Sieht voll nach Western aus, ist aber nur ein halber!
Die titelgebenden falschen Fährten nehmen uns auf eine mäandernde Lesereise in den Western hinein, aus dem Western heraus, wieder hinein und wieder heraus.
Autor und Zeichner Bruno Duhamel inszeniert das auf schlanken 80 Seiten so elegant, griffig und vielschichtig, dass ich zwei Jahre nach seinem Erscheinen dafür werben möchte.
Natürlich befinden wir uns in den USA, der Heimat der Westernlegenden. Und die werden gleich als solche vorgeführt: Unsere Hauptfigur Frank Paterson ist ein Mann in den besten Jahren und er ist Edelstatist in einer Westernshow.
Als Marshal Johnson duelliert er sich (Seite an Seite mit einem pokerspielenden Doktor) täglich vor Touristen mit einer viehtreibenden Cowboy-Bande.
Dieser Showdown am „Dead Horse Corral“ ist dem berühmten Vorbild mit Wyatt Earp und Doc Holiday am „O.K. Corral“ nachempfunden. (Duhamel benutzt nicht das Original, weil er später eine gründliche Entzauberung der Vorgänge vornimmt, die seiner Figur mehr Tiefe verleiht.)
FALSCHE FÄHRTEN beginnt mit einer getürkten Schießerei, der eine echte Entlassung folgt: Der Impresario der Show entzieht Frank seine Rolle und seinen Job (der ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist).
Jetzt steht er auf der Straße und weiß mit seinem Leben nichts mehr anzufangen. Einem spontanen Impuls folgend, gönnt er sich eine geführte Erlebnisreise durch den „Wilden Westen“ – sieben Tage Monument Valley, Grand Canyon inklusive Las Vegas und „Tal des Todes“.
Damit sind wir im Kernteil dieses Comics, der nun die Reisegruppe präsentiert. Und wie in John Fords Westernklassiker „Stagecoach“ alias „Ringo“ mit John Wayne kommen in dieser modernen Postkutsche einige Typen zusammen.
Wir treffen drei Pärchen verschiedenen Alters, ein schwules Paar, eine krawallige Dame, den weiblichen Tourguide Salina und den Ex-Marine Mike. Frank, der auch privat in einem Cowboy-Outfit auftritt, belehrt die anderen mit historisierenden Fakten und wird schnell zum Außenseiter der Truppe.
Als er sich nachts alleine noch die Beine vertritt und durch die Wüste stolpert, begegnet er dem dort lebenden indianischen Schamanen Weißer Wolf. Der flößt ihm einen halluzinogenen Drink ein, der Frank (Ironie des Schicksals) in die reale Zeit des echten Showdowns am „Dead Horse Corral“ zurückversetzt – mit den realen Personen.
Heißt: Der Schauspieler des Marshals Johnson wird zum Zeitzeugen, wie sich die Ereignisse tatsächlich abgespielt haben. Nämlich völlig anders, wir ahnen es schon. Der reale Johnson erweist sich als pedantischer Drecksack und Hitzkopf, der die Konfrontation nicht nur provoziert, sondern in der anschließenden Schießerei zum kaltblütigen Killer wird.
Diese Rückblende von 14 Seiten sattem Westerncomic ist in der Mitte des Albums in Sepiatönen angelegt.
Frank erwacht schweißgebadet und konsterniert aus der Version und erfährt von Tourguide Salina, dass Weißer Wolf gerne Touristen unter Drogen setzt und ausraubt. Jetzt ist Frank um eine Erfahrung reicher, aber auch um sein Bargeld erleichtert.
Das jedoch ist noch nicht das Ende der Demütigungen für Frank. Die anderen Reisenden entdecken im Internet, dass sie mit dem geschassten Darsteller einer Westernshow unterwegs sind und ziehen ihn damit auf.
Der fügt sich in sein Schicksal und reist ab sofort in seinem Marshal-Kostüm weiter:
Da rollt die Postkutsche durch die Wüste und die zwischenmenschlichen Spannungen nehmen zu. Mike der Marine nämlich entfremdet sich ebenfalls von der Gruppe: Er ist nicht nur aus der Armee entlassen worden, sondern ist zudem noch ein Waffennarr und zeigt psychotische Tendenzen. Er hat einen Mitreisenden zu Boden geschlagen und offensichtlich seine Gefühle nicht unter Kontrolle.
Tourguide Salina tut alles dafür, die Gruppe beisammen zu halten und konfrontiert Frank mit unangenehmem Hintergrundwissen:
Mike versucht derweil, Frank auf seine Seite zu ziehen. Im majestätischen Abendrot am Grand Canyon forscht er, ob Frank seine Meinung teilt, die US-Regierung handle gegen ihr eigenes Volk.
Frank sieht die Dinge anders und macht Mike eine Ansage, von bewaffnetem Mann zu bewaffnetem Mann. Es bahnt sich ein Showdown in der Gegenwart an: alter Westernheld gegen neuen Actionheld.
Die letzten 20 Seiten gehören einer dramatischen Geiselnahme. Frank und Salina verfolgen den irren Mike in die brütendheiße Salzwüste, in die er die restliche Gruppe entführt hat. Dort zwingt er die Reisenden zu einem Gewaltmarsch, um sie aus der Reserve zu locken und ihn anzugreifen.
Die clevere Salina holt sich Hilfe von indianischen Bekannten wie dem Trapper Cochise und bleibt Mike auf den Spuren. Gemeinsam warten sie auf den richtigen Moment zu handeln.
Was Duhamel zum Finale auspackt, ist originell, spannend und auch zwischenmenschlich interessant – und nie ohne subtilen Humor! Mehr sei nicht verraten, ich habe es sehr gemocht.
Ist das Artwork nicht daneben?
Damit kommen wir abschließend zu dem, was ich zunächst nicht gemocht habe, und das ist Duhamels Artwork. Als dieser Comic vor zwei Jahren herauskam, habe ich aufgrund der online gestellten Leseprobe nicht zugegriffen.
Die Farben waren mir zu aufdringlich und kontrastreich, das Sujet zu abgeschmackt, die Zeichnungen allgemein zu sauber, zu nichtssagend, auch eine Spur zu abstrakt, zu funny für die realistische Handlung.
Aber da sieht man wieder: Überwindet man sich, einen Comic zu lesen, oder beginnt man die Lektüre ohne jede Erwartung, kann das in eine positive Überraschung der schönsten Art umschlagen!
FALSCHE FÄHRTEN ist ein Meisterstück von erfreulicher Aktualität, wenn auch auf US-amerikanische Verhältnisse ausgelegt.
Bruno Duhamel verhandelt nichts weniger als die Wirkmacht von Traditionen. Wie sie entstehen, wie sie sich durchsetzen, wie sie Geschichte überschreiben können, wie sie in den heutigen Alltag hineinspielen.
Seine Figuren repräsentieren die Vertreter verschiedener Milieus, die von diesen Traditionen profitieren oder unter ihnen leiden. Und mit Salina, Weißer Wolf und Cochise gelingen ihm nichtweiße Protagonisten fern aller Klischees. Erfrischend.
Duhamel übrigens scheint mir mit seinen beiden Alben NIEMALS und NIEMALS D-DAY (welche die FALSCHEN FÄHRTEN beim avant-Verlag erscheinungschronologisch klammern) mehr Aufmerksamkeit erhalten zu haben. Was ich hiermit korrigieren möchte.
Die NIEMALS-Bände sind auch schön (wobei mir der zweite besser gefällt), aber mir als Westernfan ist FALSCHE FÄHRTEN lieber.
Wer mag, holt sich noch einen 90-Sekunden-Reel-Eindruck von Instagram: