CODA – Fantasy mit Ironie

Ach, ist das schön!
Ein Barde, der seine eigenen Geschichten verflucht.
Eine Lady, die der Minne würdig, aber ein Monster ist.
Eine Marketenderin, die in allen Dingen ein Geschäft sieht.
Eine Welt, die sich nach einer Katastrophe neu ordnen muss.

Der Barde ist ein getriebener, misstrauischer, einsilbiger Vogel, dessen Name wir nicht mal kennen! Also wird er von allen bloß „Hum“ genannt – nach dem Laut, den er am häufigsten  von sich gibt.

Lady Serka ist eine schöne und stolze Kämpferin, die ein dunkles Geheimnis hat: In Wut geraten, wandelt sie sich zur Berserkerin und ist eine militärische Naturgewalt. Diesen Zustand haben ihr die Whitlords angehext, die magischen Herrscher der untergegangenen Welt. Serka brennt auf Rache an ihren alten Meistern.
Als sie erfährt, dass einer von ihnen noch lebt und die wandernde Stadt Thundervale befehligt, kennt sie kein Halten.
Der Barde jedoch möchte verhindern, dass sich Serka in Gefahren stürzt, denn er ist in sie verliebt und (zweites dunkles Geheimnis) er ist sogar mit ihr verheiratet!

Serka schlägt als Berserkerin den Angriff von Räubern zurück. Hum, der Barde, ist davon nicht begeistert. Er macht sich Notizen, dann tritt er der Kriegerin gegenüber.

Diese Szene am Ende des dritten (von zwölf) Heften markiert übrigens das Zusammentreffen von Hum und Serka, in dem uns Leser*innen erst klar wird, dass die beiden ein Paar sind. Bislang waren wir der Auffassung, dass der Barde uns drei Hefte lang eine unerreichbare Minnefrau beschreibt. Dabei ist er ihr Ehemann!

Hum nämlich kann sich seiner Frau nur dann nähern, wenn sie (wie oben) ihren „Kampfmodus“ verlassen hat. Übrigens finde ich die Inszenierung absolut genial: Die stolze Kriegerin mit ihrem Ross am Zügel wendet ihr Haupt und blickt stumm auf den Mann, der da auf sie zugeschlendert kommt, Hände verlegen hinter dem Rücken gefaltet.
Seine Begrüßung „Hi, Sweetie“ ist dermaßen auf den Punkt (und komisch noch dazu!), dass mir keine wirklich treffende Eindeutschung einfällt („Hey, Süße“ ist zu frech, „Hallo, Schatz“ zu formal.)

Damit habe ich etwas gespoilert, aber keine Angst: CODA ist noch voller Überraschungen und amüsanter Wendungen.

Die erwähnte Marketenderin (in Ermangelung eines besseren Ausdrucks) ist eine in einer Riesenbadewanne residierende Meerjungfrau, die ganz offensichtlich bessere Tage gesehen hat.

Murkrone heißt dieses fidele Wesen, das sich von einer Handvoll Söldnern, den Urken, beschützen lässt, um ihren illegalen Handel mit Drogen und Waffen zu betreiben. Aber was heißt „illegal“?
Eine Ordnung gibt es keine mehr, deshalb ist die Murkrone Herrscherin ihrer traurigen Welt – denn (oben im Text klingt es an) ihre Brut hunderter Fischbabys harrt in komatösem Zustand auf die Sprengung eines Stausees, um ins Leben zu finden.

Das ist die Welt von CODA, regiert von Warlords und verrückten Einzelgängern in Schutzzonen wie Ridgetown. Dort wird der Barde aufgenommen, zahlt es allerdings mit falscher Münze heim. Ihn interessiert nur der Ylf, ein letzter überlebender Elfenkönig, der in einer Kammer gefangen gehalten und verstümmelt wird.

Denn des Ylfen Fleisch (das nachwächst) ist die letzte Quelle von Magie in dieser Postapokalypse. Damit kann sich Ridgetown gegen die Räuber behaupten, damit kann sich Bürgermeisterin Satlark (wir sahen sie oben in der Vorstellung des Barden) als Wohltäterin aufspielen.

Ist das nicht alles Humbug?

Wer mich kennt, wird sich wundern: Tillmann und Fantasy?!
Gar nicht mein Genre, dennoch liebe ich CODA, weil die Konventionen der Fantasy tüchtig dekonstruiert und teils direkt veralbert werden.

Es gibt einen Drachen, jawohl, doch der ist ein sprechendes Skelett, das jeden anherrscht, er möge ihm die Knochen scheuern.
Es gibt ein wunderbares Ross, jawohl, doch das ist ein amoklaufendes und Flüche ausspuckendes Einhorn (bzw. Fünfhorn, weil es mit Magie überfüttert wurde).
Es gibt einen Zauberer, jawohl, doch der ist ein dementer Trottel und muss mit magischen Tropfen bei Laune gehalten werden.

Sie erinnern sich: eine Magie, die ausschließlich durch das Foltern eines Elfen gewonnen werden kann!
Im Bild sahen Sie noch eine fesche Maid, die gibt es natürlich auch, ist hier jedoch eine kesse Banditin, die in einem Hofnarrenkostüm herumläuft und gut Bogen schießen kann.

Und es gibt eine ehrenvolle Mission („Quest“), was der Barde lieber nicht hören will. Missionen sind ihm angesichts der elenden Verhältnisse zu verblasen und auch zu sinnlos („Don’t say the q-word“). Hum verfolgt nur ein Ziel: genug magische Substanz zu sammeln, um seine Serka von dem Berserkerfluch zu befreien.

Dafür lügt und betrügt unser poetischer Protagonist, klaut dem alten Mann seine magischen Tropfen, hetzt sein treues Ross bis zur Erschöpfung, geht krumme Deals mit der Murkrone ein, um am Ende festzustellen: Alles für die Katz, noch besser: Serka will überhaupt nicht von ihrem Ehepartner „geändert“ werden.

Ja, CODA ist vor allem eine Parabel auf das menschliche Unvermögen, sich gegenseitig zu akzeptieren. Nix Fantasy. Und doch Fantasy.
Wir erleben wilde Schlachten mit grässlichen Monstern, die Entdeckung eines noch lebenden Whitlords, teuflischen Verrat, einen Elfen, der zwölf Hefte lang nur sterben möchte – und selbst das Skelett des toten Drachens kommt immer mal wieder zu seinem dramaturgischen Recht.

Im Grunde aber erleben wir das grandiose Scheitern des Barden, dessen Plan zur Rettung Serkas ungeahnte Konsequenzen nach sich zieht. Eine perfide Verschwörung entspinnt sich im Hintergrund, eines Bond-Bösewichts würdig!
Erneut soll die Welt aus den Angeln gehoben und einer neuen Ordnung unterworfen werden. Denn das Chaos verlangt nach Führung von oben, oder?

Es geht auch um gesellschaftliche Utopien, denn bei allem Krawall und Budenzauber ist CODA ein Feelgood-Comic, der mein Herz gewonnen hat. Ach, ist das schön!

Nicht leicht zu lesen

Natürlich müssen Sie das quietschbunte und überbordende Artwork von Matías Bergara abkönnen. Der Zeichner aus Uruguay (der mit Autor Simon Spurrier schon HELLBLAZER gestaltete und mich dort faszinierte) hat einen kurios kantigen Cartoonstil drauf, dessen Bilder zum Teil regelrecht zerfetzt wirken können.
(Sehen Sie wahrscheinlich ganz gut, wenn Sie das Blättervideo im Anschluss aufrufen.)

Noch ein Beispiel für Bergaras wildes Layout: Der Barde im Gespräch mit dem Ylf, konkret dessen vom Körper abgetrennten Kopf. Die Blautöne der Szene steigern die geheimnisvolle Stimmung in einer erleuchteten Höhle.
Hum erwägt, den Kopf zu verbrennen; der Ylf gewinnt Zeit, indem er den Barden mit Psycho-Talk einwickelt – er macht ihm klar, dass er (der Barde) ein zerrissener Charakter sei, der unheimliche Dinge im Schilde führe, die er zwanghaft mit seinem Tagebuch oder verstümmelten und wehrlosen Fremden wie ihm verhandeln müsse.

Das ist CODA, letzten Herbst bei CrossCult auf Deutsch erschienen. Das heißt, der abschließende Band 3 steht noch aus, sollte aber dieser Tage auf den Markt kommen.

Ich wiederhole: Wer es zu lesen weiß (Spurriers filigrane und doch zielführende Konstruktion, Bergaras überschäumendes Artwork), kann mit CODA reich belohnt werden. Dieser Stoff zählt zu meinen Lieblingen der letzten Jahre und kommt in den Klassikerschrank: Comics, die man alle paar Jahre mit Genuss wiederlesen kann.

Abschließend können wir uns noch fragen, was der Titel „Coda“ bedeuten soll. Warum wählt Spurrier diesen so … technischen Begriff? Eine Coda ist in der Musik „der ausklingende Teil einer musikalischen Bedeutungseinheit“, ein Themenschluss.

Könnte auch sein, dass mit „Coda“ ein „Abgesang“ gemeint ist – auf die Conditio humana? Auf das Fantasy-Genre? Sie dürfen spekulieren!
Vielleicht schauen Sie derweil das Blättervideo an.