Stiller Zauber: RHAPSODIE IN BLAU

Okay, nach zwei Dritteln der Lektüre war ich bereit, einen Verriss zu verfassen. RHAPSODIE IN BLAU kam mir vor wie eine Graphic Novel nach Rezept:
Man nehme ein Kriegsschicksal, springe ein bisschen vor und zurück in der Erzählzeit und dekoriere das Ganze mit künstlerischen Bleistiftzeichnungen. Gelingt immer und klebt nicht!

Aber dann ist das spröde Finale dieser RHAPSODIE IN BLAU so herzzerreißend, dass ich meine Meinung revidiert habe.
Dieser Comic ist in gewisser Weise generisch, er schildert ein austauschbares Schicksal von Millionen im Zweiten Weltkrieg: Hier ist es ein italienischer Junge mit jüdischen Wurzeln (Andrea Goldstein), den seine Eltern vor dem bedrohlich werdenden Faschismus 1939 aus Triest zu Verwandten nach New York schicken; Andrea wächst heran und kehrt 1944 nach Italien zurück, um an der Seite der US-Streitkräfte für die gute Sache zu kämpfen.

Ich habe jedoch den Verdacht, dieser Comic will generisch sein – und das Artwork von Zeichner und Autor Andrea Serio will ganz bewusst seine künstlerischen Bleistiftzeichnungen ausstellen! Am Ende erzielt er damit einen Effekt, an den wir uns nun heranarbeiten wollen.

Das Buch beginnt mit der Überfahrt der Truppen nach Europa. Eine blaue, melancholische Eröffnung:

An Deck führt Goldstein ein kurzes, nichtssagendes Gespräch mit einem anderen jungen Mann, dann entschwindet das Schiff in einem blitzverhangenen Himmel.
Zeitsprung kroatischer Sommerurlaub 1938: Andrea, Cousin Martino und Cousine Cati baden, planschen, faulenzen, schauen nach dem anderen Geschlecht. Dazu blauer Himmel, grünblaues Wasser, gelber Strand.
Abends eine Tanzveranstaltung. Als ob der Sommer nie zu Ende ginge

Beachten Sie die Textzeile zwischen den Bilderreihen: Farben, Düfte, Sommergeräusche, unbeschwerte Jugend. In diesem Comic geht es weniger um Handlung als um Stimmung.

Hingewiesen sei zudem auf Serios Zeichenkunst, die unfassbar locker und simpel ausschaut. Die Figuren scheinen trotz des hohen Astraktionsgrades lebendig, die Natur wirkt im Hintergrund mit ewiglichem Zauber.

Es folgen zwei weitere Seiten, auf denen Andrea und Martino nichts tun, als im Wasser zu dümpeln. Immer wieder erlaubt sich, nimmt sich RHAPSODIE IN BLAU den Raum, einfach mal Landschaftsbilder zu präsentieren.
Fast glaubt man, Serio möchte dieses Album irgendwie „vollkriegen“, doch bald erkennt man, dass es ein grafisches Kunststück (wortwörtlich) ist, um den Menschen in der Natur und später in den New Yorker Stadtlandschaften verschwinden zu lassen.

Doch zuvor erfahren unsere drei Jugendlichen in Triest noch, dass der Faschismus Ernst macht und den Juden an den Kragen geht. Im folgenden Blatt vernehmen Andrea, Cati und Martino in einer Radioansprache des „Duce“, dass Menschen mit jüdischen Wurzeln aus Universitäten und Schulen verbannt werden.

Diese Sequenz zeigt drei Figuren vor weißen Hintergrund; Zeichner Serio hat ihnen die Welt unter den Füßen weggezogen. Sie ist ausradiert.
Das ist alles weder subtil noch neu, aber diese RHAPSODIE IN BLAU bekräftigt wieder einmal, dass solche Stilmittel des Comics eindrucksvoll (und zeitlos) funktionieren.

Man huscht durch diesen Comic, der sich Seite für Seite in weiteren umwerfenden Landschaften präsentiert. Serio scheint die Figuren auf Distanz zu halten, denn sie tun oder sagen nichts, was schon Hunderte Male woanders getan oder gesagt worden wäre. Martino, Cati, Andrea (und seine amerikanische Verlobte Joan) sind Chiffren, wie erwähnt austauschbar.

Die Kühle des Artworks und die lakonische Figurenführung hat mich irgendwann angefressen, dass ich dem Werk schon grollen wollte (auch das habe ich eingangs ausgeführt).
Und dann knallt Serio mir noch mehr Landschaften und Gebäude à la Edward Hopper vor den Latz?! What the what?

Bilder einer Einstellung

 

Serio schafft tatsächlich ein Zeitgemälde im Duktus des Amerikanischen Realismus und nicht umsonst heißt das Werk RHAPSODIE IN BLAU, denn wie auch Hopper gehört George Gershwin erwähnt und recherchiert. Seine Melange aus Jazz, Blues und Klassik in seiner wegeweisenden „Rhapsody in Blue“ (1945 sogar der Titel einer Gershwin-Filmbiografie) gilt als musikalische Metapher für das städtische Amerika.

Diese Graphic Novel feiert das Primat der Zeichnung und sie weiß es zu nutzen: RHAPSODIE IN BLAU ist ein Comic, der auch ohne Worte funktioniert.
Das zu akzeptieren, fällt mir schwer. Ich bin (wie viele) der Ansicht, dass Handlung, Charaktere und Dialoge essenziell sind.

Hier macht mir Serio einen fetten Strich durch die Rechnung. Der Künstler nämlich ist auf Atmosphäre, auf Stimmung, auf emotionale Bilderwirkung aus.
Wir sollen sein Werk nicht lesen, wir sollen es fühlen, spüren, atmen.
RHAPSODIE IN BLAU zielt ins Herz, nicht ins Hirn.

Andrea Goldstein als Sanitäter im Fronteinsatz: Im Krieg weicht das Blau grauen, sandigen, anthrazitfarbigen Erdtönen.

 

Spiel mir das Lied vom Blues!

 

Die Farben, natürlich, spielen die Hauptrolle, das titelgebende Blau ist dabei dominierend. Blau ist hier die Sehnsuchtsfarbe, sie lässt sich überall entdecken:
der Himmel, das Meer, Augen, Fassaden, Fenster, Kleidung, Schneewehen, Dächer, Nebel, mitunter sogar Bäume, Wolken, Haare.

Der Himmel ist weit, das Meer ist ewig, die Welt ein ätherisches Naturmysterium. Auch das weder subtil noch neu, doch am Ende rührt sie mich, die Kläglich- und Vergänglichkeit des Menschen. Hat er mich gekriegt, der Serio!

Erst war ich böse, dann war ich traurig. Ich musste erst meinen analytisch denkenden Kopf abschalten, dann konnte ich mich dieser Graphic Novel hingeben.

Serio nämlich transzendiert sein Thema, sein Werk weist über die biografische Narration hinaus. Er erinnert uns an unser Mensch-Sein in der Natur, an unser Gastspiel in dieser Existenz.
Das ist schön, tut aber auch ein bisschen weh: Melancholie pur, Blues auf Papier.

Der Comic ist einsehbar beim Verlag (schreiber&leser), dort auch ein großartiger Präsentationsclip abrufbar.

Ich präsentiere RHAPSODIE IN BLAU ebenfalls noch in einem Videoclip: