Das jüngste Werk des französischen Comickünstlers Blutch alias Chrstian Hincker ist die neue LUCKY-LUKE-Hommage DIE UNGEZÄHMTEN und scheint ein Erfolg zu werden.
Sein Werk davor war die eigene Graphic Novel LA MER À BOIRE (2022) und hat keine Sau interessiert. LUCKY LUKE ist ein Selbstläufer, LA MER À BOIRE ist nicht mal auf Deutsch erschienen.
Das französische Fachmagazin „dBD“ moserte über DIE UNGEZÄHMTEN: „Genug! Warum muss ein Blutch auf die Comics seiner Jugend zurückfallen? Er hat das Talent, uns neue Geschichten zu präsentieren.“
Tjaaaa … entgegne ich, vielleicht hat er mal Geld verdienen wollen?!
Ich will im Folgenden beide Comics vorstellen und eine Lanze für Blutch brechen. Übrigens ein Künstler, der mich auf eigenartige Weise fasziniert, aber auch irritiert. Meine bisherigen Begegnungen mit dem Zeichner habe ich HIER bereits zu Papier gebracht; nun ergänze ich die Betrachtungen um sein Doppel aus Kunst und Kommerz.
LUCKY LUKE: DIE UNGEZÄHMTEN habe ich sehr genossen und bin erstaunt, mit welcher Leichtigkeit Blutch eine simple, aber höchst vergnügliche Handlung auf exakt getimten 44 Albenseiten vor uns ausbreitet.
Lucky Luke wird in dieser Geschichte zum Getriebenen, der mehrfach durch den Süden der USA hin und her hetzen muss, um eine dysfunktionale Familie zusammenzubringen.
Die Kinder Rufus, Rose und Casper sind von ihren Eltern zurückgelassen worden – und Luke kommt in die Verlegenheit, sich um sie kümmern zu müssen.
Rufus ist ein kleinkrimineller Schrat, Casper ein begriffsstutziger Döskopp und Rose die Frechheit in Person. Wie diese Bälger die gesamte Kleinstadt zermürben, ist äußerst amüsant (und übrigens von Übersetzer Klaus Jöken wunderbar eingedeutscht).
Luke begibt sich auf die Spuren der Eltern und kann nach und nach ermitteln, dass diese auf der Flucht vor einer Gangsterbande sind, deren Beute sie sich unter den Nagel gerissen haben.
Kein Wort mehr zur weiteren Handlung. Ich find’s brillant, wie Blutch die Figuren in Stellung bringt, wie er den lakonischen Esprit von Luke und Jolly Jumper bedient, wie er Nebenfiguren gleich gruppenweise charakterisiert: rüde Banditen, schrullige Damen und hasenfüßige Sheriffs.
Jetzt zeige ich noch die beiden lustigsten Seiten, auf der einiges kulminiert. Wissen müssen Sie dazu Folgendes: Luke hat Rose und Casper bei den Saloon-Tänzerinnen untergebracht, was den Zorn des örtlichen Frauenverbands erregt.
Als er den Damen beweisen will, dass sie dort gut aufgehoben sind, kommt es zur komischen Katastrophe: Casper kriecht über die Theke und Rose wirft sich voll in die Rolle der Tänzerin!
Im Schlussbild sehen wir das Trio perfekt ausgestellt: Der Junge schreit nach Bier, das Mädchen ist unartig, Luke droht von der Spannung zerrissen zu werden. Im Vordergrund kullert kein Tumbleweed-Strauch, sondern ein Spucknapf aus dem Saloon vorüber, im Hintergrund formiert sich die Phalanx der erzürnten Bürger vor nächtlicher Kulisse!
Und schauen Sie noch mal auf das Bild der Saloonschlägerei. Dieser Blutch ist der ungekrönte König der Massenszenen.
Die perfekte Nutzung des gesamten Panels, die überbordende Dynamik in jeder Figur, der absurde „finishing touch“ mit den zwei fliegenden Figuren im oberen Bilddrittel.
Schöner hab ich das noch nie gesehen! Und genau in diesen Bildern liegt die Magie des Christian Hincker: Ich bin hingerissen, aber gleichzeitig verstört.
Wie ist das möglich? Niemand anders bekommt diese Wirkung auf mich hin. Nicht in dieser fluiden, dennoch präzisen Ausgestaltung der Figuren.
(Eine Fußnote: Der Künstler, der Blutch am nächsten kommt, ist für mich Christophe Blain. Interessant, dass beide im Westerngenre arbeiten! Blain mit seiner eigenen Serie GUS sowie einer BLUEBERRY-Adaption, deren Fortsetzung schon fünf Jahre auf sich warten lässt.)
Wir kommen auf Westernszenen zurück in LA MER À BOIRE, über das ich nun noch ausführlicher spreche.
Ich will sein Album zeigen!
Das ist wahrhaftig der komplette Gegenpol zu LUCKY LUKE. Diese Graphic Novel ist kryptisch, sprunghaft und unverständlich. Grafische Lyrik, wenn man so will.
Kaum sagbar ist bereits, wovon der Comic handelt. Ein Mann namens Person B und eine Frau namens Person A haben ein Stelldichein auf einem Brüsseler Hotelzimmer verabredet. Doch beider Anreise gestaltet sich problematisch, denn das ist nicht Brüssel, wo B (der Mann mit dem Hut) ankommt.
Auf dem Fußweg zum fernab auf einer Bergspitze gelegenen Hotel trifft B einen Eremiten, der ihn vor Sentimentalitäten warnt und ihn mit einer Pistole ausstattet.
An der Rezeption erfährt B, dass A noch nicht eingetroffen ist. A reist unter ihrem Codenamen „Incartade“ (französisch für „die Torheit“), B gibt sich den Namen „Espoir-du-soir“ („Hoffnung des Abends“).
Beide Namen verweisen (psychologisch interpretiert) auf die Erwartungshaltungen der Figuren: Der Mann spekuliert auf ein Liebesabenteuer, die Frau fragt sich, ob es klug war, sich auf das Treffen einzulassen.
Dann taucht ein Hotelpage auf und schickt B auf die Rückseite des Hotels, wo er einen Garten betritt und dort von einer Horde Western-Indianer überwältigt wird.
Hier zeige ich die versprochene Korrespondenz zu DIE UNGEZÄHTEN, eine weitere (wie ich finde wundervolle) Massenszene, die auch Komik transportiert:
B landet am Marterpfahl und diskutiert mit dem Häuptling seine Freilassung. Er müsse zum Rendezvous, weil er schon lange keine Liebe mehr gemacht habe. Doch der Häuptling lässt ihn stehen und flößt ihm einen Trank ein.
Die Darstellung der „Indianer“ kann man verwerflich finden; ich verstehe es als typisch männliche Bildchiffre für Gefahr und Abenteuer. Blutch ist Jahrgang 1967, in seiner Denke ist der klassische Klischee-Western die Allegorie für auf sich gestellte Männer in feindlicher Umgebung.
Die Terra incognita ist (wieder interpretiert) die Frau oder das Sich-Einlassen auf eine Partnerbeziehung.
Und Schnitt auf Incartade, unsere Frau A. A ist ein burschikoser Typ mit Kurzhaarfrisur und „Clowns-Schuhen“ – so tituliert von den drei Frauen, mit denen sie gemeinsam in einem Taxi vor dem Hotel vorfährt.
Die Zwillinge mit den Afrofrisuren und die Dame mit dem Wallehaar sprechen ebenfalls Warnungen vor dem Rendezvous aus. Künstler (ein solcher sei B nämlich) seien die schlimmsten Kerle, er werde A nur ausnutzen und ihr Leid bereiten.
Die Szene wird von Seite zu Seite unrealistischer, denn A schrumpft immer mehr auf ihrem Sitz zusammen, bis sie aus dem Wagen springt.
An der Rezeption erfährt sie, dass B noch nicht eingetroffen sei und wird von dem uns bereits bekannten Hotelpagen aufs Zimmer geführt. Der gibt ihr den Tipp, dem Hochseil zu folgen, an dessen Ende befinde sich der gesuchte Herr B.
Tatsächlich spaziert A nun aus dem Fenster und balanciert über mehrere Seiten (über ein surreales Alpenkriegs-Tableau hinweg) auf dem roten Faden der Erzählung (die eigentlich keine mehr ist) zu B an seinem Marterpfahl.
Ich zeige den Aufstieg und den Abstieg, den ich sehr lustig finde („Ich hab mich verspätet!“ – „Ich auch.“)
Achten Sie im letzten Bild mal drauf, wo der rote Faden festgemacht ist!
Waren das „die Indianer“? Und wie haben sie es geschafft, den Faden bis ins Hotel zu spannen?
Wir erkennen spätestens jetzt, dass LA MER À BOIRE auf jegliche Handlungslogik pfeift und uns vielmehr assoziative Gedankenzüge präsentiert.
Was dann noch geschieht, ist vollends wirr und absolut offen für individuelle Interpretationen. Eine Nacht im Hotel wird angedeutet, dann springen wir kurz zurück in die Jugend von Figur A, dann voraus in eine gemeinsame Zukunft mit Künstler B.
(Schon am Marterpfahl war die Rede von zwei Zeitebenen, eine Gegenwart des Jahres 2022 und ein von B angenommenes Jahr 2004. Verstanden hab ich das nicht!)
Chronologisch sind wir woanders, denn A hat sich gewandelt und hat nun lange Haare und pflegt ein üppiges Treibhaus, während B faul auf dem Sofa herumliegt (Künstler).
Er scheint von einer Hochzeit auf einem Flughafen zu fantasieren, sie von einem Ei, das sie verloren hat – und träumt von einer Überwältigung durch eine Gruppe von Indios.
Mit diesem Ende parallelisiert sich die Gedankenwelt von A und B. Sind sie sich in Jahren der Partnerschaft ähnlich geworden? Haben sich ihre Fantasien einander angeglichen?
LA MER À BOIRE endet damit, dass A dem zusammengebrochenen B zu trinken gibt und ihm die Frage stellt: „Wer von uns beiden träumt hier jetzt?“
Rendezvous mit Hindernissen
Dieser Band wird garantiert von allen, die ihn lesen, anders ausgelegt werden.
In meinen Augen gelingt es Blutch, die französische Thematik von „Chercher la femme“ und erotischem Melodram in neuer Gestalt aufzubereiten – als skurrile Traumerzählung!
Ich kann diesen Comic nicht für bare Münze nehmen. Schon zu Beginn (Brüssel!) markiert Blutch sein Werk als nicht in der Realität angesiedelt. Für mich besteht LA MER À BOIRE aus Fragmenten, wie sie in Träumen arrangiert sind:
Unvermittelt auftauchendes Personal, abrupt wechselnde Szenerie, Zeit- und Ortssprünge, motivische Schleifen, das Ganze koloriert in willkürlich anmutenden Farben.
Dazu passend des Zeichners halbabstrakter Strich, der mich stellenweise an Bastien Vivès erinnert. Beide beherrschen die Meisterschaft der flüchtigen, dennoch ausdruckskräftigen Form.
Auch ein Indiz für die Möglichkeit/ Unmöglichkeit von Partnerschaften, das thematisierte Paradox der Liebe, ist der Titel: „Das Meer zu trinken“ ist eine monströse Aufgabe, von der man besser die Finger lässt.
Doch das ist nur die halbe Redewendung. In Frankreich bezeichnet „ce n’est pas la mer à boire“ etwas wie „halb so schlimm“. Meint: Das Meer muss nicht getrunken werden.
L’amour ist daher immer Auslegungssache. Man kann darin ertrinken oder sich auf ihr treiben lassen.
Capisce? Mir gefällt der kunstvolle Blutch (diesmal jedenfalls), weil er sich komplett gehen lässt und es wagt, uns unkonventionelle Flausen und Fantastereien vorzusetzen.
Geld macht er damit nicht!