Das Empathie-Experiment: OMNI-VISIBILIS

Die Comicgeschichte wartet mit einer Menge verrückter Prämissen auf, aber diese ist nochmal speziell:
Der Angestellte Hervé Boileau, ein eher trauriger Durchschnittstyp, erwacht eines Morgens und hat sich nicht in einen Käfer, aber eine Art „Supertelepath“ verwandelt. Was immer er sieht, riecht, hört oder gar fühlt, empfinden Millionen Menschen zeitgleich mit ihm. Häh?

Müssen wir mal erklären und ausspielen. In folgender Szene ruft Hervés Mutter an, um ihm zu sagen, was los ist. Hervé ahnt noch nichts von seiner Fähigkeit, tut den Anruf als Spinnerei seiner Mutter ab (die wir als herrlich bevormundend erleben).

Nochmal wiederholt: Fremde Menschen auf der Straße wie die Dame mit dem Hündchen erkennen unsere Hauptfigur, weil sie sein Gesicht in ihren Gedanken sehen (weil er sich morgens beim Zähneputzen im Spiegel betrachtet hat). Daher kommt ihnen Hervé vertraut vor. Der aber will sich natürlich von allem distanzieren.
Im Büro angekommen, verklickert ihm sein Kumpel Marc eindringlich, was Sache ist. Staunend nimmt unser Held zur Kenntnis, dass er sich vielleicht besser verstecken sollte.

Denn sofort wird Hervé von der Presse gejagt, denn man kennt inzwischen nicht nur sein Gesicht, sondern auch seinen Namen (er ist auf der Arbeit aufgetaucht, wo man sich bereits telefonisch nach ihm erkundigt). Die Polizei und womöglich diverse Geheimdienste möchten sich seiner bemächtigen, weil ein solcher „Supersender“ als „Propagandawaffe“ eingesetzt werden könnte. Stellen Sie sich vor, Sie bekämen Botschaften ins Hirn gespielt – und könnten sich nicht dagegen wehren.
Natürlich ist Hervé völlig erschrocken und verängstigt. Was geschieht da mit ihm? Warum möchten ihn wildfremde Menschen als Nachrichtenzentrale missbrauchen?

Der verzweifelte Mann sucht Trost und Rat bei Chloe, einer verflossenen Liebschaft. Ihr Rendezvous in einem kleinen Café gerät komplett aus den Fugen, weil Chloe bereits vom Zustand ihres Ex-Freunds gehört hat. Sie nutzt das Treffen aus, um durch Hervés Augen eine Castingvorstellung zu geben. Die Schauspielerin kokettiert und rezitiert in der Hoffnung, einen Produzenten zu erreichen.

An dieser Stelle reden wir über das Artwork von Matthieu Bonhomme, den wir in Deutschland fast nur durch seine beiden LUCKY-LUKE-Spezialalben kennen. Der Franzose ist ein Meister der klaren Linie und verzückt mich in der gezeigten Sequenz durch seine hübsche Überzeichnung der Figuren: Hervé in seinem (von unten gefilmten) Entsetzen und Chloe mit ihrer Zahnlücke (die diesem Auftritt eine charmante Glaubwürdigkeit verleiht).  🙂

Mut zur Lücke

Autor Lewis Trondheim übrigens erklärt nirgends, was eigentlich mit Hervé passiert ist. Er entwirft einfach diese schräge Prämisse und lässt dann seiner Fantasie freien Lauf. Er nutzt diese Konstruktion, um uns eine Parabel über die moderne Gesellschaft zu präsentieren.
Dazu später mehr. Was aber kann unser „Held auf der Flucht“ jetzt tun?

Hervés nerdige Kumpels Marc und Olivier verfrachten ihn in Isolation, damit er seine Ruhe hat. Vor allem aber haben sie direkt eine Geschäftsidee vor Augen. Sie versteigern ihren Freund für einen Monat an jedes Land der Welt, das bereit ist, dafür zu zahlen.

Dann steigen die drei aufs Dach eines Pariser Hotels und geben durch Hervé bekannt: Bieten Sie bitte ab Mitternacht auf die Ausleihe des Supermediums durch Abschießen von Feuerwerksraketen.

OMNI-VISIBILIS schafft es, sein verkopftes Konzept locker und actionreich rüberzubringen – und bietet uns sogar ein romantisch anmutendes Feuerwerk (das immer wilder wird und jede Romantik verliert, weil uns klar wird, dass es hier um Geld, Macht und Manipulation geht).

Am Ende nutzt alles Verstecken nichts und die Hetzjagd auf den verfluchten Mann beginnt von Neuem. Ich werde Ihnen nicht verraten, was dann passiert. Nur so viel: Die Welt hält inne und Hervé wird seinen Fluch los. Ich kann mir dazu eine Deutung interpretieren, die den Stoff für mich auf runde Weise abschließt.

Ein Hoch auf Herrn Chabosy

Lewis Trondheim gehört endlich mal zum „Comicgenie des Jahrhunderts“ ausgerufen. Der umtriebige Mittfünfziger hat mit „L’Associaton“ nicht nur eine völlige neue, moderne Schule in Europa etabliert, sondern als Autor und/oder Zeichner zahlreiche innovative Comics mitgestaltet – von DONJON und HERR HASE über TEXAS COWBOYS und RALPH AZHAM bis hin zu MAGGY GARRISSON und KARMELA KRIMM.

Der Mann ist der neue René Goscinny. Mindestens.

Also: Zu entdecken ist dieses 2011 bei Salleck erschienene Schmuckstück. OMNI-VISIBILIS ist nicht der griffigste Titel, aber ein rundum beeindruckendes Werk. Trondheim und Bonhomme jubeln uns eine Reflexion über menschliches Streben unter, ein skurriles Märchen mit Urban-Legend-Feeling.

Ich stelle es mir auch als Experiment in Empathie vor. Träfen wir auf Hervé, wie würden wir reagieren? Vor ihm herumhampeln und uns wichtigmachen? Ihm etwas antun, um zu sehen, wie sich das auf uns auswirkt? Oder würden wir ihn in Schutz nehmen und vor seinen Stalkern abschirmen?
So weit hergeholt ist diese Prämisse gar nicht …

Und wenn Sie noch empathisch mit mir sein möchten, schauen Sie sich das Blättervideo an. Es ist, als ob Sie diesen Comic in Ihren eigenen Händen hielten …