ASTERIOS POLYP – eine Blendgranate?

Oha, das ist eine der großen American Graphic Novels?! Preisüberschüttetes Werk aus dem Jahr 2009, geschrieben und gezeichnet von Comic-Tausendsassa David Mazzuchelli. Ich habe es erst jetzt gelesen und finde es … ein wenig … schwachbrüstig, sag ich mal.
(Im Vergleich zu anderen American Graphic Novels von Joe Sacco, Alison Bechdel, Craig Thompson, Phoebe Gloeckner, Daniel Clowes, Will Eisner, Tillie Walden, Art Spiegelman, Chris Ware oder Emil Ferris.)

ASTERIOS POLYP ist keineswegs schlecht oder dumm oder langweilig – aber diese Graphic Novel von immerhin 340 Seiten (deutsch bei Eichborn) ist relativ banal. Die Handlung nämlich lässt sich auf die Formel bringen: Mann überwindet Midlife-Crisis.

Das war’s. Im Ernst. Mann überwindet Midlife-Crisis. Dieser Plot jedoch wird verpackt in einen kreativ arrangierten Strauß grafischer Ideen.
Ich habe Pro und Contra zu diesem Werk. Ich versuche im Folgenden, einige Punkte aufzuzeigen.

Handwerks-Feuerwerk

 

Auf narrativer Ebene ist ASTERIOS POLYP clever konstruiert. Die Handlung setzt ein am Tiefpunkt im Leben der Hauptfigur. Dem Architektur-Dozenten Asterios Polyp brennt die Wohnung ab. Ein Blitz schlägt ein im Apartmentblock, vernichtet zwar die Habe von Asterios, aber bringt wieder Feuer in des Mannes Leben.
Jetzt steht er zwar auf der Straße, aber er beschließt kurzerhand, ein neues Leben anzufangen. Da seine Ehe mit der Bildhauerin Hana Sonnenschein in die Brüche gegangen ist und Asterios nur noch herumsumpfte, hatte er ohnehin nicht viel zu verlieren.


Mit dem Geld in seiner Hosentasche besteigt er einen Bus in die Provinz und landet im Kaff Apogee, wo er das erstbeste Arbeitsangebot annimmt: Er wird Aushilfsmechaniker in einer Kfz-Werkstatt.
Der bodenständige Chef (Stiff Major) und seine esoterisch veranlagte Frau (Ursula Major) nehmen ihn zu Hause bei sich auf und Asterios gewöhnt sich an ein einfaches Leben fernab der akademischen Routinen.

In Rückblenden erfahren wir einiges über Asterios‘ Leben und Ansichten: seine griechischen Wurzeln, seine akademische Karriere, sein Kennenlernen mit Hana, seine spätere Ehe und den Zerfall derselben.

Am Ende der Graphic Novel fließen die Erinnerungen mit der Gegenwart zusammen und Asterios macht sich auf, nach seiner Frau Hana zu suchen. Seine kleine Heldenreise führt ihn zu neuen Einsichten und einem Neuanfang im Leben.
Mission Midlife-Crisis accomplished.

Zehn Jahre oder mehr hat Mazzucchelli angeblich an der Umsetzung des Stoffs gesessen. Und er hat jede Idee reingefrickelt, die einem bei diesem Thema überhaupt kommen kann. ASTERIOS POLYP wimmelt, strotzt und birst vor Querverweisen, Referenzen, Anspielungen, dramaturgischen Callbacks und strukturalistischen Finten.
Eine große, eine gewaltige Spielerei – aber es geht immer noch nur um einen Mann, der seine Midlife-Crisis überwindet.

Wimmel!

 

Großen Eindruck auf alle Rezensenten machte Mazzucchellis unterschiedlicher Zeichenstil für manche Figuren. Das passiert jedoch nur in wenigen Schlüsselszenen. Er erklärt es sogar zu Anfang des Buchs, bebildert es hübsch in diesem Großbild, das den Dozenten Polyp vor seiner Klasse zeigt:

Der Rationalmensch Asterios erreicht mit seinen Worten wahrscheinlich nur diejenigen, die ähnlich wie er „strukturiert“ sind. Großartige grafische Umsetzung eines kommunikationstechnischen Dilemmas! Wir verstehen nur das, was wir zu verstehen trainiert sind.

Analog verfährt Mazzucchelli mit dem Zusammentreffen von Persönlichkeiten: Eine Studentin verführt Asterios, der wortwörtlich weich wird und sich ineinanderfließend mit der jungen Frau vereinigt.

Zugleich beginnt die Aufladung des Werks mit nicht-alltäglichen Dingen, denn Mazzucchelli schmuggelt ein Stück Mythologie in den Comic: Odysseus taucht auf (was er nicht müsste). Diese Sequenz hat mit Odysseus nichts zu tun, doch Asterios ruft sich diese Vorstellung vor seinem geistigen Auge ab. Ganz klar ein Spleen von Autor und/oder Figur.

