RORSCHACH – die harte Para(noia)-Nuss

Dieser Comic ist kein Superheldenstoff, sondern ein waschechter Krimi, in dem sich nach und nach die Mechanismen einer Verschwörung offenbaren. Klassisches amerikanisches Paranoia-„Kino“, wenn man so will.

RORSCHACH könnte auch vom CRIMINAL-Team Ed Brubaker und Sean Philipps stammen, ist jedoch von Autor Tom King und Zeichner Jorge Fornés – was bedeutet, dass die Kommunikation zwischen den Figuren noch lapidarer und unergründlicher daherkommt.

Alles, was ich bislang von Tom King gelesen habe, hatte einen sehr eigenen „Sound“: THE VISION, MR. MIRACLE oder auch THE SHERIFF OF BABYLON.

Nun also RORSCHACH, eine WATCHMEN-Sequel-Erzählung, die vom Ton her sehr an den oben besprochenen Comic erinnert: King konfrontiert uns mit getriebenen, in sich verschlossenen Menschen, denen man detektivisch gegenübertreten muss, um sie kennenzulernen.

Treffenderweise ist die Hauptfigur, mit der wir laufen, ein generisch wirkender Detektiv ohne Namen (!), grafisch angelegt zwischen Rockford und Columbo. Der Detektiv wird freiberuflich beauftragt vom Wahlkampfmanager des Präsidentschaftskandidaten Turley, auf den ein Attentat verübt wurde.
Während einer Wahlveranstaltung haben die junge Scharfschützin Laura und der Comiczeichner Myerson auf den geeigneten Moment zum Mord gelauert, konnten aber zuvor vom Securitypersonal erschossen werden.

Der Detektiv erzählt im Off seinem Auftraggeber vom Stand seiner Ermittlungen.

Und schon beginnt Kings Kunst der Verschleierung und der schrägen Referenzen: Der 80-jährige Comickünstler Myerson war der Wahnvorstellung verfallen, der neue Rorschach zu sein. Der alte Rorschach, der echte und einzige, war am Ende der WATCHMEN von Dr. Manhattan getötet worden, weil er der Welt eine Wahrheit offenbaren wollte, die der Welt seinerzeit nicht zuträglich gewesen wäre.

Da Rorschach sein Tagebuch jedoch vorher einem Skandalblättchen hinterlassen hatte, war die Wahrheit dennoch ans Licht gekommen – oder nicht? Oder wie oder was?

In der Sequel-Welt von Tom Kings RORSCHACH, in der wir uns jetzt befinden, glauben große Teile der US-amerikanischen Bevölkerung an die Verschwörungstheorie der „Squids“: Überdimensionale Psycho-Tintenfische aus dem All (so wie der, der 1986 New York verheerte, im Comic natürlich) planen die Eroberung der Erde und kontrollieren schon jetzt die Gedanken vieler „Volksfeinde“.

Laura, die Scharfschützin, die von allen nur „The Kid“ genannt wird, ist von ihrem Prepper-Vater so erzogen worden und hat in Myerson, dem Comiczeichner, einen Mitkämpfer gesucht und gefunden, mit dem sie gemeinsam gegen Turley, den Präsidentschaftskandidaten, vorgehen will.

Flashback in Lauras Jugend: Ihr irrer Vater präsentiert der Tochter das Waffenarsenal und verklickert ihr nebenher, dass er ihre Mutter töten musste, weil sie von „Squids“ kontrolliert wurde.

Laura hat mit einer Runde von Verschwörern den telepathischen Befehl von Dr. Manhattan zur Liquidierung Turleys erhalten, glaubt sie (und mit ihr schließlich auch Myerson und sogar noch Comickollege Frank Miller, der hier am Rande mitspielen darf).

Der Auftritt Millers ist entweder nur ein gigantischer Spaß oder eine böse Demontage von King, der Millers (zeitweiligen) Hang zu abseitigen Meinungen aufs Korn nimmt.

Wer bin ich und wenn ja: wie viele?

Die Verschwörer nämlich sind der Überzeugung, Dr. Manhattan habe Rorschachs Körper zwar aufgelöst, aber seine Seele in andere, normale Menschen gepflanzt, um die Squids incognito bekämpfen zu können. Also kann jeder der neue Rorschach sein!
Man muss nur dran glauben …

Verhörszene mit einem früheren Rorschach, der ebenfalls von Laura rekrutiert worden war.

RORSCHACH ist ein Comic, der äußerst schwer zu beschreiben ist, weil so viele Themen komprimiert aufeinanderprallen: Der WATCHMEN-Kosmos wird verquirlt mit amerikanischer Selbstverteidigungsmentalität, Attentats-Folklore trifft auf Polit-Paranoia, Thriller-Tropen gehen eine Symbiose mit spiritistischen Ideen ein, dann zimmert King noch die Meta-Ebene mit dem Comicmachen obendrauf (denn Myerson ist eine Hommage an Steve Ditko und dessen späteres Wirken mit THE QUESTION).

Dieser Comic ist ein wüster Klotz, ein hirnsprengendes Konstrukt, den kaum jemand in Gänze verstehen wird, sei es ihm wird folgen können. Ist es dann nicht sinnlos?

In meinen Augen nicht, denn ich habe RORSCHACH genossen. Die Lektüre war langsam und andauernd, aber ich fand es faszinierend, weil King einfach scheißgenial ist. Ich mag Kultur, die mich auch mal überfordert. Und King ist sogar so frech, noch eine Piratengeschichte einzubauen:

Myerson nämlich ist ein Comicstar, der eine Figur namens „Pontius Pirate“ geschaffen hat, die weltweit ihre Fans begeistert und sogar schon als Musical am Broadway lief. Das ist a) ein Kalauer auf die Bibelfigur Pontius Pilates, b) ein Hinweis auf Ditkos „Spider-Man“ und c) eine Referenz an Alan Moores „Tales of the Black Freighter“, das Back-up-Feature aus WATCHMEN, mit dem Moore seinerzeit eine Meta-Ebene gestaltete.

Der Detektiv halluziniert Gespräche mit Laura und Myerson; auch erleben wir Myerson bei der Arbeit an seiner sperrigen Verschwörungsserie „The Unthinker“.

Ist denn nichts verstehbar hier?

Was mich am Ball gehalten hat, ist die drückende Atmosphäre, die King mit seinem Zeichner Fornés entwickelt. Das Eintauchen in die Figuren von Laura und Myerson, das wir mit dem Detektiv unternehmen, fühlt sich unangenehm authentisch an, will sagen: So ist es, in einer Verschwörungswelt zu leben! Brrrrrrr.

RORSCHACH fängt im Kostüm des Verschwörungsthrillers (natürlich) eine US-Realität ein, die aufs Jahr 2020 upgedatet wurde. Spinnerte Theorien gewinnen die Oberhand über das Leben der Menschen und sind in den höchsten Zirkeln der Regierung angelangt. Der Kandidat Turley ist nicht unbedingt als Trump zu lesen, doch dieser Kosmos kennt keine Gewissheiten mehr. Nicht nur die Herzen sind korrumpiert, sondern auch die Gehirne.

Darin liegt die Wucht dieses Comics, wenn Sie sich drauf einlassen können. Es ist ein Paranoia-Comic, der verrückt bleibt, den Sie letztlich nicht verstehen werden. Das ist unbefriedigend, ja, und frustrierend und beklemmend ist es auch – aber eine Meisterleistung!

Der Myerson-Rorschach und Laura bereiten sich in der Wüste philosophierend auf das Attentat auf Turley vor; die Zeichnung im Sand nimmt Bezug auf das Wirken der Watchmen.

Jedes einzelne der 12 Hefte hat übrigens ein zentrales Thema, Schritte auf dem Weg der Ermittlung: Die Identifizierung von Laura und Myerson, das Kennenlernen der beiden, erste Aktionen in der Rorschach-Maske, Frank Miller und die Verschwörer, Attentats-Training auf dem Land, Verhör dreier Helfershelfer, Treffen mit Turley und weitere Kapitel.

Doch zurück zur Hauptfigur: Der Detektiv ist nicht nur der Protagonist, sondern auch Schlüsselfigur und ich behaupte: Er personifiziert ein Prinzip, nämlich den Willen zur Wahrheitsfindung. Dieser Mensch ist eigentlich viel zu schlau, er findet Spuren, die das FBI übersehen hat. Er kommuniziert in unerklärten Visionen mit den toten Attentätern, er ist der versteckte Superheld dieser Geschichte.

Der Detektiv tut sein Äußerstes, um Licht in die Affäre zu bringen – doch alle Resultate führen nur auf weitere Resultate, die vorherige Spuren zu verwischen scheinen.

Kampf der Prinzipien

Obwohl RORSCHACH natürlich von Figuren getragen wird, kommt es mir vor, als lesen wir „in Wirklichkeit“ (hu, ha!), wie sich gegnerische Positionen in Stellung bringen, aufeinander losgehen, sich durchwirken und in einen Gordischen Knoten verheddern, der nicht mehr zu entwirren ist.

Dieser Comic handelt vom Ende der Argumente, vom blinden Glauben an nicht mehr hinterfragbare Systeme. Alle Personen in diesem Stück wandeln sich, drehen sich, sind nicht mehr einzuschätzen.

RORSCHACH zieht uns den Teppich unter den Füßen weg – darin ist er hochaktuell und eine gespenstische Lektüre.

Gouverneur Turley, sein Wahlkampfmanager und ihr Detektiv im Debriefing.

Wer mehr zu RORSCHACH und dem Original WATCHMEN wissen möchte, mag gerne folgende Links studieren.

Sean Finley gibt zum Auftakt von RORSCHACH einen Eindruck der neuen Serie und erzählt uns von den Machern, der Steve-Ditko-Hommage sowie vom Alan-Moore-Original und den bisherigen Spin-offs.

Steve J. Ray schaut auf die Veröffentlichung des Sammelbands, würdigt die Zusammenarbeit von Autor, Zeichner und Kolorist und erzählt von der Wirkung, die der Comic auf ihn hatte.

Der Blog „Signals from the Edge“ kommentiert die Fortsetzung des Rorschach-Mythos und reflektiert den politischen Zustand der US-Gesellschaft.

Und ich habe natürlich wie immer ein Blättervideo für Sie.