RITTER DES VERLORENEN LANDES – mehr Horror als Fantasy

Ja, Sie dürfen sich wundern: Ich präsentiere einen Fantasycomic von Splitter! Schon ein paar Jährchen alt, aber zeitlos in seiner Verwendung dramatischer Kunstgriffe und sehenswert in seiner grafischen Ausgestaltung.

Das Genre Fantasy ist mir komplett egal, ich halte es für billig und beliebig, noch dazu irrelevant und aussagelos – angefangen bei Klassikern wie dem „Herr der Ringe“ über Sword-and-Sorcery-Ausprägungen wie „Conan“ oder „Fafhrd und der Graue Mausling“ bis hin zu moderneren Varianten wie „Harry Potter“ oder Terry Pratchetts „Scheibenwelt“-Büchern. (Ganz zu schweigen von den Hunderten Klonen dieser Werke.)

Für mich ist Fantasy wirklich reiner Eskapismus, der nichts mit unserem Alltag zu tun hat und bestenfalls gut ist für rührseligen Schmalz, hirnlose Action oder unverfängliche Lacher.

Ich überspitze, ja. Natürlich haben die bekannten Verfilmungen große Momente, aber dafür brauche ich das Genre nicht. Das Umfeld mit Kriegern, Monstern, Dynastien (gebadet in Pathos) befremdet mich. Ich greife nicht danach, schon gar nicht in Comicform.
Zu nennen sind hier ELFQUEST, THORGAL, EL MERCENARIO, SLÁINE, LANFEUST VON TROY, STORM, ELRIC, BIRTHRIGHT, ORK-SAGA, SEVEN TO ETERNITY und die vielen jungen Serien, die ich schon nicht mehr kenne.
(Gut, ich lese SAGA, CODA und MONSTRESS, aber das sind schon wieder speziellere Stoffe, weit weg von Mittelalter-/ Vorzeit-Settings mit Rittern, Drachen, Schwertern und holden Damen.)

Hier allerdings die Ausnahme: Die RITTER DES VERLORENEN LANDES bersten vor allen Klischees und sind die vierbändige Spin-off-Reihe zu DAS VERLORENE LAND, einer (ebenfalls vierteiligen) älteren Serie, getextet von Jean Dufaux und gezeichnet von THORGAL-Künstler Grzegorz Rosinski.

Die hab ich mal gelesen und fand sie typisch für das Genre, nämlich verworren, langweilig, austauschbar und vergessenswert.
Vielleicht liegt es auch an Philippe Delaby, dem „neuen“ Zeichner, dass ich vom hier vorgestellten Sequel so geflasht bin: Denn Delaby macht vom Start weg Alarm und zerrt uns mit seinem Beinahe-Fotorealismus in diese Welt hinein.

Sill Valt, ein „Ritter der Vergebung“, untersucht den Fundort einer Leiche. Am Ufer eines Sees umklammert eine fette und fiese Wasserschlange ihr Opfer. Sill Valt kann das Viech unschädlich machen, ehe es seinen Novizen Eirell angreifen kann.

Diese Ritter der Vergebung sind ein Orden von kriegerischen Exorzisten, die auf der Suche nach Dämonen und Hexen (sogenannten „Morrigans“) herumstreifen. Sie folgen Spuren und Hinweisen – und beschwören zur Not auch mal einen Informanten aus dem Höllenreich: Der Kryptos ist ein zu pfiffigem Geplauder aufgelegtes Teufelchen:

Sill Valt, der Exorzist mit Berufserfahrung, ist die Leitfigur der Serie. Um seine Gunst und Nachfolge kämpfen Eirell und Seamus, seine beiden Ritter-Azubis. Beide brennen auf Abenteuer und stehen in Konkurrenz zueinander. Als sich Eirell durch Seamus zurückgesetzt fühlt, wechselt er auf die „dunkle Seite der Macht“ und stellt sich in den Dienst des Bösen.

Er befreit die Mornoir, eine mächtige Morrigan, aus ihrem Kerker. Hier sehen wir sie in zombieähnlichem Zustand, um den Tisch herum stehen: Links Eirell, rechts ein verbündeter Burgherr, in der Mitte (der Kerl in der schwarzen Rüstung) der „Guinea-Lord“.

Dieser Guinea-Lord ist sozusagen die Darth-Vader-Figur der RITTER DES VERLORENEN LANDES, der Handlanger des Bösen. Die Mornoir erinnert in dieser Szene vielleicht nicht von ungefähr an den „Star Wars“-Emperor. Hmmmm!

Mich beschleicht das Gefühl, Dufaux und Delaby pflanzen Assoziationen in unser Unterbewusstsein. Nice try.
Der Guinea-Lord ist trotz des irgendwie albernen Namens aber richtig schön böse und unbesiegbar isser auch! Hier macht er kurzerhand einen Schlangendämon zur Schnecke.

Im Folgenden ringen Sill Valt und Seamus mit Eirell und dem Guinea-Lord um die Vorherrschaft über diese Fantasywelt. Handlungstreibendes Element ist die Suche nach einer formwandelnden, konvertierten Morrigan: Die „Fee Sanctus“ kann die Schlacht zum Guten oder Schlechten wenden!

In folgender Sequenz scheint die Sache schon entschieden, denn eine Verräterin überbringt dem Guinea-Lord den Kopf der Gesuchten. Eine Szene, die alles bietet, was dazugehört: Knorrige Bäume, faltige Visagen, wallende Gewänder, blutige Beutel, triefende Schwerter und einen Abgang in lichte Nebelschwaden hinein!

So viel zur Handlung, der Rest sei nicht verraten. Aber – pssst! – die Fee Sanctus lebt noch!

Schwerterschwingerei

Ich denke, die Bildbeispiele sprechen für sich. Diese Serie ist eine Augenweide und versteht sich darauf, die bestmögliche illustrative Inszenierung zu wählen.
Klischee stapelt sich auf Klischee, ich erwähnte es bereits, aber wenn Fantasy – dann genau so! Tapfere Recken, hitzköpfige Buben, geheimnisvolle Damen, erschröckliche Monster.

Aber es ist nicht nur die Optik, die mich bei RITTER DES VERLORENEN LANDES am Ball hält. Dufaux‘ Skript ist erfrischend sprunghaft, es kontrastiert wundervolle Schock-Szenen mit zwischenmenschlichen Momenten in feiner Taktung.

Zu meiner Freude hält sich dieser Comic nicht mit Erklärungen auf. Wir werden da kalt hineingeworfen und werden von einer interessanten Szene zur nächsten gescheucht. Überm Ganzen schwebt eine packende Atmosphäre der Ungewissheit. Nirgendwo hab ich geahnt, was jetzt kommt.

Es werden falsche Fährten ausgelegt, es werden Mysterien aufgebaut, es werden Nebenfiguren klug eingeführt und für den Handlungsfortgang clever benutzt. Zum Beispiel die blinde Zauberin Luchorpain, die sich auf die Seite des Guten schlägt und gegen die Morrigans und den Guinea-Lord behilflich ist:

Munkelgemäuer

Ich sprach schon von Atmosphäre, was ich noch betonen möchte. Ich serviere Ihnen die nächste Kette von Adjektiv-Substantiv-Kombinationen: trübe Gewässer, bleierne Himmel, peitschende Blitze, feurige Flammen, lichtdurchflutete Kapellen, schaurige Schädelstätten, zähnefletschende Bluthunde, idyllische Waldlichtungen, dynamische Duelle, tragische Todesfälle – alles ist drin in RITTER DES VERLORENEN LANDES!

Und immer wieder atemberaubende Settings, ich wähle mal die „eingefallene Kapelle“. Seamus trifft dort auf einen irren und zerlumpten Mönch, der Wache schiebt. Der Bau ist eingestürzt, aber im Wasser zeigt sich noch sein intaktes Spiegelbild. Hübsch!

Schreckensfratzen

Hinweisen möchte ich auch noch auf die herrlichen Typen, die Delaby kreiert. Sie sahen den sabbernden Mönch, die faltige Zauberin, die missgestaltete Morrigan und den kecken Dämon. Es treten weiterhin auf: eine reptilische „Mater Obsura“ namens Saavarda, ein Oger-artiges Vieh namens Braghen sowie der grotesk in Leder gewandete Torwächter Perkrok.

Der regelt den Einlass ins Schloss der „Lady mit dem Hermelin“, ihres Zeichens Mutter des Guinea-Lords und Bossgegnerin von Sill Valt. Vor dem Schloss steht ein Spalier von zerlumpten Gestalten und hofft auf Zutritt, obwohl sie längst abgewiesen worden sind.
Die Lady hat ihren Verstand vernebelt, und zwar mit ihrem Sex-Appeal. Feindlich treten diese „Verstoßenen“ dem Neuankömmling gegenüber, da schreitet Perkrok ein und macht den Weg frei für Sill Valt (der in der Tat ins Schlafgemach der Lady geführt werden wird).

Dieses Fetisch-Outfit passt nicht recht ins Konzept, aber transportiert eine unterschwellige Spannung von Erotik und Verderben, die das Finale der RITTER DES VERLORENEN LANDES einleitet.
Man kann bemängeln, dass die „Guten“ in diesem Comic wohlgestaltet sind und die „Bösen“ hässlich aussehen – aber dann gibt es doch eine Ausnahme, die für einen Twist sorgt …

Gut, die Frauenfiguren sind zuckerhübsch und es gibt die obligatorische Sexszene mit einer drallen Dunkelhaarigen, aber ich finde nicht, dass sich Delaby auf Pin-up kapriziert. Darum geht es erfreulicherweise nicht. (Gerade diese klassische Fantasy darf einen Moment der Pikanterie präsentieren; gibt ja auch modernere Stoffe wie NIMONA oder RAT QUEENS, die davon wegsteuern.)

Einen Schuss Humor hab ich auch drin entdeckt. Übrigens im Zusammenhang mit der eben erwähnten Sexszene! Denn als die Lady Sill Valt ihre Gunst gewährt, rasten vor dem Tor die Zurückgewiesenen aus!

Offenbar sind sie telepathisch mit ihrer verehrten Lady verbunden, wie könnten sie es sonst bemerken?! Eindeutig komisch finde ich das Zurschaustellen des „Heulen und Zähneknirschens“ sowie (schöne Übersprunghandlung) das Lecken am Schlosstor. Tolles Detail. Zwei eigentlich unnötige Panels, die nochmal Rückbezug nehmen auf eine Sache, die wir schon gedanklich abgehakt hatten.

(Und gerade eine solche Sequenz kommt mir fast wie eine Parodie auf bierernste Ritterserien wie Hermanns DIE TÜRME VON BOIS-MAURY vor, wo auch andauernd mittelalterliche Elendsgestalten vor Burgtoren lungern, an Burgmauern lauern.)
Leckt euch! Verzeihung.

Game of Grusel

Im Nachhinein fällt mir auf, dass RITTER DES VERLORENEN LANDES viel von „Game of Thrones“ hat, obwohl früher begonnen als die Fernsehserie.  
In beiden Formaten finden wir einen großen Überbau (Background), konkurrierende Fraktionen, viel Gewalt sowie getriebene, zur Identifikation einladende Figuren – von denen nicht alle die Handlung überleben werden.

Kurz: Ich mag diese Serie, die aussieht wie ein Fantasycomic von der Stange, aber in Wahrheit ein origineller Horrorcomic im Fantasy-Setting ist. Das überbordende Artwork spricht für sich, es sei jedoch wiederholt, dass auch das Skript mich mit einigen frischen Ideen und dramaturgischen Wendungen bestens unterhält.
Höhepunkt in jedem Band sind allerdings umwerfend gemalte Schockbilder. Entschuldigung, dass ich das so empfinde, aber schauense mal hier. Ich find’s einfach großartig:

Ich bitte, auf Kamera und Regie zu achten! Jedes Panel setzt seinen Punkt: Schlag an die Türe mit dem Heft eines Schwertes in Nahaufnahme / Beratschlagung der Männer in Halbtotale /  Aufbrechen der Türe und erst das Zeigen der Reaktion – dann der Gegenschnitt auf das Grauen!

RITTER DES VERLORENEN LANDES – mehr Horror als Fantasy. Sonst hätte ich’s auch nicht gelesen, haha!
Die vier Bände sind (obwohl zwölf Jahre alt) weiterhin verlagslieferbar.

Es gibt übrigens ein weiteres Spin-off: HEXEN DES VERLORENEN LANDES.

Das wiederum auf vier Alben projektierte nächste Sequel (es illustriert eine neue Zeichenkraft namens Béatrice Tillier) scheint nach zwei Ausgaben abgebrochen worden zu sein. Halt: Band 3 wird dieser Tage in Frankreich angekündigt!
Da kommt offenbar nur alle paar Jahre ein Band, das dauert also noch …

Bis dahin blättere ich etwas in den magischen Seiten von Philippe Delaby, der übrigens auch den historischen Römer-Comic MURENA gezeichnet hat. Ich finde, im Ritterstoff kann er seinen Hang zum Detail und zum Ornament noch besser ausleben.
Zu meinem Bedauern muss ich noch mitteilen, dass dieser belgische Comickünstler 2014 mit nur 53 Jahren einem Herzinfarkt erlegen ist. Gedenken wir seiner mit dieser Leistung für die Ewigkeit!