Schräger Vogel Jugend: DER KLEINE CHRISTIAN

Ich habe so meine Probleme mit dem Elsässer Comickünstler Christian Hincker alias Blutch.

Gelesen habe ich WO IST KIKI? (bei Salleck) und EIN LETZTES WORT ZUM KINO (bei Reprodukt) – in KIKI läuft sich die Handlung fest (nicht seine Schuld, er war nicht der Autor), in KINO präsentiert er uns private Assoziationen zu Filmen, die mir äußerst unzugänglich waren (voll seine Schuld).

Mit DER KLEINE CHRISTIAN zeigt sich Blutch zwar wiederum als von Popkultur besessener Mensch, doch diesmal exemplifiziert er seine Fantasien an seinem jugendlichen Alter Ego: Der kleine Christian ist auf der Grundschule, verschlingt die Filme und Comics der 1970er-Jahre und reflektiert das dort „Gelernte“ mit sich und seinen Freunden.

Das ist mal banal, mal schräg, mal peinlich, aber auch manchmal wunderbar skurril und auf den Punkt gebracht. Mein Hauptvorwurf an Blutch lautet, dass er nicht konsistent sein kann. Er fluktuiert in seiner Qualität, das ist schade und das ist frustrierend.

Die 20 Episoden aus DER KLEINE CHRISTIAN beginnen mit Erinnerungen an Krimis, Western und Comiclektüre (MICKY MAUS, PIF GADGET), springen dann zu Lehrern, Mädchen, Nachbarn und ergießen sich in Betrachtungen zu Courage und „Die Frau“.

Nur vier Panels, die mich jedoch faszinieren: die plakative Ausschilderung eines Planeten; das völlig verzerrte, aber superdynamisch daherbrausende Auto; die Karikatur von Farrah Fawcett, die sie tatsächlich erkenntlich macht (die Frau war nur durch ihre Frisur definiert, c’est vrai!); der Dialog vor dem Fernseher mit seinem abgespalteten Cowboy-Ich, das von Mädchen nichts wissen will: Christian dementiert die Anklage zu heftig.

Und Blutch zeigt sein ganzes satirisches Können, indem er ein herrlich durchgesessenes Möbel unter die Hintern der Helden zeichnet sowie verstreutes Spielzeug vor dem TV-Gerät.

Seine gekonnt unperfekten Striche (das Auto!) konstrastieren mit filigranen Inszenierungen (der Sessel!) und ergeben einen paradoxen, aber stimmigen Gesamteindruck.
Auch darin ist Blutch alles andere als konsistent. Im visuellen Bereich kann das funktionieren, wenn es Ihren Geschmack trifft. Auf der inhaltlich-textlichen Ebene ist es tödlich.

Will sagen: Zwischen seine gelungenen, meisterlich komprimierten Miniaturen schleichen sich „Durststrecken“, auf denen zu wenig erzählt wird. Hier besteigt Christian ein Flugzeug, um von Straßburg zu seiner Freundin Catie an den Atlantik zu fliegen.
Diese beiden Seiten zerdehnen die Handlung, selbst grafisch finde ich Blutch hier nicht mehr organisch, sondern in der Komposition ratlos und chaotisch:

Auf der nächsten Seite wird sogar noch umgestiegen, woraufhin sich die Flugangst fortsetzt. Das ist dramaturgisch komplett sinnlos, aber genau da fehlt es Blutch an Fingerspitzengefühl.

Ich möchte jedoch betonen, dass mir DER KLEINE CHRISTIAN im Ganzen gut gefällt. Daumen hoch für Blutch, jawohl, ich kann es nur nicht unterlassen, an seiner Erzählweise herumzukritteln.
Tu ich aus rein pädagogischen Gründen, da ich Sie für Comics sensibilisieren will und die atemberaubende Magie aus Text und Bild in diesem Fall etwas konkreter auseinanderdividieren möchte.

Fortsetzung folgt

In der zweiten Hälfte des Buches erleben wir Christian auf der Mittelschule, diesen Teil hat Blutch mit der Schmuckfarbe Rot und einige Jahre später gestaltet. Nun geht es um eine Rahmenhandlung zur Ferienliebe Catie, für die der pubertäre Junge entbrennt und sich in Gedanken eine Zukunft mit ihr ausmalt.
Zu Hilfe kommen Christian hier wiederum imaginierte Filmfiguren (deren Rat er sich holt) und Comicreferenzen (die ihn in bedrohlichen Situationen wie seine Helden zeigen).

Hier macht sich Christian auf den Weg zu seinem Schwarm, Catie Borie. Er nimmt seinen Mut zusammen und stellt sich vor, er sei Tim, der mit Struppi die Wüste durchquert. Leider wird er dabei von seinen Eltern aufgehalten.

Ein letztes Wort zum Künstler

Blutch reißt mich hin und her zwischen Staunen, Freude und Befremden. So ist es halt zwischen uns.

Ich verehre seinen Strich, der übrigens tüchtig variieren kann. Mal liefert er tusche-strotzende Skizzen ab, mal zieht es ihn zu graziler Line-Art. Wie in der folgenden Sequenz, die das Kennenlernen von Catie Borie als Christians Südsee-Fantasie vorstellt:

Die zwei Gesichter des Monsieur Hincker und Dr. Blutch.

Naja, wie gesagt: Blutch ist in seiner Verstiegenheit problematisch, auf Deutsch ist auch nur eine Auswahl seiner Werke erschienen, noch dazu verteilt auf drei Verlage.
(Link zur französischen Datenbank bdtheque, die seine Comics in dieser Darstellung nach Beliebtheit sortiert.)

Interessanter Künstler, keine Frage, aber einer, bei dem ich immer Abstriche machen muss. Selbst bei DER KLEINE CHRISTIAN, offenbar sein populärster, weil zugänglichster Comic.

Dieses Büchlein ist ein wundervoller Pubertätscomic mit satirischem und selbstironischem Touch. Blutch entführt uns in die Denkweise des letzten Jahrhunderts. Das ist für alle Jungs, die dabei waren, garantiert lustig. Ich mag nicht beurteilen, ob Frauen dieser Stoff gefällt.

Es ist speziell, es macht mir Spaß. (Ich ringe nur auf einer Metaebene mit diesen Brüchen in seiner Dramaturgie und seiner Stilkonsistenz – das muss nicht Ihr Problem sein.)

Link zur Verlagsseite bei Reprodukt, wo Sie auch eine Leseprobe einsehen können.
Wie üblich, blättere ich noch hinein und verweise auf zwei hübsche Szenen: