Dieser dreibändige Comic ist die radikalste, schönste und lustigste Selbstbespiegelung des Comicschaffens. Autor und Zeichner ist der französische Superstar Manu Larcenet, der sich in diesem Werk wüst auf die Schippe nimmt.
Von Anfang bis Ende sieht er sich als DAS Comicgenie schlechthin, dem alle Welt nacheifert und das in seiner Fantasie ausschließlich in Schlagzeilen von sich denkt.
Doch dann trifft ihn unversehens ein Burn-out – und das Genie verfällt in eine monatelange Depression. Das Komische an THÉRAPIE DE GROUPE ist die unbarmherzige Dokumentation der Verzweiflung, mit der Larcenet seine Schaffenskrise präsentiert.
Sie bemerken die herrliche Theatralik, die in diesen Bildern wirkt: der am Zeichentisch verfettete Künstler, die dramatischen Gesten des Zusammenbruchs, die dunkle Nacht mit blitzzerfurchtem Himmel.
Dem Genie fällt nichts mehr ein. Es hat ja auch schon alles durchexerziert in seiner Karriere. Es tobt, es schluchzt, es ist gekränkt durch sein Versagen. Dann fällt ihm der berühmte Spruch von Nietzsche mit dem Stern ein: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“
Also tut er alles dafür, um seine Lebensgeister zu erwecken (oder zu dopen) und ist besessen davon, für seinen nächsten Comic (den die französische Öffentlichkeit natürlich sehnlichst erwartet) die „Idee des Jahrhunderts“ zu gebären.
Tanz, mein Sternchen, tanz!
Weil Larcenet ein Genie ist, fliegen ihm die Ideen nur so zu. Idee des Jahrhunderts? Das wäre doch gelacht! Leider entpuppen sich die ersten Entwürfe zu neuen Werke als reine Schnapsideen:
Ein Comic über einen letzten Mann auf der Flucht vor der apokalyptischen Spaßgesellschaft („Le dernier depressif“)?
Ein Comic über seinen nervigen Metzger als Serienmörder? Den er auf Anraten seines pubertären Sohns als Manga zeichnet?
Comicfans wie ich erfreuen sich hier erstens daran, dass Larcenet tatsächlich den Stil eines Mangas meistert und zweitens (in der Unterzeile) den Sohn begeistert sein lässt (weil der Manga schön inhaltsleer ist!), drittens sich selbst als Manga-Karikatur zeichnet.
Das Genie beginnt, immer mehr Psychopharmaka einzuwerfen und imaginiert sich Begegnungen mit Musen, mit Leonardo da Vinci, mit Malerfürst Paul Cézanne, von dem er sich kollegialen Rat erhofft.
Der jedoch kapiert überhaupt nicht, was die Kunstform Comic sein soll und wird pampig:
THÉRAPIE DE GROUPE (Band 1) endet auf Larcenets Unfähigkeit, noch im Leben zurechtzukommen. Ehefrau Polette, Tochter Lilith und Sohn Pépito müssen ihn einfangen und in eine Nervenklinik einliefern.
Seine vorherige Flucht über die Felder beendet der Sohn, der ausschließlich als Martial-Arts-Jünger mit einem Kampfstab dargestellt wird. Hier die Szene, in der auch auf Gandalfs Konfrontation mit dem Balrog angespielt wird („Thou shalt not pass!“).
Band 2 spielt komplett in der Nervenklinik, wo Larcenet weiterhin in den Genuss von Psychopharmaka kommt und sich natürlich Therapien unterziehen muss.
Unter dem Einfluss der Medikamente entwirft er einen Superheldencomic („Albatrosman“), die nächste Schnapsidee.
Denn sein Protagonist verfügt zwar über beeindruckende Flugfähigkeiten, doch sobald er landet, stolpert er über seine gewaltigen Flügel – und bekommt Dresche von bösen Matrosen (hier Persiflagen auf Popeye und Kapitän Haddock):
In der Heilanstalt steckt man Larcenet, sobald man erfährt, dass er Comiczeichner ist, in die Kunst- und Malgruppe – wo er erneut mit seiner Schreib- und Zeichenblockade konfrontiert wird.
Das Genie fühlt sich in die Schule zurückversetzt und wird neben einem alten Stinkstiefel platziert, der jede Kontaktaufnahme verweigert und sich verhält wie der Klassenstreber, der andere nicht abschreiben lässt.
Beziehungsweise nicht abmalen lässt:
Zu allem Übel lobt die Therapeutin die Arbeiten von Francis als „fantastisch“, kann aber mit den Comics von Larcenet nichts anfangen und schlägt ihm vor, doch mal was „für Kinder“ zu versuchen.
Der Zeichner wirft aus Protest mehr Drogen ein und flüchtet sich in eine „Albatrosman“-Fantasie:
Er imaginiert sich eine Begegnung mit dem Schriftsteller Charles Baudelaire, mit dem er über „Albatrosman“ diskutiert und zur Erkenntnis kommt, dass es keinen Sinn hat, sich mit den Großmeistern der Kunstgeschichte messen zu wollen.
Also gestaltet er für die Kunsttherapie einen Comic, in dem er mit Typen wie Gauguin, Klimt und Van Gogh abrechnet – und zwar als Western!
Wir sehen Larcenets Alter Ego, den Goldgräber John-Jack Prunier, wie er in der ersten Bildreihe einen riesigen Ideen-Nugget findet. Er kann sich kaum daran erfreuen, denn schon ist die Künstlergang zur Stelle, um ihm den Fund zu entreißen:
Auch dies findet nicht das Verständnis der Therapeutin, was Larcenet natürlich frustriert. Zudem malt sein verhärmter Sitznachbar Francis tatsächlich wunderbare Bilder, was ebenso am Selbstbild unseres Genies rüttelt.
Es bricht wieder mal zusammen, diesmal höchst komisch als Vietnamkriegs-Persiflage inszeniert: Larcenet monologisiert wie ein tödlich verwundeter Soldat und beschwört seinen Kunstkameraden Francis, aus dieser Therapiehölle zu flüchten.
Er sei das wahre Genie, das entkommen müsse, wohingegen es für ihn, Larcenet, zu spät sei. Er gehe nun ins Licht.
THÉRAPIE DE GROUPE (Band 2) endet auf Larcenets Einsicht, nicht mehr der Beste sein zu müssen. Das Genie dankt ab, gönnt sich eine schöpferische Pause. Es gilt zu entspannen, herunterzufahren, sich der Kontemplation zu widmen.
Aus der Klinik heraus teilt er seinen Entschluss der Familie mit, die nicht allzu begeistert davon scheint, den anstrengenden Vater und Ehemann wiederaufzunehmen.
Sie ahnen, dass dies noch nicht das Ende der Schaffenskrise sein wird.
Ein Porträt des Künstlers als alter Schwamm
Band 3 beginnt mit einem entspannten Genie, das durch Museen schlendert und sich zur Inspiration für sein Schaffen die Gemälde anderer anschaut. Da es sich im Angesicht der kanonisierten Hochkultur jedoch minderwertig fühlt, beschließt Larcenet, zunächst mal profimäßig kontemplieren zu lernen.
Also bricht er in den Himalaya auf, um bei einem Zen-Mönch zu lernen:
Wie selbstverständlich bedient Larcenet jegliche Bildchiffren, die uns bei diesem Thema vertraut sind: der einsame Wanderer im Gebirge, die verschnörkelte Typographie, das isolierte Kloster auf dem Berggipfel über dem Nebelmeer, der steile Anstieg entlang der senkrechten Felswand, die Begegnung mit dem Mönch am Tor.
Dann bricht der Autor diese Heimeligkeit der Konvention durch die grotesk falsche Begrüßung, mit der der Suchende Einlass begehrt. Worthülsen wie „Salem alaikum“ und „Allahu akbar“ sind komplett fehl am Platze, aber des Westlers bester Versuch, irgendwie exotisch zu klingen!
Von seiner erschöpfenden Reise zurückgekehrt, nutzt dem Genie die Kunst der Kontemplation allerdings nichts, denn schon seine Familie interessiert sich nicht dafür – und es versinkt erneut in schlechter Laune:
Ein Graben tut sich für den Zeichner auf, der sich noch vertieft, als er bemerken muss, dass sein sportiver Sohn sich einen Waschbrettbauch antrainiert hat. Welche Schande für den Künstlervater, und Mangas sind dem Burschen sowieso lieber als Comics.
Mit Schrecken bemerkt das Genie, das es sich jahrelang die eigenen Kinder kaum angeschaut hat („Was? Meine Tochter ist schon 18?!“). Und sie trifft sich nachts im Park mit Jungs?!
Bei diesen Gestalten handelt es sich allerdings um berühmte Philosophen, denn Lilith möchte Philosophie studieren und schreibt an einer Hausarbeit.
Larcenet illustriert die Szene als gespenstische „Macbeth“-Hexentreff-Reminiszenz, dann gebrochen durch ein reißerisches Veranstaltungsplakat:
Weiter unsanft auf dem Boden der Tatsachen landet das Genie, als es an einer Fernseh-Talkrunde zu zeitgenössischen Comics teilnimmt.
Die momentanen Stars der Szene sind eine Zeichnerin (Emma Gloogloo), die eine Graphic Novel über moderne, arbeitstätige Frauen entworfen hat (Verkaufszahl 8 Milionen Exemplare) sowie ein Autor (Alexis Duterrier), der 35 Millionen Bücher verkauft plus den Comic-Nobelpreis gewonnen hat – für eine grafische Reportage über minenräumende Säuglinge auf den Schlachtfeldern Afghanistans.
„Und was ist bei Ihnen in der Mache, Manu Larcenet?“, erkundigt sich der Moderator.
Der Spaß in dieser Sequenz liegt nicht nur in den Karikaturen aller Teilnehmer und im seriösen Gelaber, sondern auch in den überzogenen Verkaufszahlen. So golden steht selbst der französische Comic nicht da.
Unser Genie bekommt erst glasige Augen, dann weicht alle Farbe aus seinem Gesicht. Jetzt muss er was liefern, um mit den jungen Leuten mithalten zu können. Und er versteigt sich zur Behauptung, selber an einer brillanten Graphic Novel aus dem Alltag der Franzosen zu arbeiten. Eine Sozialreportage über Frauen, die Leben retten! Obendrein noch mit Kätzchen und Hündchen!
Bedrückt schleicht er nach Hause und setzt sich neben seine Frau aufs Sofa:
Des Künstlers Grinsen im letzten Panel verrät, dass er die Lösung für alle seine Sorgen stets in seiner Nähe hatte: Polette ist nämlich Tierärztin. Eine Frau, die Leben rettet, sogar das von Kätzchen und Hündchen.
Mit Feuereifer schnappt sich unser Genie den Skizzenblock und begibt sich hinaus, in die raue Welt der Graphic-Novel-Reportagen. Larcenet begleitet Polette, er steht im blutigen OP und schaut ihr bei der Arbeit zu.
Dann wird er ohnmächtig und dokumentiert den restlichen Tag seiner Ehefrau, die wirklich alles allein stemmen muss: Einkaufen, Wäsche machen, Holz hacken …
Noch dazu geht sie joggen und verfolgt ihr Hobby, das Parcours-Reiten.
Larcenet fasst das Geschehen auf einer sensationellen Seite zusammen, die ich hier im Kern wiedergebe (des Überformats wegen schneide ich oben einen Teil weg):
Allein das ist in meinen Augen schon eine sinnfällige Graphic Novel über den Alltag moderner Frauen, die Leben retten (das ihrer faulen Männer nämlich, die ohne sie verhungern würden).
Leider stellt das Genie fest, dass alle Skizzen, die es unterwegs gemacht hat, völlig untauglich sind – weil sich Polette zu viel bewegt hat und alle Blätter gefüllt sind mit krakeligen Wimmel-Arrangements, auf denen nichts mehr zu erkennen ist.
Wieder ein Schlag ins Wasser!
Dem Frust, erneut versagt zu haben, folgt schon bald die nächste Schnapsidee: Einfach mal zeichnen, was in einem schlummert. Aus dem Unterbewusstsein Formen und Figuren sprießen zu lassen, die ohne Sinn und Verstand die Seiten überquellen lassen. Es entsteht ein meterlanges Leporello, vollgekritztelt mit geometrischem Wahnsinn.
Unser Genie entblödet sich nicht, damit ins Fernsehstudio zu stürmen und sein Werk dem Moderator vorzuführen. Der ist konsterniert und entsetzt („Was ist das denn? […] Sie sind ein Hochstapler! […] Sie sind erbärmlich!“) und lässt den Zeichner hochkant hinauswerfen.
Interessant, dass sich Larcenet in diesem (seinem aktuellsten Comic!) als Ignorant darstellt, denn hier wird die Distanz zu seiner Genie-Figur offensichtlich. Der reale Larcenet hat sich bereits 2009 mit BLAST auf das Gebiet der Graphic Novel begeben und 2015 mit BRODECKS BERICHT eine fulminante, seriöse Literaturadaption abgeliefert.
Die Larcenet-Figur in THÉRAPIE DE GROUPE ist Stellvertreter für frankobelgische Retronostalgiker und schultert das Kreuz der Ewiggestrigkeit.
Weiter interessant, dass am Ende von Band 3 die Selbstfindungsreise des Künstlers wieder am Ausgangspunkt beginnt!
Unser Genie ist durch das Inferno des Selbstzweifels gereist, schüttelt diese Erfahrungen jedoch ab, hockt sich wieder an seinen Zeichentisch und macht einfach sein Ding weiter. Wie stets, wie immer: Zu Papier bringen, was man empfindet.
