Long live the Queer: UNITED QUEERDOM

Sollten Sie, liebe Leserin, eine 70 Jahre alte Lesbe sein, die ihr Leben in Großbritannien verbracht hat, dann ist dieser Comic für Sie maßgeschneidert. Sie werden in Erinnerungen schwelgen und sich an diesem Band vorbehaltlos freuen.
Für alle anderen wird es schwierig.

Damit will ich UNITED QUEERDOM, ein imposantes 320-Seiten-Werk der Britin Kate Charlesworth, nicht schlechtreden. Die Künstlerin liefert eine akkurate, präzise und detailreiche Geschichte des Kampfes um homosexuelle Anerkennung und Gleichberechtigung. Doch wer von uns hat es miterlebt?

Der Carlsen-Verlag hat schon einen Button „Ein Graphic Memoir“ auf dem Titel platziert. Das könnte man als dezente Warnung dahingehend verstehen, dass das Buch eben kein Sachcomic für alle ist, sondern eine hochpersönliche Biografie, die sich in ihrer Tiefe oft nur Zeitgenossinnen bzw. Wegbegleiterinnen erschließt.

In einer sporadisch geführten Gegenwarts-Rahmenhandlung begegnen wir vier Freundinnen (darunter Kate mit ihrer Partnerin Dianne) bei einer Rückschau auf ihre lesbischen Lebensläufe. Dazwischen erleben wir einen atemlosen Ritt durch 70 Jahre Zeitgeschichte mit dem Fokus auf homosexuellen Aspekten.

Da muss man/frau wohl dabeigewesen sein

Was in diesem Comic geschildert wird, sind meist sehr knapp gehaltene und abrupt endende Blitzlichter einer Biografie, die ich mir auserzählter gewünscht hätte.
Charlesworth traut sich aus unerfindlichen Gründen nicht, länger als maximal sechs Seiten für eine Szene aufzuwenden – in der Regel kappt sie den Erzählfaden schon bei zwei oder drei Seiten, um in der Zeit zu springen, die Szene zu wechseln, eine historische Begebenheit einzuschieben oder eine Person der Zeitgeschichte zu porträtieren.

Auch gibt es elaborierte Exkurse in private Vorlieben, wie zum Beispiel Phasen ihres Lebens als Gilbert & Sullivan-Musical zu inszenieren.

Es gelingen ihr reizvolle und komische Momente, auch eindringlich intensive Passagen (das Coming-Out vor den Eltern), aber ich fühle mich gefangen in einem Stop-and-Go-Modus, der mich nicht richtig warm werden lässt mit der Autorin.

Es erschlägt mich beinahe, mit wie viel historischem Personal und geschichtlichen Daten UNITED QUEERDOM aufwartet:
Das geht von Cliff Richard (von dem gemunkelt wurde, er sei schwul und der seit 20 Jahren tatsächlich mit einem ehemaligen Priester zusammenlebt) über den obszönen Schriftsteller Joe Orton und die Camp-Ikone Diana Rigg zu den Popsängern Dusty Springfield (die sich ab Mitte 30 zu Frauen bekannte) und David Bowie (der mal behauptet hat, er sei schwul) bis hin zum walisischen Footballer Gareth Thomas und zur Comickünstlerin Alison Bechdel.

Prägende Ereignisse sind die „Stonewall-Riots“ 1969 in New York und die daraufhin begründeten Gay-Pride-Demos. Es folgen erste Fernsehserien mit schwulen Figuren, die Ermordung Harvey Milks, nationalistische Kampagnen gegen die queere Bewegung, die Gründung von schwulen und lesbischen Zeitschriften (für die Charlesworth als Illustratorin und Comiczeichnerin arbeitet).

Charlesworth füttert uns mit leckeren Ein-Seiten-Häppchen wie diesem hier (das Kind Kate auf der Suche nach Orientierung und Rollenbildern):

Das ist prima. Auch prima ist folgende Einzelseite (s.u.), die mir allerdings als Bespiel für das hastige Tempo dieses Comic dienen soll.
Kate ist 18 Jahre alt und auf der Kunsthochschule in Manchester angekommen. Sie hat noch keine lesbischen Erfahrungen gemacht, fühlt sich aber in diesem Aktzeichenkurs vom Modell angeflirtet.

Das inszeniert Charlesworth charmant mit einem hinter der Leinwand weggeduckten scheuen Lächeln, aber zugleich packt die Zeichnerin in diese kurze Sequenz auch noch eine angerissene Konfrontation mit einem Tutor sowie einen Kommentar ihrer Kommilitonin Eve.

Kann man so machen, doch diesem Modell begegnen wir nie wieder, diesem Tutor begegnen wir nie wieder, dem Hochschulumfeld begegnen wir nie wieder. Diese Sequenz führt zu nichts. Sie baut Dinge auf, die sofort wieder fallengelassen werden. Es bleibt Impression.

Das ist das Grundmuster von UNITED QUEERDOM.

Jetzt könnten Sie sich fragen: Mensch, Tilli, alte Hete, was hast du dir diesen Band überhaupt kommen lassen?!
Weil er toll gemacht ist, ganz einfach. Die Leseprobe von wenigen Seiten hat mich sofort neugierig gemacht, denn Charlesworth bereitet ihren Stoff illustratorisch umwerfend auf.

Auf jeder Doppelseite dieses Comics wechselt das Layout, variieren die Farben, immer wieder auch der komplette Stil.
UNITED QUEERDOM ist ein zauberhaftes Panoptikum aus Collagen, Foto-Inserts, Skizzen, Comicstrips, kurz: ein Füllhorn grafischer Fantasie.

Umso enttäuschter bin ich (leider!), dass das Werk erzählerisch keinen Fluss findet, sondern andauernd abbremst, anfährt, wieder anhält, erneut stoppt. Das ist eine mentale Rüttelstrecke!
Ich muss mich alle zwei Seiten auf neue Sachverhalte einstellen, neue Fakten aufnehmen, neue Personen kennenlernen – und komme dabei noch durcheinander, wen ich denn jetzt schon kenne und was mit diesen Menschen bereits geschehen war!

UNITED QUEERDOM überwältigt mich mit einem Stakkato an Lebenserinnerung, wie es sich im Kopf der Autobiografin präsentieren mag. Aber mir ist es zu viel, zu speziell, zu sprunghaft – und erneut mein Hauptvorwurf: Ich gerate nicht in die Lektüre, sondern verheddere mich im Wust aus Geschichtsfakten und Lebensstationen.

Ich zeige noch zwei Seiten aus den 1990er-Jahren (da waren wir dabei):

Eine der vielen „historischen Übersichtsseiten“. Die sind eigentlich schön (und ich liebe die ganzen Buttons, die Charlesworth offenbar akribisch gesammelt hat), aber wer sind jetzt diese Leute?
Englische Moderatoren kennen wir hier nicht, immerhin ist uns „Dusty“ (Springfield) bereits prominent vorher im Comic begegnet. Aber warum „RIP“? Laut Wikipedia stirbt Springfield erst vier Jahre später.
Dass sich die „königlichen Scheidungen“ (Fergie und Diana) auf die beiden briefmarkenkleinen Fotos schräg links darunter beziehen, habe ich erst auf den zweiten Blick geschnallt.
Mein Augenmerk galt dem Zeitungsausriss eines homosexuellen Magazins, der einen frechen Gag am Seitenrand erlaubt.

Daran schließt sich eine der typischen Biografieseiten an: Wir bekommen Zeit und Ort genannt, aber wer zum Kuckuck sind denn die handelnden Personen, warum geht alles so schnell (Jackies Partner Ken verstirbt doch erst zwei Jahre später)?
Beim Tauchen? Bei der Rückkehr vom Tauchen? Und was soll der angeschlossene Zeitsprung von weiteren fünf Jahren? Wer sind Evelyn, Jackie und Dan?

Halt: Eve(lyn) haben wir vor zweihundert Seiten an der Kunsthochschule kennengelernt. Und Jackie und Dan sind natürlich vorgekommen, aber ich kann sie nicht mehr verorten.

Charlesworth inszeniert diese Passagen hektisch und undurchschaubar. Auch ein Störfaktor ist ihre Angewohnheit, einen ganzen Schwarm kleiner Sprechblasen loszulassen. Damit zerfetzt sie ihre Sätze und erschwert die Lesbarkeit.

Ist nicht bös gemeint

Verstehen Sie bitte meine Analyse nicht als Verriss. Ich mag diesen Comic! Er ist mir sympathisch und ich verneige mich vor der Arbeit, die Charlesworth hineingesteckt hat. Er macht es mir nur schwer, ihn vorbehaltlos weiterzuempfehlen.

Zum Schluss möchte ich unbedingt betonen, dass es auch absolut wundervolle Abschnitte in UNITED QUEERDOM gibt, die zu Entdeckungen einladen. Hier die Vorstellung der lesbischen Ikone Jackie Forster, die ich in ihrer Gänze (zwei Seiten) zeigen will:

So ist es verständlich, dieser Exkurs ist in sich cool gemacht und kompakt. Doch die Aneinanderreihung der Exkurse mit den dazwischen implantierten und zu dicht präsentierten Lebensereignissen lässt mich den Faden verlieren.

Aber schauen Sie sich doch noch die Rezension im „Tagesspiegel“ von Nadine Lange an. Die gibt einen guten Überblick und gibt eine uneingeschränkte Empfehlung.

Und dann, wenn Sie mögen, können Sie mich noch in das Werk hineinblättern sehen: