DECORUM: Sensation oder Seitenschinderei?

Um die Frage gleich zu beantworten: Es lassen sich Argumente für beides finden.

Fangen wir mal beim bösen Verdacht an: Zieht dieser Comic eine schwache Handlung mit jeder Menge Füllseiten in die Länge?
Tatsächlich ist DECORUM üppig gestaltet und erlaubt sich immer wieder fast leere Seiten, auf denen nur ein Symbol prangt, nur ein Schriftzug, nur eine spärliche Skizze. (Ich zähle an die 50 solcher Seiten, die man problemlos hätte einsparen oder komprimieren können.)

Auch sonst erzählt dieses Comicbuch in großformatigen Bildern und Tableaus. Das kann man übertrieben oder verschwenderisch finden, man kann es auch fulminant und opulent finden.

Betrachten wir einen Moment diese Seite. Zeichner Mike Huddleston liefert ein wildes Artwork ab, das man zu deuten verstehen muss. Eine Stadt, ein Gebäude; einmal von außen, einmal von innen präsentiert. Die drei kreisrunden Panels ganz oben erschließen sich dem Comiclaien eventuell nicht.
Huddleston will uns mit diesen emblematischen Bildern zeigen, welchem Zweck das Gebäude dient: Disco, Drogen und Glücksspiel nämlich.
Ein „Dorn“ im mittleren Bild verweist sogar wie eine Sprechblase auf den Bau selbst, als wolle er nonverbal mit uns kommunizieren.

Dieses Arrangement von nur drei Bildern insgesamt stellt uns den Handlungsort vor, darunter noch den Boss des Etablissements, flankiert von zwei Leibwächtern. Im letzten Bild tritt eine Besucherin ein, nur ihre Augenpartie geheimnisvoll von einem Schlaglicht erhellt.

Die nun sich anschließende Szene stellt die beiden Hauptfiguren von DECORUM vor: Imogen Morley (die Besucherin) ist eine Killerin, die den Gangster um die Ecke bringen soll. Sie wartet auf die Lieferung eines Päckchens, die der weibliche Kurier Neha transportiert.
Der Koffer, den Neha liefert, enthält eine futuristische Waffe, die Imogen gekonnt zum Einsatz bringt.

Tolle Idee für einen Auftragsmord: Der Killer wartet vor dem Opfer, bis man ihm ein Mordwerkzeug aushändigt!
Nach Erfüllung der Mission kümmert sich Imogen um Neha, in der sie „Material“ für eine künftige Assassine zu erkennen glaubt. Sie nimmt das Mädchen mit zur Ausbildung in die Attentäterschule.

Neha wird auf Verdacht in die „Schwesternschaft des Menschen“ aufgenommen. Hier kommt die Übersetzung nicht in Gänze mit, die Christian Heiß ansonsten fabelhaft bewältigt. Ich verstehe diese „Schwesternschaft des Menschen“ (ich vermute, im Original heißt die Gruppierung „Sisterhood of Man“) als feministisches Pendant zur „Brotherhood of Man“, was eine britische Popgruppe der 1970er-Jahre war, eigentlich aber das christliche Konzept der Verbundenheit bezeichnet („Alle Menschen werden Brüder“).

Das ist frech, denn diese tödlichen Schwestern haben mit Nächstenliebe nichts im Sinn, sondern nehmen ihr Leben auf eine Weise in die Hand, die Vertreter des Patriarchats kreuz und quer durch die Geschichte erzittern lassen muss.

Neha stellt sich der Ausbilderin vor, Imogen sitzt Tee trinkend daneben:

Story zu dünn?

Die Attentats-Sequenz aus Kapitel 3 (von 18) ist übrigens schon das elaborierteste Stückchen Plot, mit dem DECORUM aufwartet. Der Rest der Handlung läuft geradliniger.
Im Folgenden erleben wir schnelle Sequenzen aus Nehas Ausbildung – in Konkurrenz zu den anderen Neulingen: Ursula Ring (eine Cyborg-Kriegerin), Sam-Sam (eine Monsterkrabbe) und Jetti Khan (ein riesenhafter Storchenvogel).

Im Anschluss begleitet Imogen Neha auf erste Tötungsmissionen, die die junge Frau aber komplett versaut (auch weil sie ihrer Mentorin dabei auf die Stiefel kotzt):

Neha bleibt als Killerin eine totale Nullnummer, selbst als sie den fettesten Auftrag der Galaxie vor der Flinte hat. Der besteht nämlich darin, dem wiedergeborenen Urschöpfer das Schöpfungslicht auszublasen.

Damit kommen wir zum parallelen Handlungsstrang von DECORUM. Zwischengeschnitten werden Passagen eines bitteren Religionskriegs im Weltall. Eine fehlprogrammierte künstliche Intelligenz unter Befehl des Hohepriesters Chi Ro Chi Ro Chi jagt ein galaktisches Ei, das die letzten, verbliebenen fünf von einstmals Tausenden galaktischer Mütter ausbrüten.

Die hochtechnisierte „Kirche der Singularität“ setzt Alles daran, das göttliche Ei so schnell wie möglich zu zerstören, doch versagt ein ums andere Mal. Schließlich beauftragt Ro Chi unsere Attentäterinnen-Gilde mit der Mission!

Sind die beiden Handlungsstränge (wie oben gesehen) zusammengeführt, erzählt Autor Jonathan Hickman erfrischend straight weiter. Klare Konfrontationen ziehen klare Konfrontationen nach sich – und am Ende bekommt Neha eine gewichtige Aufgabe, für die nur sie die richtige ist.

Denkt man scharf über die Storyline von DECORUM nach, enthüllt sich, dass eine Menge Zeug absolut überflüssig ist.

Imogens Besuche in Haus Morley zum Beispiel scheinen mir lediglich ihre britisch-adlige Abkunft illustrieren zu wollen, tun für die Handlung nichts zur Sache.
Das Ringen der Mütter um die Reifung des Eis hätte man knackiger darstellen können.

Und dann natürlich die komplette Kosmologie, das World Building dieses speziellen Universums! Hätte man völlig drauf verzichten können. Aber nein, haarklein ausgetüftelt und mit filigranen Diagrammen ergehen sich Hickman und Huddleston in Beschreibungen von Planeten, Hierarchien, Entwicklungsstadien, Lageplänen, Standorten, Historie – selbst den Komponenten eines Nudelgerichts.

Ein irrsinniger Aufwand, der durch nichts gerechtfertigt ist!

Artwork zu dicke?

Wir brauchen die Kenntnis dieser Fakten nicht zum Verständnis der Geschichte. Vermittelt uns „Star Wars“ Cocktailrezepte aus der Cantina? Behelligt uns „Star Trek“ mit Organigrammen der Starfleet? Hat Kubrick in „2001“ Raumschiffblaupausen ausgerollt?

DECORUM aber schwelgt in solchen Exzessen. Unterbricht damit die Handlung und sabotiert sogar den Lesefluss. Das ganze Spiel dient auch nicht groß der Glaubwürdigkeit. Das Erfinden von Fakten untermauert zwar jede Fiktion. In diesem Fall aber sind die Fakten so artifiziell ausgestellt und so verzichtbar, dass man sich wundern darf.

Hey, es ist Weltraum-Schmonz mit Gut gegen Böse und ein paar taffen Frauen dazwischen.

Meine These lautet, dass uns Hickman und Huddleston eine neue Entwicklungsstufe der Science Fantasy vorführen wollen. DECORUM will übertreiben, möchte das Maximum aus dem Genre herauspressen. Dieses Buch ist zum Staunen gemacht!

Dafür steht zuvorderst das grotesk diverse Artwork von Mike Huddleston, der jeden Kunstgriff, jeden stilistischen Manierismus implementiert, den Sie sich vorstellen können. Er präsentiert uns vornehme Kompositionen mit Bleistift und Tusche, die zwischen Will Eisner und Bill Sienkiewicz oszillieren.

Er liefert uns grobes und schroffes Chiaroscuro, das mich an Danijel Žeželj denken lässt. Er spielt auf der Klaviatur des modernen Image-Housestyles, von Skottie Young bis Fiona Staples. Er kann Moebius anklingen lassen oder Kirby. Er beherrscht brutale Computergrafik wie auch klassische Malerei, an einigen Stellen gar in Kombination.

Und letztendlich noch diese Piktogramme, die zunächst bierernst wirken, im Verlauf des Werks aber auch herrlich albern werden können (unten kommt noch ein Beispiel).

DECORUM ist eine Leistungsschau, eine Orgie in Stilen, Farben, Lichtern. Das muss man wie gesagt lesen können, für mich hat es funktioniert.

Autor Jonathan Hickman ist eine feste Größe im Marvel-Universum und hat für Image neben DECORUM auch EAST OF WEST und THE MANHATTAN PROJECTS geschrieben.
Interessant ist, dass er dort bei der (leider abgebrochenen) Serie THE BLACK MONDAY MURDERS schon Piktogramme und Akten in den Comic verwoben hat. Ein Testlauf?

Ein Comic für Feinschmecker

Ich bewundere Jonathan Hickman dafür, uns eine überdimensionierte Schelmengeschichte zu servieren. Eine eher unbedarfte junge Frau (von der wir gar nicht viel erfahren!) holzt sich durch ein krudes Abenteuer, gewinnt zum Schluss durch puren Zufall und bringt die Geschichte durch ein kitschiges Feelgood-Finale zum Abschluss.

DECORUM wäre ungenießbar, wenn es ernst gemeint wäre. Aber dieser Comic soll verspielt auf allen Ebenen sein. Betrachten Sie nur das folgende Ablaufschema, das dem Actionfinale vorangestellt ist. Welcher Comic ist so cool, seinen Abschluss durch solche Gags zu ironisieren?
(Ein Actionfinale übrigens, was recht flott, distanziert, nahezu wurstig über die Bühne geschoben wird.)

Abschließend noch der Link zur Verlagsseite bei CrossCult.

Ich verweise auch mal auf die digitale Ausgabe bei izneo, dem europäischen comixology, wo Sie das E-Book zum halben Preis erstehen können.

Dort übrigens können Sie eine Vorschau der ersten zehn Seiten abrufen, die aber alle weiß sind. Das unterfüttert massiv die „Seitenschinderei“-These vom Anfang des Artikels. Kicher.

Schauen Sie sich lieber mein Blättervideo an. Vermittelt den besten Eindruck vom berauschend vielfältigen Artwork von Mike Huddleston.