Ist dieser Comic womöglich Larcenets Kommentar auf bestimmte Beharrungstendenzen in unserer Gesellschaft?
Wir dürfen uns in dem Zusammenhang fragen, was eigentlich mit dem Titel gemeint ist: GRUPPENTHERAPIE?
Es ist ja nicht Larcenet, der sich in eine solche begibt. Spricht er von einer Therapie für die gesamte Comic-Community?
Appelliert er an die werten Kolleginnen und Kollegen, sich nicht so ernst zu nehmen? Sich gar nicht erst für Genies zu halten? Sich lieber auch um das private Umfeld zu kümmern? Sich dem allgemeinen Produktions- und Erfolgsdruck zu entziehen? Sich dem Wettbewerb um Verträge, Preise zu verweigern? Der eigenen geistigen Gesundheit halber?
Muss man sich Sorgen machen?
Ich habe mich bei der Lektüre des Öfteren gefragt, wie real die Handlung sein mag. Larcenet (der Zeichner) hat in seinen vorhergehenden Werken DIE RÜCKKEHR AUFS LAND und DER ALLTÄGLICHE KAMPF bereits pseudo-autobiografische Studien über künstlerische Depression abgeliefert, allerdings getarnt als Lebenskrise eines Fotografen bzw. als Komödie des Zeichneralltags.
(Und sein fettes Hauptwerk BLAST ist eine atemberaubend düstere Studie über menschliche Abgründe.)
Larcenet (das Genie) inszeniert sich nun als Alter Ego in der Funny-Form eines kahlen, aufgedunsenen Kerls mit Riesenzinken. Er scheint seinem Ich näher zu rücken, wenn auch mit gewaltiger Selbstironie.
THÉRAPIE DE GROUPE ist nicht in einer deutschen Übersetzung zu erwarten. Sein hiesiger Verlag (Reprodukt) wird sich bereits mit der Herausgabe der erwähnten Alben keinen finanziellen Gefallen getan haben. Comicgeschichten über das Comicbusiness verkaufen sich immer miserabel.
Und jetzt was Neues in der gleichen Schiene? Drei überformatige Hardcover-Alben in superber Kolorierung und originellem Lettering? Vergiss es!
THÉRAPIE DE GROUPE ist leider feinstes Kassengift. Darum stelle ich hier mal wieder was aus Frankreich vor, darum lerne ich französisch.
Ich finde solche Comics spannender und kunstvoller als das meiste, was der deutsche Markt hergibt, darum heute und in Zukunft Präsentationen wie diese.
Sie haben die bravouröse Kunstfertigkeit von Larcenet gesehen, der sich von Band zu Band noch steigert. Immer filigraner werden seine Illustrationen, immer exaltierter seine Einfälle.
Seine Parodien auf die Ikonografie der Kunstgeschichte sind zahllos und köstlich, wie man so sagt.
Ich stifte noch die Auftaktseite aus Band 3, die eine Zusammenfassung in Form ägyptischer Hieroglyphen liefert:
Ich gestehe, dass ich für meine französischen Käufe Amazon Deutschland bzw. den dortigen Marketplace (oft Medimops) benutze. Die haben ein überzeugendes Angebot und liefern versandkostenfrei, was französische Plattformen nicht leisten (können) und empfindliche 6 Euro aufschlagen.
THÉRAPIE DE GROUPE ist problemlos zu beziehen, zum fairem Preis von 16,95 pro Album.
———– Newsflash Februar 2024: Manu Larcenet hat eine neue Literaturadaption in den Druck gegeben: LA ROUTE nach der Vorlage „The Road“ von Cormac McCarthy („No country for old men“)! Das sollte auch in deutscher Fassung zu erwarten sein. ———–
Es gibt noch kleine Leseproben der ersten Seiten zum schnellen Durchblättern auf der Verlagsseite von Dargaud, hier der Link zum ersten Band.
Ich lade ebenfalls auf eine Minute zum Blättern ein. Und zwar habe ich diesmal aus jedem Band eine schöne Sequenz herausgesucht, also gleich drei Reels in Folge!
Diese drei Bände wimmeln vor wunderbar spinnerten Hintergrund-Gags wie eine Witz- und Rätselecke in Band 1. „Hilf Larcenet durch das Labyrinth“ (was in einer Galgenschlinge endet) oder „Male alle Kästchen in der angegebenen Farbe aus, um Manus Geisteszustand zu erkennen“ (und die einzig verfügbare Farbe ist Schwarz).
Und – hopplapoppla – es folgt Reel Nummer drei, lasse die Textzeile als Puffer stehen: