Gewaltcomic. Muss man ganz klar kategorisieren. Kein Thriller- oder Krimi-Comic, sondern Gewaltcomic.
Ein Gewaltcomic unterscheidet sich von Krimis oder Thrillern darin, dass es ihm hauptsächlich und vordringlich um Inszenierung von Brutalität geht.
Ich habe oft über Gewaltcomics geschrieben und möchte in diesen Zeilen ein bisschen Kontext und Hintergrund stiften. Es ist schwer zu bestimmen, wo und wann sich dieses Genre herausbildet und vom herkömmlichen Krimi (RICK MASTER, NESTOR BURMA, CRIMINAL) oder Thriller (MODESTY BLAISE, XIII, VELVET) löst.
Tatsächlich kennt der Gewaltcomic viele Spielarten, eine davon die im Agentenmilieu angesiedelte Kirkman-Serie DIE! DIE! DIE! Vom deutschen Verlag CrossCult als „humorvolles Gemetzel“ annonciert.
Von mir als „gut gelauntes Blutbad“ bezeichnet (Link zur Besprechung HIER).
DIE! DIE! DIE! darf sich auf die Fahnen schreiben, die grausame Welt eines James Bond auf die Spitze zu treiben. Nicht nur ist die Gewalt gesteigerter als in den bekannten Filmen, auch liefert dieser Comic einen Kommentar auf die zeitgenössische US-Gesellschaft ab.
In diesem Fall gelingt sogar eine politische Satire.
Das kann man von PLASTIK nun wirklich nicht behaupten.
Hauptfigur ist der psychotische Edwyn, der unter dem Tarnnamen Viktor durch die USA reist. Der mittelalte Mann war „zehn Jahre beim Geheimdienst“ und dort offensichtlich kein Schreibtischbeamter, sondern als Agent im blutigen Außendienst tätig.
Jetzt aber hat er sich zur Ruhe gesetzt und kurvt mit seiner Angebeteten Virginia und einem alten Straßenkreuzer durch die Gegend und genießt die Zweisamkeit mit derselben. Der schräge Clou an der Sache: Virginia ist keine Frau aus Fleisch und Blut, sondern eine Sexpuppe aus Plastik!
Zudem hört er in seinem Kopf die Stimme seiner Mutter. Das hat im Fortgang keine größere Bedeutung, wir dürfen es als Referenzgag zu Norman Bates und „Psycho“ deuten.
Das ist natürlich bescheuert, könnte man aber auch so lesen, dass der Job bei der CIA Edwyn mental aus der Bahn geworfen hat – und er keine Beziehungen mehr zu Menschen knüpfen kann. Also projiziert er eine erfüllte Liebe auf ein Stück Plastik.
Und da in ihm noch alte Verhaltensmuster wirken, reagiert er gewalttätig, wenn Fremde seine Virginia anfassen oder auch nur anquatschen.
So nimmt auch das Unheil in PLASTIK seinen Lauf: Drei Kerle machen sich an einer Tankstelle über die Sexpuppe auf dem Beifahrersitz lustig, dann kommt Edwyn mit einem Einkaufsbeutel dazu und schlägt alle drei brutal zusammen:
Das Fatale an den Vorfall: Einer dieser Typen (Tray) ist der Sohn des lokalen Gangsterchefs Thaddeus Belliveau.
Der lässt Edwyn von seinen Leuten fangen, erkundet sich über ihn, akzeptiert seinen Wahnsinn, nimmt Virginia als Geisel und erpresst ihn somit zu einem Mord.
Edwyn soll den amtierenden Sheriff killen, der Belliveau bei seinen Geschäften stört.
Für Edwyn ist Virginia eine reale Person, also lässt er sich auf den Deal ein. Der Sheriff wird beseitigt, doch Edwyn gerät in eine Art Blutrausch und enthauptet im Fluchtfahrzeug einen weiteren Killer, den Belliveau angestellt hatte.
Dieser Mr. Tibbs hat den Polizisten LaCroix in den Kopf geschossen; Edwyn fährt nun mit der Leiche von LaCroix auf dem Beifahrersitz herum und führt auch mit ihm Gespräche.
Ja, PLASTIK lebt vom Irrsinn der Hauptfigur, der wir hautnah folgen. Edwyn will Virginia aus ihrem Versteck befreien, doch Belliveau hat sie verlegen lassen. Der korrupte Cop Raskin, der von Belliveau als neuer Sheriff aufgestellt wird, sucht nach Edwyn und liest nachts mit dem Streifenwagen die Anhalterin Gwen auf.
Raskin ist ein übler Vergewaltiger, der Gwen sofort überfällt. Sein Pech, dass zufällig Edwyn des Wegs kommt und den bösen Cop fachgerecht zerteilt.
Das ist alles an den Haaren (an denen Köpfe herumgeschwenkt werden) herbeigezogen, aber – hey! – es ist Splatter-Unterhaltung!
Glaubhaft ist es nicht, dass sich Gwen nun mit Edwyn verbündet und ihm helfen will. Sie hat eben mitangesehen, wie Raskin zerfleischt wurde (ich erspare ihnen diese Szenen). Aber im Gewaltcomic geht es nie um Folgerichtigkeit und Alltagslogik.
Auf die Größe kommt es an
Jawohl, die Größe der Tabuverletzung, der Missachtung von Konventionen gehört klar zum Konzept.
Ein Meilenstein des Genres ist sicherlich HARD BOILED von 1990, geschrieben von Frank Miller und gezeichnet von Geoff Darrow.
Hier jagt ein Replikant Gesetzesbrecher und zerlegt dabei die halbe Stadt. Sehr übertrieben, lässt sich dank Darrows überbordendem Artwork auch als dunkle Komödie lesen. Hier ist der „Spaß“ an sinnloser Zerstörung der handlungstreibende Faktor.
(Und Autor Miller kann vorschützen, eine satirische Fortschreibung von „Blade Runner“ im Sinn gehabt zu haben.)
PLASTIK bleibt dagegen auf dem Teppich und konzentriert sich auf Tötungsakte gegen Menschen. Dieser Stoff spielt auch konkret in unserer Gegenwart. Alles, was hier passiert, ist vorstellbar.
Eine nähere Verwandtschaft sehe ich zum jungen Werk A RIGHTEOUS THIRST FOR VENGEANCE, letzten Herbst ebenfalls bei CrossCult erschienen.
Dort geht es um einen Einzelgänger, der einem mächtigen Killersyndikat ins Handwerk pfuscht. Die besondere Note dort liegt im verschwörungstheoretischen Ambiente des Stoffes.
PLASTIK hingegen präsentiert seine Gewalt als Psychogramm. Protagonist Edwyn ist durch seine Arbeit für den Geheimdienst verrückt geworden. Als „Helikopter-Killer“ wacht er nun über eine Puppe. Es muss ihm doch gelingen, wenigstens dieses Objekt vor der schlimmen Welt schützen zu können.
Auf der Suche nach Virginia setzt Edwyn sein Tötungswerk fort und killt Belliveaus Handlanger und Gorillas. Dann entführt er dessen Sohn Tray und trifft sich zum Austausch und Showdown in einem verlassenen Lagerhaus.
Den Ausgang desselben werde ich tunlichst verschweigen.
Is‘ was, Doc?
Fällt mir gerade auf: Ist Edwyns Pseudonym „Viktor“ womöglich eine humorige Referenz auf Dr. Victor Frankenstein und Virginia sein „Geschöpf“, das von der Welt nicht in Ruhe gelassen wird?
Humor ist durchaus im Spiel bei PLASTIK:
Edwyn agiert in seiner exaltierten Art und mit dem spleenigen Beiseite-Sprechen zu einer imaginären Mutter wie eine Schelmenfigur. Eigentlich ist er ein ungeschminkter Joker. Schauen Sie sich seine Statur und seine Gesichtszüge genauer an.
Das verstehen wir Comicfans auf unbewusste Weise und auch der dürftige Backgroundhinweis („Geheimdienst“) reicht vollkommen aus, dass wir die Figur akzeptieren.
Apropos Joker: Gerade die US-Comicindustrie hat seit ihren Anfängen mit verrückten Ideen nicht gegeizt und auch in den Kriegs- und Crime-Comics der 1940er-Jahre schon tüchtig auf die Gewaltpauke gehauen.
Die legendären Undergroundcomics der 1960er- und 70er-Jahre waren dann die nächste Zündstufe der Verrücktheit und haben viele Entwicklungen angestoßen.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir ihnen das Aufkommen der Gewaltcomics anlasten können.
Ich würde behaupten, dass Crumb, Shelton, Spain, Holmes (und selbst Wilson) im Hintergrund stets eine libertäre, revolutionäre oder sozialkritische Agenda hatten.
PLASTIK hat keine Agenda. PLASTIK will nur unsere Angstlust kitzeln.
Das tut PLASTIK sehr gut.
Denn es geht im vorliegenden Comic meiner Meinung nach darum, eine Spannung aufrechtzuerhalten: Kann sich der Killer Edwyn gegen die anderen Killer behaupten?
Kommt die Anhalterin Gwen unbeschadet aus der Sache heraus?
Und, mein Gott, selbst die Frage „Passiert Virginia auch nichts?“ kann man gelten lassen.
Das Werk ist natürlich nichts für die sogenannten „schwachen Gemüter“, aber Genrefans werden ihre Freude haben.
Und Sie sehen: In Deutschland ist CrossCult der Verlag, der ein Herz für Gewaltcomics hat. Hier erscheint dieser Tage auch die dritte Auflage vom erwähnten HARD BOILED!
Halleluja, Freunde. Ein Hoch auf die Herausgeber aus Ludwigsburg, die entweder blutige Gewalt oder Bibelcomics verlegen (s. JUDAS), aber wo ist da schon der Unterschied?
Späßle!
Autor von PLASTIK ist Doug Wagner (nicht verwechseln mit GRENDEL-Schöpfer Matt Wagner), gezeichnet hat ein gewisser Daniel Hillyard, der mit Wagner auch den „Schwestercomic“ VINYL gestaltet hat (der ebenfalls demnächst bei CrossCult erscheinen soll).
Wagner versteht sich darauf, straff und zielführend zu schreiben; Hillyard illustriert klar und sauber. Beide scheinen sonst nicht groß was produziert zu haben. PLASTIK ist ihre Visitenkarte. Wenn sich das gut verkauft, sehe ich durchaus eine gewaltige Zukunft für dieses Gespann. Harhar.
Ein kurzes Geblätter sei noch angeboten: