sich dem Geschlechtsverkehr der beiden Figuren. Allerdings erleben wir feinsten Tantra-Sex nach der Kundalini-Schule, währenddessen uns Moore (bzw. sein Sprachrohr Promethea) erklärt, wie ein Orgasmus durch die sieben Chakren emporsteigt. Jahaha!

Wo hat es das schon mal in der Comicgeschichte gegeben?! Wundervoll!

Die Deluxe Edition Book One schließt mit Heft 12 und einer ausführlichen Schilderung und Deutung des Tarot. Ab hier mutiert Alan Moore zum „Erklär-Bär“.
Die Handlung von PROMETHEA wird ausgesetzt, denn es folgt (nach dem Tarot) eine Unterweisung in der mystischen Tradition der Kabbala, der „Suche des Menschen nach der Erfahrung einer unmittelbaren Beziehung zu Gott“.

Dazu nun reisen Sophie und Barbara (die im Jenseits ihren Mann sucht) entlang der 22 Pfade des Lebensbaums und seiner zehn Spären der Sephiroth zur Erleuchtung.
(Fragensenich, es ist kompliziert.)

Das meint Moore tatsächlich bierernst, er zeigt uns Schritt für Schritt die Entwicklung unserer Protagonistin hin zu ihrer Bestimmung als Schicksalsgöttin. Volle zehn Hefte lang geht das jetzt so, da muss man sich durchbeißen. Esoterisch bis zum Anschlag, aber auch unterhaltsam. Moore bietet uns eine Religion (seine Religion?) in Comicform an.

Dann kommen dann auch grafische Klopper wie folgender heraus: Auf der Sephiroth-Station „Hod“ (steht für Glanz und Majestät) geraten Barbara-Promethea und Sophie-Promethea in eine reflexive Zeitschleife.
Wir können den Figuren und Sprechblasen auf verschiedenen Wegen folgen (auch wiederholt!) und sehen die beiden Prometheas sich selber beobachten und das Gefangensein in der Unendlichkeit kommentieren!

Götter, wenn wir wollen

 

Dieser Comic ist mir sympathisch, auch wenn es Arbeit bedeutet, ihn zu bewältigen. PROMETHEA sagt uns, dass das Schicksal immer in unseren Händen liegt. Dass wir auf uns vertrauen können. Dass wir unsere eigenen Götter sein können.

Braucht es dazu 32 Hefte? Braucht es dazu Professor Moore, der uns seine Kosmologie, seine Mythologie, seine Kabbala-Auslegung haarklein ausbreitet?

Ich habe schon überlegt, ob ich Ihnen raten sollte, den Mittelband (Deluxe Edition Book Two) zu überspringen. Dann aber entgeht Ihnen das sagenhafte Artwork von James H. Williams III – „Jim“, wie ihn Autor Moore nennt.

In jedem einzelnen, verfluchten Heft setzte dieser Irre ein neues illustratives Konzept um. Es ist so detailverliebt gestaltet, dass mir die Worte fehlen!
Ich präsentiere Ihnen das im Blättervideo, zu finden ganz am Ende dieses Beitrags.

Hier mal eben die ultraviolette Anmutung von Heft 20: Sophie und Barbara unterwegs durch die Sphäre der Magie, achten Sie auch auf das zentrale Kraken-Motiv, das zugleich der Anordnung der Panels dient.

Moores Message

 

Ich lese PROMETHEA als Alan Moores Abrechnung mit dem 20. Jahrhundert. Zum Millennium schenkt er uns die Rückschau auf die Monstrositäten der Weltkriege, exemplifiziert an den Kriegs-Prometheas. Er kommentiert auch das Gebaren der Kulturindustrie, versinnbildlicht durch die Pulp- und Comic-Prometheas.

Moore gibt der Weltmetropole New York einen futuristischen Anstrich, weil er uns noch eine Vorschau spendieren will, wie sich unser Jahrhundert entwickeln könnte. Er präsentiert uns überspitzt „things to come“, die auf einen Amoklauf von Politik und Medien hinweisen. Sein PROMETHEA-Kosmos ist durchwirkt von Mediengeplapper, penetranten Werbestrategien, dummen Musikhypes und einer betäubten Bevölkerung, die keinen Widerstand, keine Verweigerung mehr wagt oder überhaupt kennt.

Populistische Politik bekommt ihr Fett weg mit der Figur des Bürgermeisters von New York, ein Soziopath namens Sonny Baskerville. Der hat eine multiple Persönlichkeit und betreibt eine völlig erratische Politik, was aber niemanden zu bekümmern scheint. Politiker, so sind sie halt!
Im Lauf der Serie fährt die Dämonenhorde im Dienste der Tempelsekte in diesen Sonny Baskerville ein, übernimmt seine Persönlichkeit und lässt ihn nichts mehr weiter als höllische Flüche und Verwünschungen äußern. Das aber wird von den Medien als Gesundung des wirren Bürgermeisters gefeiert!

Das sind Moores satirische Seitenhiebe, die PROMETHEA auch mit Humor versorgen.

Die Stacia-Promethea zeigt dem Bürgermeister und dessen Dämonen, was eine Harke ist; extrawildes Layout mit Chtulhu-Feeling!

 

Also: Der Autor serviert uns ein übersteigertes New York als zerstörenswerte Kulisse für sein Drama um die Conditio humana. Sophie Bangs ist Moores neuer Mensch des neuen Jahrtausends. Eine Frau, die uns Erdenbürgern ein neues Feuer bringt. Das Feuer der Erkenntnis, dass die Welt so nicht weitergehen kann – und also zerstört werden muss.
Zerstörung jedoch muss nicht unbedingt mit Ende gleichgesetzt werden …

PROMETHEA ist ein pathetischer Appell ohne Pathos.

Wer mag, staunt noch mit mir beim Blättern durch dieses wuchtige Werk: