Tillmann liest: TOKYO GHOST

Ein Hauch von TRANSMETROLPOLITAN weht durch diese Miniserie. Wie in Warren Ellis‘ Cyberpunkcomic der späten Neunziger werden wir in eine kunterbunte und krawallige Dystopie geworfen. Los Angeles 2089 ist ein greller Sauhaufen und amoralischer Sündenpfuhl. Nano- und Neurotechnologien sowie totale elektronische Vernetzung erlauben Bodyforming und einen Overkill an Unterhaltung. Eine reiche Oberschicht frönt ihrem Vergnügen, das Gros der Menschheit vegetiert dahin als Kanonenfutter und Entertainment-Junkies. Die Ordnung wird von Judge-Dredd-artigen Constables aufrecht erhalten, Kampfmaschinen eines kranken Systems.

Im Mittelpunkt von TOKYO GHOST steht eine solche Kampfmaschine: Constable Led Dent, der brutalste und unkaputtbarste Mensch dieser Neuzeit. Immer an seiner Seite ist seine Gefährtin Debbie, eine schlanke und durchtrainierte Söldnerin. Beide verbindet eine Liebe, die schon in ihrer Jugend geschlossen wurde und die jedoch im Fortgang der Geschichte einen tragischen Verlauf nehmen wird.
Das ungleiche Paar trennt nämlich Leds Technologiesucht. Der Constable agiert weggedröhnt hinter einem Multi-Feed aus seinen Lieblingsserien, die ihm andauernd vor Augen flimmern. Die technologiefrei lebende Debbie will nichts weiter, als ihren Schatz aus diesem Gefängnis zu befreien.

Endlich führt sie ein Auftrag nach Tokio, das (ironische Pointe) ein agrarischer Samurai-Staat wie aus dem Mittelalter ist. Led ist dort vom Netz und kann entgiften, das Paar findet in diesem Garten Eden wieder zueinander und ist im romantischen Paradies. Doch Sündenfall und Vertreibung lassen nicht lange auf sich warten, denn unser Paar befindet sich unwissentlich auf einer Sabotage-Mission, die in eine schockierende Apokalypse mündet.

„Let’s traumatize!“

Schurke des Stücks ist der halbmechanische Technotroll Davey Trauma, dessen Bewusstsein durchs Internet geistert und der somit alles und jeden manipulieren und kontrollieren kann. Anfangs noch ein krimineller Spinner aus der Nachbarschaft, entwickelt sich Davey zum gottgleichen Narzissten, der die gesamte Menschheit in seinem Technoparadies versklaven will. TOKYO GHOST ist auch ein griechisches Drama von Analog gegen Digital.

Ghost Karussell

Die filigrane Leichtigkeit der Zeichnungen und der flapsige Ton der Texte verstärken noch den herben Plot von TOKYO GHOST. Dieser Comic ist eine absurd-balladeske Tragödie um eine Frau, die alles tut, um die Liebe ihres Partners zurück zu gewinnen. Am Ende wird sie beinahe die komplette Welt verbrannt haben, nur für ein Lebenszeichen aus einer erkalteten Beziehung.
Wuchtiger Stoff, erschreckender Stoff, unterhaltsamer Stoff!

Autor ist Rick Remender, der gerade mit BLACK SCIENCE (noch nicht gelesen) einen Lauf hat. Sehr sympathisch auch: Die Serie ist nach 10 Heften beendet, erhältlich in zwei Tradepaperbacks. Und sie ist rund, man vermisst nichts. Bei den Serien von Kirkman (WALKING DEAD, OUTCAST) und Vaughan (SAGA, Y–THE LAST MAN) liest ja die Angst immer auch mit. Dass sie den Stoff ausufern lassen und nicht mehr zu einem vernünftigen Schluss finden (das LOST-Syndrom). Hier fügt sich alles relativ zügig und präsentiert noch eine (zwar nicht mehr originelle), aber doch tief befriedigende Schlusspointe.

TOKYO GHOST werde ich garantiert wiederlesen, schon des berauschenden Artworks von Sean Murphy wegen, der geschickte Anklänge an Manga einsetzt, ohne jedoch im Ganzen wie ein Manga zu wirken. Himmlisch schöne Idyllen, rabiate Aktionssequenzen und konventionelle Erzählpassagen verschmelzen zu einem organischen Bilderlebnis, an dem ich mich kaum sattsehen kann. Murphy illustriert unglaublich schick, ohne prahlerisch rüberzukommen. Es ist verdammtnochmal hinreißend!
Das hat mich so umgehauen, dass ich mir ein Überformatheft der ersten beiden Kapitel geordert habe (kann bei Image Comics bestellt werden). Das ist jetzt kein Scan der Original Art, sondern ein Andruck in Schwarzweiß. Immer sehenswert, sowas. Sean Murphy zählt ab jetzt zu meinen Grafikhelden.

 

Transparenz, Baby: Die Kolumne „Tillmann liest“ will keine Rezension sein, sondern Leseeindrücke und persönliche Urteile vermitteln.
Wir Comicfreunde finden selten jemanden, mit dem man überhaupt über unser Hobby reden kann. Ich betreibe das hier als Privatspaß und freue mich, wenn ihr reagiert!
Angemerkt sei noch, dass ich mir sämtliche englischsprachigen Produkte immer auch auf Englisch besorge und lese. Kann also passieren, dass hier Comics zur Sprache kommen, die nicht oder noch nicht auf Deutsch vorliegen!