Der Sheriff von Babylon? Was oder wer soll das sein, bitte?
Das ist in der Tat die Frage, denn es geht in diesem Werk um Zuständigkeiten in Nachkriegswirren, hier exemplifiziert an George W. Bushs Zweitem Irakkrieg von 2003.
Drei zentrale Figuren bewegen sich durch dieses „Babylon“: der US-Amerikaner Chris, der Iraker Nassir und die Exilantin Saffiya.
„Babylon“ meint die gefallene Kultur des Islam, den Sturz Saddam Husseins, die demütigende Besetzung des Landes durch „Ungläubige“. Mitzudenken ist auch die „babylonische Sprachverwirrung“, denn in diesem Comic wird zwar andauernd geredet, nur verstanden wird wenig.
Der Titel SHERIFF OF BABYLON spielt auch mit der Doppelbedeutung Sheriff/ Scherif – letztere eine Bezeichnung für hochgestellte Persönlichkeiten im arabischen Raum.
Damit gemeint ist zum Beispiel Saffiya, eine energische Frau, die aus dem US-Exil in ihre Heimat Irak zurückgekehrt ist, um das Land wieder aufzubauen (und natürlich auch aus dem Würgegriff der Amerikaner zu befreien).
Saffiya, von den Besatzern vereinfachend „Sofia“ genannt, entstammt einer Diplomatenfamilie, die unter Saddam Ministerposten innehielt, jedoch später vom Diktator hingerichtet wurde. Saffiya handelt aus Rache am System.
Mit dem Sheriff/Scherif gemeint sein könnte aber auch Nassir, ehemals Polizeichef unter Saddam. Ein erfahrener Ermittler, bewandert in allen Eigenheiten des Irak, der sich jedoch ins Privatleben zurückgezogen hat. Beim Angriff der US-Truppen sind seine drei Töchter in einer Bombardierung umgekommen.
Ob das Zufall war, sei dahingestellt. Denn Nassir hat seinerzeit die Familie Saffiyas liquidiert. Die wiederum hat durch ihre Spione den Amerikanern Bombenziele mitgeteilt. Nassir ist ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, er handelt aus Trauer.
Chris ist ein Cowboy, der sich als Sheriff aufspielt. Er bildet Iraker für den neu aufzubauenden Polizeidienst aus. Chris ist ein Gutmensch, getrieben von schlechtem Gewissen. Als Ermittler in den USA ist ihm damals einer der Piloten von 9/11 durch die Lappen gegangen. Chris fühlt sich verantwortlich für den Fall der Türme, den Einmarsch im Irak, den Aufbau einer neuen Ordnung. Chris handelt aus persönlichem Schuldgefühl.
Drei Sheriffs, ein Land, viel Chaos, wenig Verständigung.
Wir befinden uns im Jahr 2004. Die Amerikaner haben sich in ihrer „Green Zone“ verschanzt und versuchen, die Geschicke des Landes zu oktroyieren. Die liegen aber eher in den Händen von Saffiya, der zurückgekehrten Exilantin (in den USA ausgebildet und daher dem Massaker in der Heimat entkommen).
Saffiya/ Sofia kennt alle Player auf dem Spielfeld und regelt Konflikte auf eine handgreifliche Art.
Ich mute Ihnen nun fünf Seiten Lektüre zu, die die Figur Saffiya einführen und auch den Ton dieses Werks etablieren.
In den vier Split-Panels der ersten Seite sitzt sie vier verschiedenen Personen gegenüber: dem amerikanischen Befehlshaber, einem irakischen Regierungsbeamten, einem Scheich und einem Schmuggler.
Der Amerikaner hat Probleme mit Demonstranten; der Iraker unterstützt die Demonstranten, weil Lieferungen ausbleiben; der Scheich bestätigt, dass einer seiner Untertanen die Lieferung gestohlen hat; der Dieb schließlich weigert sich, die Lieferung herauszugeben. Saffiya konfrontiert ihn auf den folgenden drei Seiten.
Auf der letzten Seite sahen wir die Rückverfolgung der Kette: Dieb tot, Scheich zufrieden, irakische Regierung froh, US-Militär happy. Für ihre rabiate Arbeit erntet Saffiya Lob und Aussicht auf weitere Zusammenarbeit.
So funktioniert Politik im Nachkriegs-Irak. Über Leichen.
Das ist auch der Auftakt von THE SHERIFF OF BABYLON: Vor den Toren der Green Zone liegt ein toter Mensch – Ali. Der war Auszubildender der neuen Polizei und ein Schützling von Chris. Ali ist hingerichtet worden. Weshalb? Das wird zum verwirrenden Whodunit in diesem Comic.
Denn Chris, der gute Amerikaner, fühlt sich verantwortlich und beginnt zu ermitteln. Eine Aktion, die er besser hätte sein lassen, denn niemand interessiert sich für einen toten Iraker. Zudem ist unklar, ob Ali ein amerikanischer Spion beim IS oder ein IS-Spion bei den Amerikanern war.
Chris kontaktet Saffiya, die kontaktet Nassir, gemeinsam stellen alle ihre Untersuchungen an und stoßen in ein Wespennest aus der Begleichung alter Rechnungen, hilfloser Gewaltpolitik der US-Besatzer und islamistischem Terrorismus in Gestalt des smarten Gotteskriegers Abu Rahim.
Widerstrebend arrangieren sich alle Parteien miteinander, doch niemand weiß, welche Folgen und welchen Ausgang jeder weitere Schritt nach sich zieht. Besonders Nassir sitzt zwischen allen Stühlen. Der Ex-Saddam-Offizier steht im Konflikt mit Saffiya und bringt sogar noch einige US-Marines um, die er für schuldig am Tod seiner Kinder hält.
Er möchte in nichts hineingezogen werden, doch Chris und Saffiya drängen ihn zu Ermittlungen in Sachen Ali – was ihn zur Zielscheibe des Terrorchefs Abu Rahim macht. Hier ist er von diesem entführt worden:
Nicht besser macht die Situation, dass auch noch zwielichtige US-Geheimdienstler mit nichtssagenden Namen wie „Bob“, „Jim“ und „Franklin“ in die Geschichte eingreifen und nur eins im Sinn haben: so viel Verdächtige auszuschalten wie möglich – egal ob schuldig oder auch nicht.
In THE SHERIFF OF BABYLON gibt es keine Unschuldigen. Alle haben Blut an den Händen, alle stemmen sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Chaos.
Wir haben es mit einem bedrückenden und frustrierenden Comic zu tun. Er kommt uns nahe, ohne dass wir ihn verstehen können. Grundthema ist, ob überhaupt jemand irgendwen verstehen kann. Die Figuren reden oft in Phrasen, deren Bedeutung unklar ist.
Die blumigen Floskeln der arabischen Kultur kollidieren mit dem schwammigen Geschwätz der Amerikaner. Alle bleiben im Vagen oder reden aneinander vorbei.
Die Beispielseiten haben Ihnen wahrscheinlich schon gezeigt, dass Kommunikation unter diesen Umständen eine Glückssache ist. Durchsetzen tut sich nur der, der auch Waffen sprechen lässt.
Ich habe THE SHERIFF OF BABYLON zweimal gelesen und kann nicht behaupten, dass ich ihn verstanden habe. Die Willkürlichkeit eines Nachkriegsgeschehens wird schockierend eingefangen in diesem Sprachverlust, dieser Ausflucht in Gewalt.
Die beiden englischsprachigen Bände heißen nicht umsonst „Bang. Bang. Bang.“ und „Pow. Pow. Pow.“
Der tödliche Rhythmus von Pistolen- und Gewehrsalven liegt über diesem Land.
Auf den folgenden drei Seiten treffen Chris und Bob und Franklin aufeinander und versuchen eine Konversation, während sie auf den Ausgang einer Kommandooperation gegen Abu Rahim warten.
THE SHERIFF OF BABYLON ist ein sperriges, aber großes Comicwerk. Die Lektüre ist faszinierend, weil sie authentisch ist. Denn Autor Tom King (inzwischen gefeierter Texter von BATMAN, THE VISION, MISTER MIRACLE) weiß, wovon er redet, denn er war als CIA-Mitarbeiter im Irak tätig!
Das Artwork besorgt Mitch Gerads, der gerne in statischen Kleinpanels arbeitet, hier aber das Layout gekonnt variiert. Sein kratziger, mitunter schiefer Stil ist dem Sujet angemessen und wird durch eine eigene Kolorierung wunderbar akzentuiert.
Meines Wissens ist dieser Comic nicht auf Deutsch erschienen. Er wäre auch etwas speziell für den hiesigen Markt. Das Team King/Gerads besäße zwar Zugkraft, aber völlig offen wäre, ob man den SHERIFF OF BABYLON als mehrteiligen Comicband in einem Großverlag oder als dickere Graphic Novel bei einem Independent-Haus vermarkten würde.
Ich vermarkte nicht, ich verneige mich mit einem Video vor diesem Werk: