Neues aus der Brubaker-Phillips-Fabrik: NIGHT FEVER

Das Kreativteam Ed Brubaker (Text) und Sean Phillips (Zeichnungen) ist seit etlichen Jahren eine Bank im Comicgeschäft. Die beiden produzieren solide Stoffe am Fließband, hauptsächlich bekannt durch ihre Krimis unter dem Sammeltitel CRIMINAL, durch Thrillerserien wie KILL OR BE KILLED, schicke Graphic Novels wie FADE OUT oder FATALE – und in letzter Zeit durch ihre leger-lakonische Comicbandreihe RECKLESS.

Dazwischen finden sie immer noch Zeit für interessante One-Shots, zum Beispiel den auch hier präsentierten Meta-Groschenroman PULP von 2021.

Ich hab mir in der RECKLESS-Pause, die sich Brubaker-Phillips verordnet haben, ihren neuen One-Shot NIGHT FEVER gegönnt – und möchte heute darüber reden, weshalb den beiden auch nicht jeder Stoff gelingt!

Schnell meine Lektüreerfahrung transparent gemacht: Ihren Ausflug ins Horrorgenre mit FATALE mag ich sehr (und muss ich mal wieder lesen), von CRIMINAL hab ich hier und da mal was gelesen, alles sehr ordentlich, aber Krimi ist selten mein Ding.
KILL OR BE KILLED hab ich ausgelassen, das wurde mir zu viel; die RECKLESS-Reihe ist mein Liebling.

Bislang fünf chronologisch aufeinanderfolgende „Fälle“, in denen der Privatmann Ethan Reckless (der heißt programmatisch so wie die Vokabel: „waghalsig“) Leuten mit Problemen aus der Patsche hilft. Unterstützt wird er von seiner Assistentin Anna, beide residieren in einem ausrangierten Kinopalast in Los Angeles.
Vermeintlich harmlose Ermittlungen verkomplizieren sich zu üblen Verbrechen, die für eine Menge Suspense sorgen.
Der Clou an RECKLESS ist eine unglaublich lockere, lineare Erzählweise, die einen durch diese Handlungen fliegen und dabei keine Fragezeichen aufkommen lässt.

Das sind keine Krimis, sondern Dramen, die sich ungeheuer real anfühlen, weil wir es mit normalen Menschen und ihren alltäglichen Problemen zu tun haben. Doch es ist absolut erstaunlich, was Brubaker-Phillips draus spinnen – übrigens ein Comic, der uns mit seinen Figuren mitfiebern und mitleiden lässt. Schreit nach einer Serien-Verfilmung!

Jetzt aber der Hinweis auf die dunkle Seite von Brubaker, den ich im Verdacht habe, manchmal auch einen halbgaren Stoff auf uns loszulassen. Damit kommen wir gleich zu NIGHT FEVER, zuvor noch eine Beschwerde über FADE OUT:

Hinreißend schöner Noir-Krimi über einen unglücklichen Drehbuchautoren im Hollywood der 1940er-Jahre, der in den Tod einer Schauspielerin verwickelt wird. Den hab ich zweimal gelesen und zweimal nicht verstanden („Häh, wer zum Teufel war denn jetzt der Täter?“).
Das hat mich sehr frustriert.
(Und wo ich gerade auf den englischen Wikipedia-Eintrag schaue und unter „Plot“ die Lösung lese, denke ich schon wieder: „Häh?! Hab ich anders gelesen.“)

Also: Ich behaupte frech, Autor Brubaker kriegt nicht immer die Kurve! So auch in NIGHT FEVER.

Ich nehm das Fragezeichen, bitte!

Wird eine Lektüre dadurch versauert, dass zwischendurch im Kopf des Lesers Fragezeichen auftauchen (oder am Ende Fragen offenbleiben), dann ist das in meinen Augen Indiz dafür, dass nicht sauber gestrickt wurde – sondern irgendwas zusammengestoppelt wird.

Doch schauen wir endlich hinein: Der Buchrechtehändler Jonathan Webb fliegt zu einer Literaturmesse in einer französischen Großstadt. Er ist ein Mitte Vierzig, Frau und Kinder daheim, ein fleißiger Angestellter seines Verlags, der diesen Job schon ewig macht und nur noch stumpfe Routine empfindet.

Neidisch schaut er auf den mitgereisten Autoren Dennis Pickett, der sich im Erfolg seines neuen Buchs „And Then the Fire“ sonnt. Im Werk wird eine Traumpassage beschrieben, eine archaische Fantasie vom Urzeitmann als wildem, aber selbstbestimmtem Jäger.

Jonathan glaubt, denselben Traum gehabt zu haben – wir aber ahnen, das ist nur eine Allegorie auf die Entfremdung des modernen Menschen von seinen ursprünglichen Trieben. So platt, so deutlich geht es weiter.

Jonathan funktioniert nicht wie gewohnt, sondern verschludert Termine und lässt sich nachts durch die Stadt treiben. Nächster Dramaturgie-Holzhammer: Er gerät in einen Sadomaso-Kellerclub, wo reiche Menschen ihre Lüste ausleben.
Unser Bücherwurm stiehlt sich eine fremde Identität, indem er sich als Name von der Gästeliste ausgibt. Als „Griffin“ gewinnt er Geld beim Pokern und macht die Bekanntschaft des geheimnisvollen „Rainer“.
Dieser scheint ein Abenteuerleben als Agent zu führen und bezieht Jon/Griffin in seine Missionen ein!

Rainer durchschaut Jons Wünsche und triggert ihn, seine wilde und triebhafte Natur auszuleben.

Ich finde das wenig originell, auch wenn es später einen schönen Twist in der Griffin-Identität gibt. Das ist im Grunde „Fight Club“ mit einem Touch von „Eyes Wide Shut“ und w…w…weiß nicht … Highsmith-Krimis.

Zwischendurch frage ich mich, ob das alles nur eine Projektion des träumenden Jon sein könnte. Denn es wird immer surrealer: Nach einer Prügelei mit Kerlen, die ihn ausrauben wollen, sowie einer Verfolgungsjagd mit der Polizei stranden Rainer und Jon in einem Schloss, wo sich eine „Illuminati“-High Society trifft, womöglich die wahren Geschicke der Welt leitet und offenbar in Kontakt zu Außerirdischen steht.
Whhaaaaat?! Es sei erwähnt, dass Drogen im Spiel sind.

Doch zunächst ein bisschen Action! Rainer und Jon hängen (in einer Citroën Déesse!) die Polizei ab. Ce n’est-pas possible, n’est-ce pas?

Zurück zum Fantastischen, zum noch Fantastischerem: Drogen.
Jon kippt einen gespikten Drink, taucht in schwarze Leere ab, hat hitzige Visionen und Sex mit einer Alien-Frau, später scheint er noch seinen Konkurrenten Dennis im Hotel zu  attackieren (der Schriftsteller mit dem Buch, das plumpe Träume beinhaltet, Sie erinnern sich?). Jon ist mittlerweile davon besessen, Dennis ans Leder zu wollen, weil der seinen Traum gestohlen habe!

Das ist dramaturgisch nun aber echt die Notbremse. Wenn nichts mehr geht, dann geht ein Drogenrausch, der alles verschleiert. Der alles möglich macht. Der seinen Konsumenten im Anschluss alles wieder vergessen lässt, was geschehen ist.
Der ein einziges großes Fragezeichen in den Raum stellt: „What the fuck just happened, häh?!“

Tja, und das ist es leider mit NIGHT FEVER: Ein amoklaufender Normalo auf dem Trip. (Trip nach Frankreich, Trip auf LSD, Trip zu seinen Neanderthal-Wurzeln.)
Ah, das ist dünn, Leute. Das ist Psychokrimi-Patchwork mit höchst austauschbaren Inhalten und Figuren.

Jonathan Webb wird mir nicht lebendig, Rainer ist unglaubwürdiges Abziehbild des Tatmenschen. Gott, man kann es sich zurechtlegen, natürlich. Yin und Yang, Engelchen und Teufelchen, Fantasie und Realität ringen um des Beamten Seele – und am Ende ist Frankreich immer eine Reise wert. Höhö.

Autor Brubaker sagt im Nachwort, die Grundidee zu NIGHT FEVER sei ihm über zehn Jahre durch den Kopf gegangen: „Ein Mann kann nicht schlafen, geht in die Nacht hinaus und schlüpft in eine andere Identität, jemand, der er gerne sein möchte.“
Dann habe Zeichenpartner Phillips um eine Geschichte gebeten, die in Europa spiele. Ihm kam die Figur wieder in den Sinn plus dem Zündfunken, diesen Mann auf Geschäftsreise nach Frankreich zu schicken, wo ihm dann (auf fremdem Terrain) Dinge zustoßen.
Die Puzzlestücke der Handlung sortierten sich nach und nach, manche sogar beim Schreiben.“

Ja, das merkt man leider auch. So offenherzig ist Brubaker immerhin mit uns, wobei ich denke: Ach, hättstes doch noch zehn Jahre liegen lassen. Vielleicht hätte es sich in deinem Gehirn rundgelutscht!
(Immerhin bringt der Comic mich in Wallung, meinen Neanderthaler-Trieb nach einem Verriss auszuleben. Die Jagd mit Worten.)

So kommt mir NIGHT FEVER leider wie ein unnötiger Schnellschuss vor. Das kann am Schreibfließband passieren. Aber macht doch mal Pause, Jungs!

Ich bin mir nicht sicher, ob der Band auf Deutsch erscheinen wird (wie überhaupt wenig von Brubaker-Phillips übersetzt wurde). Erstaunlicherweise sind die RECKLESS-Bücher nie erschienen, die letzte Lizenz lag mit KILL OR BE KILLED bei Splitter. Hmm.

Verzeihung, wenn ich mich wiederhole, aber wer des Englischen mächtig ist: Schnappt euch die RECKLESS-Bände! Für mich ein Lieblingscomic und ein Zuckerstück der Neunten Kunst.