Endlich mal Türkei: DAS TAGEBUCH DER UNRUHE

Auch in der Türkei gibt es Comics. Heißt es immer. Wir haben hier allerdings noch nie einen zu sehen bekommen. Jetzt ist einer prominent bei Carlsen veröffentlicht worden und erfährt sofort die Weihen der Hochkulturrezension von „Tagesspiegel“ bis „Frankfurter Rundschau“, von SWR und RBB bis Deutschlandfunk.
DAS TAGEBUCH DER UNRUHE, TEIL1 ist ein waschechter Comic, sogar eine Graphic Novel.

Autor und Zeichner ist Ersin Karabulut, der in diesem Werk sein Leben in Istanbul von der Kindheit bis zur Karriere als Karikaturist schildert.

Das ist tatsächlich der erste türkische Comic, der mir in meiner langen Laufbahn als Comicfan begegnet. Was zweierlei bedeutet: Dass wir Deutschen erstens unfassbar wenig Austausch mit türkischer Kultur haben (obwohl wir ja alle Menschen aus diesem Umfeld kennen) – und zweitens Comics oft mit Karikaturen oder satirischen Magazinen gleichgesetzt bzw. verwechselt werden.

Wie auch in TAGEBUCH DER UNRUHE, wo Karabulut nämlich früh klarstellt, worum es geht:

Diese und alle sonstigen Abbildungen: © Ersin Karabulut / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2024

Wir haben ja keine Ahnung

Verzeihen Sie, dass ich auf diesem Punkt herumreite. Aber es scheint mir in der Türkei keine Comicproduktion im Sinne von Serien wie LUCKY LUKE zu geben. Es handelt sich um Kurzcomics in Magazinen, mehr oder weniger satirisch ausgerichtet.
Solche Publikationen haben eine lange Tradition z. B. in Spanien und Frankreich, ein deutscher Vergleich wäre „Titanic“ oder „Eulenspiegel“ – wo sich neben zahllosen Karikaturen auch kurze Comiceinschübe finden.

Wie dem auch sei. Der Autor hat natürlich Comicklassiker aus dem Westen studiert und gestaltet mit seiner illustrierten Biografie nun einen „richtigen“ Comic, mit ständiger Hauptfigur und fortlaufender Handlung.

Ich will nur betonen, dass Karabulut mit seinem Werk in den (westlichen) Kanon der Graphic Novels Eintritt findet. Das mag singulär sein, daher finde ich sein TAGEBUCH DER UNRUHE ein außergewöhnliches Werk.

Bei der Lektüre habe ich mich gefragt, ob der Künstler weiterhin in der Türkei lebt und tätig ist oder womöglich ins comicaffinere Europa exiliert ist. Die Verlagsauskunft platziert ihn weiterhin in Istanbul, wofür er meinen Respekt hat. Karabulut müsste als Oppositioneller gelten und dürfte dafür in Schwierigkeiten kommen. Aber ich greife vor.

Es begann am Bosporus

Karabulut wird in eine Lehrerfamilie hineingeboren, wächst in einem schäbigen Stadtviertel Istanbuls auf und träumt sich zeichnend in eine bessere Welt. Wir befinden uns in den Achtzigerjahren und der Junge schwärmt für die damalige Popkultur.

Sogar so sehr, dass er denkt, alle Menschen müssten so drauf sein. Und auf der vierten Seite des Comics habe ich schon gelacht:

Dieser Dialog der türkischen Muttis ist ein hinreißender Einfall.

In der Schule kommt Karabulut in Berührung mit den erwähnten satirischen Magazinen und verliebt sich in die Idee, auch ein Comiczeichner werden zu wollen!
Denn die haben ihre Freiheit, machen cool ihr Ding, stellen sich dabei noch selbst in den Mittelpunkt – und erobern sogar die Herzen der Frauen:

DAS TAGEBUCH DER UNRUHE ist auf dieser ersten Handlungsebene ein banaler Comic.

Junger Mann will gegen den Widerstand der Eltern Künstler werden, gehorcht ihnen jedoch zunächst und quält sich durch eine berufliche Ausbildung. Zwischenzeitlich setzt er doch sein Zeichenhobby fort, klappert mit Illustrationen und Gags die Redaktionen der Magazine ab.

Schließlich kann er doch auf die Kunsthochschule gehen, lernt sein Handwerk, landet erste Jobs und ist Jahre später tatsächlich an seinem Wunschziel angelangt:

Karabulut wird bald darauf Stammzeichner beim neuen, heißen Blatt „Penguen“ und darf sich als Comicprofi fühlen.
Das alles ist banal und auch ein wenig peinlich, denn der Künstler nutzt seinen Star-Status, um seine wunderbare Freundin zu verlassen und lieber ein Lotterleben mit Groupies zu führen.

Dies wird im TAGEBUCH DER UNRUHE nur angedeutet und nicht explizit gezeigt – man denke im Vergleich daran, wie sich Robert Crumb in solchen Situationen selbst inszenierte.

Nein, der Türke bleibt seriös, und damit kommen wir zur zweiten Handlungsebene, die diesen Comic erst wertvoll und spannend macht:

Atmosphäre der Angst

Denn von Beginn an schwebt über dem Leben in Istanbul die ständige Bedrohung durch den Islamismus. Die Türkei ist immer ein Staat im Spagat zwischen westlicher Säkularisierungstendenz und fundamentalislamischen Beharrungsmustern gewesen.

Die laizistische Familie Karabulut versucht sich rauszuhalten aus den Wirren der Politik, doch erst trifft es den Vater, Kadri, der in den Konflikt zwischen rechts und links gerät:

Solcherart unter Druck gesetzt, gibt Kadri schließlich den Nebenverdienst auf. Zumal sein Freund Ercan, Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts, von der Mafia der Grauen Wölfe exekutiert wird!

DAS TAGEBUCH DER UNRUHE verhandelt an persönlichen Schicksalen sehr anschaulich, wie der Alltag der Türken durch mehr oder minder subtile Schikanen der Obrigkeit oder der Banden erschwert wird.

Da darf man sich an Gestapo-Methoden und SA-Einschüchterungen aus dem Nationalsozialismus erinnert fühlen. Solche widerfahren auch dem Künstlersohn Ersin. Letztlich kommt es zwischen Vater und Sohn zum Zerwürfnis:

Zum Schutz der Familie zieht Ersin endlich von Zuhause aus und stürzt sich am Ende dieses ersten Bandes ganz in sein Künstlerleben im Bohème-Viertel Beyoğlu. Vorerst will er sich auch als politischer Künstler behaupten, ermuntert durch seine Fans.

Hier endet DAS TAGEBUCH DER UNRUHE (Teil 1) und ich bin sehr neugierig, wie es weitergehen wird. Denn jetzt sind die Verhältnisse klargezurrt, die Figuren aufgestellt, das Drama eingeläutet.
Und es dürfte spannend werden. Denn jetzt sind wir in der Ära Erdoğan, die uns ja einigermaßen vertraut ist.

Die Sache mit Erdoğan

Diese Graphic Novel ist nebenher auch ein Crashkurs in türkischer Geschichte, angefangen beim Terror der faschistischen Grauen Wölfe über den Militärputsch 1980 und den Auftritt eines gewissen Recep Tayyip Erdoğan, der 1993 zum neuen Bürgermeister Istanbuls und zur Lichtgestalt für viele wird – den jungen Ersin eingeschlossen:

Parallel zu Karabuluts Karriere, eilt auch Erdoğan mit seiner neuen Partei AKP von Erfolg zu Erfolg. 2002 holt er bei den allgemeinen Wahlen einen Erdrutschsieg und richtet das Land auf den Islam aus.

Der neue Staatspräsident hält kernige Reden und droht den Medien. Die avantgardistische Redaktion bei „Penguen“ aber lässt nicht locker und macht sich mit Elan über Erdoğan lustig.

Als der das Magazin verklagt, weil ihm die Karikaturen über ihn nicht mehr passen, gerät Ersin in den moralischen Zwiespalt, der oben schon angeklungen ist: Wird der Zeichner sich durchlavieren und bissige Darstellungen unterlassen?
Wird er seinen Comicstrip über den  türkischen Alltag pausieren lassen? Oder überwindet er sein Dasein als Fanboy und entwickelt eine Haltung, mit der er Stellung bezieht?

Solche essenziellen Fragen, mit denen wir alle konfrontiert sein können in diesem oder jenen Kontext, machen DAS TAGEBUCH DER UNRUHE zu einer „Spannungslektüre“ tagespolitischer Aktualität.

Ich kann Teil 2 kaum erwarten. Dem Carlsen-Verlag ist mit Karabulut ein Coup gelungen. Unbedingte Empfehlung, hier auch noch ein Eindruck im Blättervideo: