Cortos Jungbrunnen: SCHWARZER OZEAN

Bitte was, bitte wie? Wer ist denn das Bübchen auf dem Titelbild?! Der entrückt in die Ferne blickende, instagramtaugliche Halfzware-Dreher soll Corto Maltese sein?
Der sieht eher aus wie mein Schwiegersohn!

Der echte Corto ist mittlerweile amtliche 55 Jahre alt, könnse nachschauen HIER.

Jedenfalls hat er noch nie so jung ausgesehen wie in der Darstellung durch den Zeichner Bastien Vivès, der mit SCHWARZER OZEAN eine moderne Hommage und Fortschreibung hinlegt.

Wir begegnen dem neuen, jungen Corto bei einem Überfall auf eine Yacht. Corto dient einigen Gangstern als „Fluchtboot-Fahrer“. Als er Schüsse fallen hört, geht er an Bord und macht sich ein Bild der Lage. Er rettet den alten Nikkei-Japaner Fukuda, der behauptet, im Besitz des peruanischen Callahuaya-Schatzes zu sein.
Das natürlich weckt Cortos Neugier, ist die Figur doch beschrieben und bekannt als Seemann, Abenteurer, Weltenbummler und Schatzsucher.

Die Handlung, die ursprünglich im und nach dem Ersten Weltkrieg spielte, hat Autor Martin Quenehen ins Jahr 2001 verlegt. Dieser Corto Maltese ist unser Zeitgenosse und wird in SCHWARZER OZEAN in ein Komplott japanischer Faschisten sowie Narco-Schmugglergeschäfte verwickelt.

Zunächst aber fließt Blut: Ein Attentäter hat Fukuda in einem Kabuki-Theater in Tokio vor den Augen seiner Tochter erstochen. Corto nimmt das wertvolle Buch an sich, für das der alte Mann mit seinem Leben bezahlt hat:

Der japanische Geheimdienst verhört Corto und setzt ihn auf die Spur nach Peru, wo Fukuda mit den Exilfaschisten der Bewegung „Black Ocean“ im Bunde war. Corto glaubt, im Buch des Conquistadoren Garcilaso Hinweise auf einen sagenhaften Goldschädel gefunden zu haben und macht sich auf die Überfahrt.

Nach einem turbulenten Wiedersehen mit der Ex-Liebschaft Freya (Fotoreporterin und Kriegsberichterstatterin) fängt ihn an der Küste erst mal die CIA ab, von den Japanern benachrichtigt.
Corto büxt jedoch schnell aus, als die Amerikaner von einem weltbewegenden Ereignis abgelenkt werden.

Das ist dreist konstruiert und der einzige Grund, weshalb dieses Abenteuer im Jahr 2001 spielt! Hat aber auch Charme (oder Chuzpe) und beweist, dass Quenehen und Vivès auch Humor in ihr Werk einflechten.

Tatsächlich findet Corto den Weg in die Berge und in die Höhle des Callahuaya, wo er den Terroristen von Black Ocean gegenübersteht.

Mehr von der Handlung möchte ich nicht preisgeben, verrate aber noch, dass das Abenteuer sich noch in den Dschungel verlagert, wo wir einen alten Bekannten aus dem Corto-Kosmos treffen: Rasputin macht sein Geld mit Drogenschmuggel.

Die bisher gezeigten Bildbeispiele geben das nicht zwingend wieder, aber: Das Besondere an der Figur Corto Maltese ist, dass sie mit einer stoischen Gleichmütigkeit durch ihr Leben geht. Was Corto zustößt, scheint ihn nicht anzufechten. Er steht gewissermaßen über den Dingen und sogar über sich selbst.
Doch Halt, ich muss etwas beichten.

Hab ich keine Ahnung von

 

Ich darf transparent machen, dass ich kein CORTO MALTESE-Fan bin. In meiner Jugend habe ich reingeschaut und bin damit nicht warm geworden. Ich erkenne an, dass Hugo Pratt mit CORTO MALTESE einen Meilenstein der Neunten Kunst geschaffen und den Boden bereitet hat für die längere Erzählform der Graphic Novel.

Aber lesen wollen habe ich die Serie nie. Das Artwork von Pratt hat geniale Momente, ist mir jedoch meist zu spröde oder zu mager. Die Geschichten sind schwer zu greifen und gerne esoterisch-kryptisch. Vielleicht war ich auch zu jung dafür!

So also hat der Verlag schreiber&leser mich losgelassen (unverlangt eingesandtes Rezensionsexemplar) auf SCHWARZER OZEAN. Immerhin kann ich Ihnen daher berichten, ob dieser Comic auch etwas für Menschen ist, die noch keine Berührung mit CORTO MALTESE hatten.

Es funktioniert, wenn auch mit Abstrichen. Der ruhige Erzählton korrespondiert prächtig mit den expressiv-abstrakten Bildern. Vivés ist ein Meister der unaufdringlichen Illustration, die mit jedem Strich eine Haltung transportiert. Seine oft stummen Panels sind dank subtiler Mimik und Gestik seiner Figuren dennoch beredt.

Die Handlungsstränge aber fließen wild ineinander über. Das ist weder logisch noch glaubwürdig, schon gar nicht, wenn wir in Rechnung ziehen, dass sich bei einer Weltbevölkerung von knapp acht Milliarden Menschen hier die immergleichen Gestalten über den Weg laufen!
Verdirbt jedoch nicht unbedingt die Freude an diesem Comic.

CORTO MALTESE war schon immer ein Erzählkonzept, das nicht auf Schlüssigkeit ausgerichtet war, sondern auf einen poetischen Duktus, auch offen für mystische Anflüge und traumhafte Episoden.

So wie es Corto um die Welt spült, sollten wir uns treiben lassen durch diesen Comic.

Wirklich hübsch finde ich, dass diese Graphic Novel sich auch spinnerte Passagen erlaubt, wie diese Mitfahrgelegenheit bei einem Kollektiv „psychedelischer Feministinnen“. Wird nicht erklärt, was das soll. Führt nirgendwo hin. Aber es freut mich.

Mit dem Autoren Martin Quenehen hat Vivès schon sein letztes Werk gestaltet: QUATORZE JUILLET, nicht auf Deutsch erschienen.
Bastien Vivès gilt als eine Art „Wunderkind“ des französischen Comics, mit seinerzeit 25 Jahren beim Comic-Festival in Angoulême als bester Nachwuchskünstler ausgezeichnet.

Der Reprodukt-Verlag bringt seine Werke in Deutschland auf den Markt (ich zähle inzwischen 14, in Frankreich sind etwas mehr erschienen: Die französische Datenbank „bdtheque“ listet 21 Titel).
Doch Obacht: Die Serie CORTO MALTESE (und damit auch SCHWARZER OZEAN) erscheint bei schreiber&leser! Dort finden Sie den kompletten Corto-Katalog, bestehend aus der Originalserie (in Farbe oder Schwarzweiß) sowie die erste Fortschreibung von Ruben Pellejero und Juan Diaz Canales (immerhin drei Bände – allerdings mit unverjüngtem Protagonisten und grafisch eng an Hugo Pratt angelehnt).

Vivès nimmt sich die Freiheit, seinen eigenen Stil auf die Figur zu stülpen – was ihr automatisch einen modernen Schub verleiht.

Wenn das so weitergeht, dürfen wir CORTO MALTESE als Franchise begreifen, das von immer neuen Kreativ-Teams aufgegriffen werden kann. Und weshalb auch nicht, SPIROU und seine „Spezial“-Ausgaben machen das erfolgreich seit etlichen Jahren vor.

Wer mehr sehen will: Ein zehn Jahre altes Mini-Feature der Deutschen Welle zeigt Bastien Vivès bei der Arbeit, HIER auf YouTube.

Ein Instagram-Video von mir offenbart einen größeren Eindruck von SCHWARZER OZEAN: