COMICVERFÜHRER – die Lust am Lesen

Timur Vermes hätte sein Werk auch COMICFLÜSTERER nennen können, denn das ist seine Wirkung auf mich. Zum Comic verführen muss mich niemand mehr, aber mir Comics einflüstern – das geht immer!

Wem übrigens der Name Timur Vermes nichts sagt, kann kurz HIER nachschauen und wird vielleicht überrascht sein, dass der gebürtige Nürnberger der Autor des Buchbestsellers von 2012 ist: „Er ist wieder da“. Ein Schriftsteller, der Comics liest!

Sein COMICVERFÜHRER ist ein hautnah persönliches Buch. Vermes offenbart seine Comicsozialisation im Nürnberger „Ultra Comix“, in der Tat Deutschlands bestes Fachgeschäft (zusammen mit dem „Bonner Comicladen“, der mich sozialisiert hat).

Ich fühle mich Vermes geistesverwandt, ich schätze seine radikal subjektive Schreibe, ich mag seinen modernen Ansatz – der weitestgehend von der Lektüre der Klassiker abrät!
Das ist genau auch meine Meinung: Entdecken Sie bitte frische Comicware und verharren Sie nicht in Disneykrempel, im Superheldensumpf oder in frankobelgischer Retronostalgie.

Jeden Monat erscheinen aufregende neue Stoffe, die kompetent umgesetzt sind und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden wissen! Von solchen Tipps wimmelt der COMICVERFÜHRER.

Zur subjektiven Sicht gehört auch der eine oder andere Seitenhieb auf gehypte Werke. Offenbar fand er SPIROU IN BERLIN von Flix eher misslungen, findet Daniela Schreiters SCHATTENSPRINGER furchtbar und hat einen Rochus auf Mathieu Sapin, Nick Drnaso und Sarah Glidden (letztere in seinen Augen eine junge Naive, die ihre Ahnungslosigkeit mit Journalismus verwechsle).

Ich als Kollege lache dann auf oder runzle die Stirn, aber diese kleinen Fouls sind nur Späße für Spezialist:innen. Zu 98 % präsentiert Vermes veritable Empfehlungen, die man sich anschauen sollte. Gut, ich persönlich kenne das meiste tatsächlich, zumindest dem Namen nach.

Nach ein paar Seiten jedenfalls kann man einschätzen, wie der Autor „so drauf ist“. Vermes präsentiert sich als eifriger Konsument und weniger als faktenbesessener Nerd.
Meint: Er zeigt ein breites Spektrum auf (und das kann man ihm nicht hoch genug anrechnen). Von der deutschsprachigen Szene über die modernen Franzosen bis hin amerikanischen Independants und selbst japanischen Tipps ist alles vertreten.  

Comiclaien aber werden die Augen übergehen, das ist ja der Sinn der Sache. Allerdings darf ein COMICVERFÜHRER nicht penetrant daherkommen und sein Publikum mit Fachgeschwätz überfordern. Lobenswert, dass Vermes neben seinem Plauderton eine geniale Rubrizierung für all die Comics gefunden hat – und darüber hinaus noch eine clevere Struktur.

In 36 knackigen Kapiteln und auf 320 Seiten präsentiert der Comicfreund nicht nur sämtliche Genres, sondern auch seine Lektüreerfahrung mit Meilensteinen wie WATCHMEN, MAUS, EIN VERTRAG MIT GOTT oder DIE RÜCKKEHR DES DUNKLEN RITTERS. Frank Miller scheint für Vermes eine Art „Hausgott“ zu sein, denn dessen Werke kommen alle zur Sprache.

Aber ich wollte herausstellen, wie geschickt der COMICVERFÜHRER mit Genreeinteilungen umgeht: Indem er sie vermeidet.

Es finden sich schon Betrachtungen zu „Western“, „Krimi“, „Superhelden“ und „Horror“, aber dann erweitert Vermes die Kategorien und widmet ein Kapitel dem Subgenre der Reportagecomics, Comics mit jüdischen Themen, Comics für Heranwachsende, exotische und melodramatische Comics, Comics mit erotischen Inhalten, Comicadaptionen, Historiencomics, Comics und Gewalt oder ganz simpel den Comics unserer Jugend, kess betitelt „Am besten nichts Neues“.

Das Angebot für Nostalgiker, die Schwemme der Gesamtausgaben und Neuauflagen: Hier weist Vermes auf die vielfältigen Darreichungsformen von Klassikern wie PRINZ EISENHERZ, den PEANUTS oder LEUTNANT BLUEBERRY hin – inklusive Vergleich von Papier- und Druckqualität.

Ich muss ja immer drüber lachen, dass Carlsen CLEVER & SMART in einer „seriösen“ Neuauflage bringt, mit neuer Übersetzung und Kolorierung – als ob der olle Ramsch von Condor nicht völlig gereicht hätte. Bruhaha.

Übrigens sind manche Kapitel explizit für Laien gedacht, die können wir Comicmenschen überspringen. Hab ich aber trotzdem nicht, denn Vermes serviert salopp einen Überblick über die Fachtermini der Neunten Kunst (Kapitel 8: „Panel, Splash & Gutter: Begriffe für Blasendrescher“), den Weg vom Comic zur Graphic Novel oder, wie man überhaupt an interessante Comics rankommt (Bibliotheken, Fachhandel, Tipps von Experten).

Comics sollen Spaß machen!

Ich möchte noch einen Absatz lang auf den Humor eingehen, den Vermes durch sein Buch streut. Denn sein COMICVERFÜHRER ist launig und zum Teil auch auf Gag geschrieben. Kostprobe aus seiner Beschreibung von HARD BOILED:

Die „geradezu krankhaften Details“, die Zeichner Geoff Darrow ins Bild setzt, faszinieren: „Darrow zeichnet […] die Klimaanlagen, die Kabel der Klimaanlangen, die Drähte […] und Stromleitungen, bei deren Anblick ein ordentlicher deutscher Elektroinstallateur schreiend davonliefe.“

Sein Fazit zum Ausnahmecomic JENSEITS (auch bei mir zu finden):

Man weiß gar nicht, was Verstörender ist: was diesen armen, bösen, guten, normalen Kindern alles zustößt oder dass sich jemand so was ausdenkt. Heute Nacht bleibt jedenfalls das Licht an.“

Sein Urteil über DER SCHWINDLER von Pascal Rabaté: „Erstaunlich, dass Rabaté in dieser völlig verwahrlosten, enthemmten Welt immer wieder schöne Bilder findet: verführerisch arrangierte Stadtansichten von Istanbul oder Odessa zum Beispiel. Einziger Nachteil: Der fünfpfündige Band ist manchmal beim Lesen etwas unbequem.“

Das ist speziell und unterscheidet ihn vom sonstigen Journalismus zum Thema Comic, der meist leider spröde und faktenhuberisch daherkommt.

Auch das Thema Manga spart Vermes nicht aus (Kapitel 20: „Die Sache mit den Mangas“). Er gesteht, dass ihm die Charakteristika japanischer Comics meist „furchtbar auf die Nerven gehen, weil sie sich so erkennbar einfallslos“ zeigten: entgleiste Mimik, Schablonenhaftigkeit, überflüssige und dämliche Soundwörter wie „zufrieden lächel“.

Kann ich verstehen, da teile ich oft seine Meinung – und halte es ansonsten wie Vermes: Es gibt großartige Mangas, aber die sortieren wir frech bei den anderen Comics ein.

So tauchen also in den Genrekapiteln immer wieder asiatische Titel auf, z.B. RYOKO, Tanabes LOVECRAFT-Adaptionen, TEKKON KINKREET, TANTE NON  NON, UNSER UNSTILLBARES VERLANGEN, CHAINSAW MAN, TEN COUNT oder auch MEINE WIEDERGEBURT ALS SCHLEIM IN EINER ANDEREN WELT.

Auch interessant ist Kapitel 24, das sich ausschließlich REQUIEM von Albert Mitringer widmet, einem Comic, den auch ich besprochen habe.
Auf über drei Seiten erklärt uns Vermes, wie er diese Graphic Novel rezipiert und was er dabei gedacht hat. Das geht bei ihm hin und her, von Beeindrucktsein über Irritation – und endet auf einem zwiespältigen Fazit.
Solche Introspektion hat man im Fachjournalismus noch nirgendwo gesehen (bis auf mich vielleicht, ich beschreibe ebenfalls, wie mich ein Comic beuteln kann).

Blei im Regal

Ich liebe jedes Fachbuch über Comics, doch leider verkaufen sich solche mehr als dürftig. Das kommerzielle Potenzial liegt im dreistelligen Bereich. Man darf sich wundern, dass Vermes sich die Arbeit angetan hat.

Rückblickend ist sein COMICVERFÜHRER erst das dritte (deutschsprachige) Fachbuch dieses Jahrhunderts, wenn ich mich recht erinnere. Das letzte habe ich in der Startphase dieser Webseite hier vorgestellt: Klaus Schikowskis DER COMIC – GESCHICHTE, STILE, KÜNSTLER.

Das ist über acht Jahre her, davor hatten wir noch Andreas C. Knigges programmatischen Wälzer ALLES ÜBER COMICS von 2004.
Wenn Sie alle drei studiert haben, sind Sie sehr gut informiert und können auf jedem Comicstammtisch mitreden. Wenn Sie einen finden, kicher. Lesen Sie alle drei Bücher und rufen Sie einen ins Leben. Ich komme!

(Nicht mitgezählt bei den Fachbüchern habe ich Ausstellungskataloge, Doktorarbeiten und sonstige akademische Sammelbände zu bestimmten Themen oder Phänomenen, da gibt es zahllose Publikationen.)

Aber ich rede vom „Erklärbuch“, das auch die Geschichte des Comics streift, Entwicklungen dokumentiert und das Spektrum der Neunten Kunst abbildet. Von solchen gibt es überhaupt nur eine Handvoll.
(Prägend in meiner Jugend die beiden Werke von Fuchs/ Reitberger aus den 1970er-Jahren, die natürlich hoffnungslos veraltet sind.)

Super also, dass 2022 ein Update zum Thema „Was ist Comic?“ erscheint.

Ich verweise auf die Webseite des Verlags und danke HarperCollins, dass sie das Risiko eingegangen sind.

Vermes’ COMICVERFÜHRER ist das empfehlenswerteste Fachbuch zum Thema, weil es alle mitnimmt, die sich für diese Kunstform interessieren – oder auch nicht!
Kaufen Sie dieses Werk im Dutzend auf und verschenken Sie es zu Weihnachten an alle Ihre Bekannten!

Auch diesmal verführe ich Sie mit einem Klick zum Blättern, obwohl nur viel Text zu sehen ist. Aber es zeigt Ihnen sehr schön, wie Vermes sein Werk strukturiert hat: