EINE GESCHICHTE ist eine Geschichte ist eine Geschichte …

Hilft alles nichts, rein ins kalte Wasser. Auch wenn man nach 20 Seiten nicht kapiert hat, worum es geht uns was überhaupt los ist. Selbst nach 70 Seiten lässt sich keine schlüssige Aussage treffen. Am Ende habe ich 130 Seiten bewältigt und bin so schlau als wie zuvor. Häh? Aber gut mitgenommen habe ich mich gefühlt!

EINE GESCHICHTE ist eine radikale, Konventionen verweigernde Graphic Novel – ich betrachte sie als grafisches Gedicht. Ein Fiebertraum, eine Halluzination über das Altern, das Scheitern, das Verlorensein im Leben (plakativ eingefangen auf dem Titelbild).

Dieser Comic springt wüst durch die Zeit. Beginnt in einer Nervenheilanstalt, entführt uns dann in einen Schützengraben des Ersten Weltkriegs, schneidet zurück in die Heilanstalt und danach aufs Schlachtfeld. Es folgen der Zusammenbruch der Hauptfigur, Heilanstalt, Schlachtfeld. Zeitlicher Rücksprung in den Schützengraben, wieder Schlachtfeld, das sich wandelt in die Szenerie des psychischen Zusammenbruchs.

Das kann man nicht verstehen, das ist das künstlerische Arrangement von Autor und Zeichner Gipi, der uns immer wieder darin hindert, so etwas wie Handlungslogik herzustellen.

Tauchkurs für Fortgeschrittene

EINE GESCHICHTE ist so’n Comic, in den man hinabsinken muss. Hinterfragen Sie nicht, lassen Sie den Strom der Bilder und der Worte einfach zu. Erzähler ist der Schriftsteller Silvano Landi, der uns mit eigenartigen Gedanken und Bildern bombardiert.

Unterbrochen wird diese Innensicht durch Therapeutengespräche in einer Nervenheilanstalt, in die man Landi eingewiesen hat. Ein dritter Handlungsbogen zeigt uns einen Tag im Ersten Weltkrieg: Mauro, Landis Urgroßvater, muss auf Patrouille ins Niemandsland und gerät in ein Gemetzel der deutschen Infanterie – diese Szenen imaginiert sich der nervöse Schriftsteller, der das Tagebuch seines Vorfahren studiert hat. Emotional überlagert er den Krieg mit seiner gescheiterten Ehe.

Folgende Inhaltsbeschreibung vom Buchrücken ist übrigens schon eine Interpretation:
Silvano Landi ist ein erfolgreicher Schriftsteller. Als ihn aber seine Frau und seine Kinder verlassen, bricht für den 50-Jährigen eine Welt zusammen und er landet orientierungslos in einer psychiatrischen Anstalt. Zudem ist er vom Tagebuch seines Urgroßvaters Mauro besessen, das dieser als Soldat im Ersten Weltkrieg führte.“

Obacht: EINE GESCHICHTE ist wilder arrangiert, als es oben klingt!
Das müssen wir uns alles erschließen: sowohl dass er Schriftsteller ist als auch dass das Verlassen-Werden ursächlich für den Zusammenbruch ist.
Und mit der „Besessenheit“ hat es meiner Deutung nach eine besondere Bewandtnis. Erst war Landi vom Schicksal seines Vorfahren fasziniert, dann kam die Ehekrise und damit ein paralleles Eintauchen in Kriegsfantasien.

Krieg im Kopf

Der Comic erlaubt auch die Lesart, dass Landi von seinen Therapeuten in der Heilanstalt festgehalten wird, weil sie sich mal mit einem Promi-Patienten befassen möchten.

Ist Landi ein Gefangener? Seiner Geschichte, seiner Gedanken? Wenn wir alle unsere eigene Realität konstruieren, sitzt dieser Mann ganz schön in der Scheiße. Traumatisiert durch den Rausschmiss von seiner Frau, fantasiert er sich eine Verlassenheit, wie sie sein Urgroßvater Mauro auf dem Schlachtfeld erlebt und beschrieben hat. In Landis Kopf herrscht Krieg – und jedes Bild, jede Farbe, jeder Himmel überm Land wird ihm zum schizophrenen Menetekel.

Huch! Ich merke, dass ich mich mit meinen Beschreibungen im Kreis drehe und Dinge wiederhole. Aber das tut auch diese Graphic Novel!
Gipi drückt uns unter Wasser, erlaubt uns kein Atemholen. Ich finde Landis Psyche äußerst stimmig dargestellt. Wir wirbeln durch seinen Geist und werden konfrontiert mit seinen Vorstellungen.

Eines Menschen Gedankenwelt ist nicht logisch und verläuft nicht chronologisch. Gipi assoziiert sich diesen Comic zusammen: EINE GESCHICHTE ist eine Geschichte ist eine Geschichte …
Landi ist Landi ist Mauro ist Soldat im Schützengraben ist Spielball der Ängste ist Gefangener der Gegenwart …

Alles leuchtet. Nein, nicht alles. Nicht die Szenen in der Heilanstalt. Aber alle Fantasie leuchtet, selbst das Grau des Schlachtfelds leuchtet. Ein zentraler Satz lautet: „Woher kommt dieses Licht? Von unseren Gedanken? Ist es unsere Liebe, unsere Hoffnung, die den Himmel zum Strahlen bringt?

Der italienische Comickünstler Gian Alfonso Pacinotti, der sich Gipi nennt, hat EINE GESCHICHTE schon vor zehn Jahren vorgelegt. Sein deutscher Verlag avant schiebt diese Graphic Novel nun nach – vielleicht aufgrund des Erfolgs von DIE WELT DER SÖHNE von 2018. 

Mir hat EINE GESCHICHTE Assoziationen zu zwei anderen Comics eröffnet: Andrea Serios Zweite-Weltkriegs-Erzählung RHAPSODIE IN BLAU sowie Manu Larcenets Meisterwerk BLAST, dem lyrischen Psychogramm eines Mörders. Alle drei Werke teilen sich passagenweise gewisse stilistische Mittel bzw. transportieren eine ähnliche Stimmung.

Sorry, gehört beides eigentlich nicht hierher. Aber dieser Gipi ist ein echter Künstler, der ein atemberaubendes Instrumentarium entfaltet. Halten Sie bitte die Luft an, während ich kurz durch den Comic blättere und Ihnen seine Schönheit präsentiere.