Die erste Begegnung mit Hana wird wie folgt auf zwei Seiten präsentiert.

Das lässt sich als Lehrbuchbeispiel für die Ausdruckskraft von Comics werten und hat dieser Graphic Novel womöglich ihren guten Ruf verschafft.
Zwei Fremde begegnen sich und in der Annäherung weichen ihre Grenzen auf, ihre Auren verschmelzen miteinander, sie gleichen sich an und sind schließlich „auf einer Wellenlänge“.
(Was sich mit grafischen Linien wundervoll illustrieren lässt.)

Das ist Comic, wie wir ihn mögen. Natürlich. Was war noch gleich das Thema?
Mann überwindet Midlife-Crisis, soso.

Strotz!

 

Weiterhin springen einen die sprechenden Namen an!
Da wäre zunächst Asterios, der hoch über allem seine Bahn ziehende „Asteroid“, noch versehen mit dem Nachnamen Polyp: eine Konnotation von „Tumor“ oder „Krake“, ein vereinnahmender, umgarnender, womöglich aber auch „toxischer“ Mensch.
Seine Lebenspartnerin ist Hana (die „Blume“), mit Nachnamen ausgerechnet „Sonnenschein“. Das ist die schon klischeehaft natürlich-fröhliche Frau, die sich künstlerisch verwirklicht. Hana vereinigt Kultur und Natur in sich, doch fehlt es ihr an Bodenhaftung.
Die ganzheitliche Mutter-Erde-Figur hingegen ist nämlich die Gattin des Kfz-Reparateurs: Ursula Major. Die divenhaft auftretende Matrone ist ein komplettes Sternbild – das des „Großen Bären“ (Ursa Major).


Ein nur auf sechs Seiten auftauchender Komponist trägt den Namen „Kalvin Kohoutek“, also den eines (weiteren) Kometen, wenn wir Asterios als Flugkörper gelten lassen.  ;- )

Und es lohnt sich, in Wörterbüchern zu blättern. Der Name des Ortes, in dem Asterios strandet, lautet „Apogee“, wie oben schon erwähnt. Ich assoziierte zunächst „apology“ und es schwebte mir die emotionale Umerziehung des Protagonisten vor.
Guck ich aber in Online-Englischlexikon … und trifft mich der Schlag: Apogee ist der astronomische Begriff für den erdfernsten Punkt einer Umlaufbahn (dt. „Apogäum“), figurativ auch ein „Gipfel- oder Höhepunkt“.
Asterios hat sich weitestmöglich von seinem bisherigen Leben distanziert, um auf diesem Scheitelpunkt die Wende  anzutreten. Und das als Kfz-Lehrling! Nicht Astronaut, sondern Autoschrauber!

Was haben wir noch an Namen, an Figuren?
Als Katalysator des Niedergangs der Ehe zwischen Asterios und Hana tritt der egozentrische Choreograf Willy Ilium in ihr Leben.


Im englischen Sprachgebrauch bezeichnet „ilium“ ein Knochengebilde, die große Hüftschüssel aller Wirbeltiere (der Darmbeinkörper samt der Darmbeinschaufel). Ist dieser Willy ein hüftfixer Nebenbuhler, ein „Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen“, ein Rivale um Hanas Zuneigung?
Ich vermute eher einen Verweis auf Homers Ilias, die Erzählungen des Trojanischen Krieges.

Auch wenn Ilium immer wieder verbale Schlüpfrigkeiten äußert und sexuelle Andeutungen fallenlässt, scheint er mir nicht an Hanas Körper interessiert, vielmehr provoziert er den zuhörenden Ehemann (der allerdings sämtliche Unverschämtheiten kühl ignoriert).

Ilium braucht Hana als Bühnenbildnerin für sein Off-Theaterprojekt „Orpheus (underground)“ – da landen wir natürlich erneut mitten in der altgriechischen Mythologie um Orpheus und Eurydike (und bekommen die klassische Blaupause für die tragische Trennung eines Liebespaars geliefert).

Mazzucchelli widmet eine komplette „Szene“ in ASTERIOS POLYP einer modernisierten Variation der Orpheus-Geschichte:


Asterios steigt mit einer Lyra in die Unterwelt hinab, die noch tiefer als die New Yorker U-Bahn liegt. Im Folgenden führt er Hana empor, doch die reißt sich wieder los von ihm.

Vielleicht ist diese Szene aber auch Iliums Vision seines Tanzstücks, das nie das Licht der Bühne erblicken wird, sondern sich lediglich in den Köpfen der Figuren abspielt!
Diese Graphic Novel beinhaltet solcherart noch eine „Novel in der Novel“…

Berst!

 

Sie, liebe Leserinnen und Leser, können stundenlang in diesem Werk heruminterpretieren. Das kann anregend sein, vielleicht sollte man ASTERIOS POLYP nur als Gruppenarbeit ausgeben. Der Autor hat wie erwähnt Jahre damit zugebracht, seine spezielle Formensprache zu entwickeln und sogenannte „easter eggs“ zu verstecken.

Noch eine Szene vom Beginn der Beziehung zwischen Asterios und Hana: Als „toxischer Mansplainer“ wird er ihr gleich die Show stehlen und sich ins Rampenlicht rücken. Mazzucchelli gestaltet den Vorgang mit einem grafischen Meta-Trick.

In das Werk verflochten sind hier und da auftauchende Referenzen und Gegenstände: ein Feuerzeug, Franz von Assisi, die Auslöschung der Dinosaurier, ein Tannenzapfen, ein Taschenmesser, imaginäre Freunde, Katzen, Rauchen, Dualität der Welt, Uhren und Zeitmessung, Revolution, Architektur und Skulptur, Musik, Vergänglichkeit.

Nicht unbedingt Leitmotive, aber doch strukturalistische Thematiken, denen man nachgehen kann. Wenn wir kurz mitspielen täten:
Welche Bedeutung gewinnt die Natur für Asterios anhand dieser Stichworte?
Wie wirkt Musik in das Leben der Figuren?
Was ist Wissen, was ist Glaube, was hat überhaupt Bestand?

Man kann es aber auch sein lassen. (Ich habe auch gerade keine Arbeitsgruppe um mich herum.)

Des Weiteren erhalten alle Figuren ihre eigene Typographie im Lettering, um sie individuell „klingen“ zu lassen. Die meisten Frauen erscheinen in normaler Druckschrift, kaputte Typen in verbeulten Buchstaben, Schöngeister in Schreib – oder Schönschrift, die Kerle gerne in Kapital- oder Versalschrift, Willy Ilium sogar in einer Beinahe-Fettung mit gespreizter Spationierung.

Das durchlaufende Thema der Dualität wird in fast allen Rezensionen zu ASTERIOS POLYP betont. Die Anziehung der Gegensätze, die Problematik einer Ehe zwischen Mann und Frau, der sphärische Doppelmensch des Aristophanes, Natur und Kultur, Akademia gegen Alltag, Scheitern versus Siegen, nicht zuletzt der astral- und traumhafte Zwillingsbruder Ignazio.

Damit steigen wir weiter und tiefer in die „Spielchen“ ein, die sich Mazzucchelli mit seinem Thema (und uns Leser*innen) erlaubt. Asterios ist eineiiger Zwilling, dessen Bruder Ignazio bei der Geburt verstarb. Ignazio jedoch begleitet unsere Hauptfigur – mal als Schatten, mal als Erzähler, mal als Partner in seinen Visionen.
In einem symbolischen Akt des Fraternizids (hab ich wortgeschöpft) entledigt sich Asterios schließlich seiner inneren Zerrissenheit und findet zum individuellen Selbst. (Klarer formuliert: Asterios konnte keine Partnerschaft mit Hana eingehen, da er im Partnerkonflikt mit sich selber stand.) Somit überwindet er seine Midlife-Crisis, yay!

Wimmel, strotz, berst!

 

ASTERIOS POLYP schrammt knapp vorbei am künstlerischen Overkill. Warum das Bemühen griechischer Mythologie, weshalb der bunte Budenzauber der grafischen Innovation? Für einen Knilch mit Ego-Problemen?!

Ist diese Graphic Novel überkünstelt? Verpufft, versandet, kollidiert ihr hoher Anspruch an der Belanglosigkeit des Dargestellten?
Schießt Mazzucchelli mit Hochkultur-Kanonen auf Midlifekrisen-Spatzen?

ASTERIOS POLYP beginnt mit einem Akt von Naturgewalt (Blitz), es endet mit einem Akt von Naturgewalt (sei nicht verraten). Dazwischen sind wir Menschen geworfen. Ist das für manche noch eine Erkenntnis?

Ich finde diese Graphic Novel vom Gehalt her banal, seicht und vorhersehbar.
Andererseits ist sie vom Handwerk her sinnfällig illustriert, kreativ umgesetzt und spielerisch verwoben.
ASTERIOS POLYP ist eine Blendgranate, ja. Aber blenden tut sie schön.

Ein Mann überwindet seine Midlife-Crisis. Überwinden Sie mit, wenn Sie möchten.

Für eine sympathische Kritik zu ASTERIOS POLYP und die Erklärung einiger „Spielereien“ verweise ich sie an Scott McCloud, der das Werk kurz nach Erscheinen lobte.

Und natürlich blättere ich wie gewohnt durch diese Seiten und hebe eine Sequenz  hervor, die mir besonders gefiel und die auf bescheidene Art höchst kunstvoll ist: