Ein Gentleman sieht rot: KING OF SPIES

Vorhang auf für einen neuen Comic von Mark Millar!
Und wie üblich haut der Schotte auf die Pauke und serviert uns einen Plot, der auf eine Briefmarke passt:  Alternder Agent läuft Amok!

Aber nicht grundlos und nicht ohne Ziel.
Roland King war in den Neunzigerjahren ein Superspion wie James Bond, eine Rückblende zu Anfang des Comics etabliert ihn im Einsatz.
Dann aber springen wir in die Gegenwart und King hat sich gemütlich eingerichtet als „elder statesman“: Er ist Vorstandsmitglied in einer Rüstungsfirma und Lobbyist für Waffenhandel. Er schüttelt die Hand der Queen und sitzt in feinen Clubs mit seinem Kumpel Figley, dem Geheimdienstchef.

Angesichts pöbelnder Neureicher kommen ihm reuige Gedanken:


Als ihm seine Ärztin kurz darauf eröffnet, er leide an einem inoperablen Hirntumor und habe kein halbes Jahr mehr zu leben, schwenkt King auf einen radikalen Kurs.
Im Club folgt er den Russen auf die Toilette und schießt sie allesamt über den Haufen!

Damit jedoch nicht genug. Roland hakt eine „bucket list“ ab, auf der etliche Prominente und Honoratioren stehen, deren Ableben Wellen schlägt.

Man darf sich fragen, wie glaubwürdig das ist. Aber Millar ist ein Autor, der wortwörtlich keine Gefangenen macht – und ab hier lesen auch nur Menschen weiter, die mit ähnlichen Stoffen oder früheren Millar-Werken vertraut sind.
Ich gehöre unbedingt dazu.

Auch wenn mir seine verdichteten, radikalen Ansätze nicht immer gefallen (WANTED, KICK-ASS), so gelingen ihm zeitlose Meisterwerke (CHRONONAUTS, MAGIC ORDER, STARLIGHT), die ich in der Neunten Kunst nicht missen möchte.

Am besten funktioniert seine Haudrauf-Action, wenn er sie mit einem Familiendrama unterfüttern kann. Dann nämlich gewinnt sein Krawall an Tiefe und verschafft seinen Figuren eine emotionale Fallhöhe.

So auch in KING OF SPIES, obwohl es diesmal mit einem Twist verbunden ist. Kings Sohn (mit dem schönen Namen Atticus) betritt die Szene. Der soll aber seinen wütigen Vater nicht besänftigen, sondern liquidieren! Womit Atticus übrigens kein Problem hat, denn er hasst seinen Vater inbrünstig, weil der nie für ihn Zeit hatte, als er noch ein Kind war.

Nun jagt also Sohn-Agent den Vater-Agenten, denn Atticus ist in die Fußstapfen seines alten Herrn getreten und ebenfalls ein Ausnahme-Killer des britischen Geheimdiensts (und steht damit automatisch auf jener Gegenseite, die Roland auf seinen letzten Drücker noch bekämpft).

Vater und Sohn, reloaded, sozusagen. Und es sei erwähnt, dass es im Zusammenspiel der beiden noch Überraschungen gibt …
In einem stillen Moment gesteht Roland seinem Sohn, wie es um sein Gewissen bestellt ist.

PUNISHER in Nadelstreifen

Dem einen oder der anderen kommt vielleicht JIMMYS BASTARDE in den Sinn, die vom Kollegen Garth Ennis verfasste James-Bond-Persiflage (ebenfalls bei Panini). Auch da geht es ruppig zur Sache, doch dieser Stoff ist auf überdrehten Gewalthumor aus und präsentiert einen noch jungen und aktiven Agenten.

KING OF SPIES liegt näher an RED, dem Agentencomic vom nächsten Star-Autoren im Bunde: Warren Ellis. Dieser Comic, der als Film mit Bruce Willis und Morgan Freeman populär wurde, handelt nämlich von Senioragenten, die sich aus dem aktiven Dienst zurückgezogen haben, jedoch wieder ins Fadenkreuz von Killern geraten.
Doch RED ist von der Handlung anders gelagert, weil die Protagonisten sich hier wehren müssen. Roland King schlägt von sich aus los, weil er sein Leben revidieren möchte.

V wie Vergleich

Meine Lektüre von V FOR VENDETTA ist lange her, aber mir scheint eine thematische Verwandtschaft nicht allzu weit hergeholt. In beiden Geschichten räumt ein Einzelgänger auf brutale Weise mit dem System auf.

Alan Moore verleiht seinem Stoff mehr Tiefgang, mehr Düsternis, mehr ausgestellte Legitimation der Terrorakte. Mark Millar fokussiert auf den Rabatz, auf die Schauwerte und vertraut im Übrigen darauf, dass wir Leser genau wissen, wogegen Roland King hier Sturm läuft.
In seinen Opferfiguren dürfen wir (mit unserem Weltwissen) beispielsweise Manuel Noriega, Jeffrey Epstein, Prinz Andrew, Ronald Reagan, Harvey Weinstein und Joseph Ratzinger alias Papst Benedikt XVI. erkennen.

David Lloyds Artwork für V FOR VENDETTA ist klaustrophobisch und finster, Matteo Scalera erlaubt sich offene und luftige Kompositionen und versucht in meinen Augen, wie Sean Murphy auszusehen.
(Ich weiß wirklich nicht, wer von beiden von wem gelernt hat, sie sind gleich alt und gleich lange im Geschäft, aber die beiden kennen sich sogar: BLACK SCIENCE-Zeichner Scalera hat mit Sean Murphy – als Autoren! – die BATMAN WHITE KNIGHT-Episode HARLEY QUINN gestaltet.)

In jedem Fall schnüre ich mit KING OF SPIES  und V FOR VENDETTA ein mögliches Double Feature!

Underground im Mainstream

KING OF SPIES ist in einigen Szenen bedrückend nah an der Wirklichkeit (wie Sie den Beispielseiten entnehmen können). Eigentlich haben Millar und Scalera einen Underground-Comic vorgelegt. Das werte ich so aufgrund der erwähnten Gegenwartsbezüge.

Verspüren wir nicht alle beispielsweise den Drang, den oberen Rängen der katholischen Kirche mal physisch auf die Finger zu klopfen – dafür, dass Skandal nach Skandal erst vertuscht, dann halbherzig aufgearbeitet wird?!
In unserem animalischen Urbewusstsein, das nach biblischer Rache schreit?!

KING OF SPIES macht genau das und lässt diesen dunklen Fantasien ihren Lauf, natürlich in kunstvoll übersteigerter Form.

Ich find das super. Mir fehlen solche Comics! Haben reinigende Funktion, gut für die Psychohygiene. Man lässt die Aggro-Sau mal in Gedanken raus, danach kann man drüber diskutieren und seine Wut wieder auf ein ziviles Level runterfahren.

Entscheiden Sie selbst, ob Sie den „König der Spione“ in Ihre Herzen und  Hirne lassen möchten. Ich verweise noch auf die Homepage von Panini Comics.

Und betätige mich noch als „König des Geblätters“: