Wunderlich: DER HAFEN DER GEHEIMNISSE

Man könnte behaupten, dieser Comic setze auf der TIM UND STRUPPI-Formel auf. Die Zeit, das Setting, die Stimmung, der Look und selbst manche Figuren beschwören klassische Hergé-Stilismen. Ist an allem was dran – und doch ist es ganz eigen.

Zeitlich befinden wir uns in den 1930er-Jahren, und zwar in der französischen Provinz. Darf man die Normandie Provinz nennen? Jedenfalls sind wir nicht im mondänen Paris und auch nicht in Schloss Mühlenhof, sondern im Nobelhotel „Roule Palace“ in der Hafenstadt New Cherbourg:

Diese und alle sonstigen Abbildungen: © Gabus + Reutimann / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022

Wohlgemerkt „New Cherbourg“, nicht Cherbourg, damit kommen wir auf das leicht märchenhafte Setting von HAFEN DER GEHEIMNISSE zu sprechen. Autor Pierre Gabus und Zeichner Romuald Reutimann verfolgen das Konzept einer „Parallelwelt“, wie die Normandie vor 90 Jahren hätte aussehen können. Immer wieder schwelgt Reutimann in historischen Architekturen, die er jedoch „aufgemöbelt“ hat.

Bei „Parallelwelt“ denken Sie bitte nicht an Science Fiction, sondern an einen Comic wie Jacques Tardis ADELE-Serie, wo ebenfalls Historie mit Phantastik verquirlt wird. HAFEN DER GEHEIMNISSE nämlich präsentiert uns eine im Meer lebende Fischmenschen-Rasse, die „Gründler“, die mit dem Land Kontakt aufgenommen hat.

Damit kommen wir zu den zahlreichen Figuren. Hier sehen wir die Chefin des Geheimdienstes, die mit einer verschworenen Anzahl von Agenten die Existenz der Gründler vor der Außenwelt geheim hält.
Denn feindliche Spione streifen durch New Cherbourg und suchen nach Beweisen für eine Kultur im Ozean. Die Gründler nämlich liefern ihren menschlichen Partnern wissenschaftliche Erkenntnisse aus ihrer Tiefseeforschung, die Medizin und Technik revolutionieren könnten.

Im Mittelpunkt des HAFEN DER GEHEIMNISSE steht das Agenten-Zwillingspaar Emil und Émile, die Erinnerungen an Schultze und Schulze wecken (auch in ihrer Tollpatschigkeit). Beide sind wahrscheinlich nur zum Geheimdienst zugelassen worden, weil sie über eine Superkraft verfügen: Mit einem leisen „Pop!“ können sich beide in Sekundenschnelle zu Stein verwandeln (und auch wieder zurück).

Diese sehr merkwürdige und relativ sinnlose Superkraft erweist sich allerdings in solchen Schusswechseln als lebensrettend. Lieber sollten sich Emil und Émile auf ihren Grips verlassen, doch da mangelt es. Also bekommen sie die sportive und clevere Julienne an die Seite gestellt.

Die ist die Tochter von Monsieur Collenot, dem Betreiber und Aufseher der Voliere, des Vogelparks im „Roule Palace“. Dessen Sohn Gustave ist ein Frechdachs, der seine Möwe Claudius auf Raubzüge trainiert.

Julienne/ Gustave teilen sich (wenn man so wollte) die Rolle des Tim; Claudius wäre Struppi.
Ehe Sie fragen: Einen Seebären gibt es auch. Hier heißt er Kommandant Criqueboeuf und befehligt die Tauchfahrten zu den Gründlern. Leider trinkt und flucht er nicht, dafür hat er Prinzipien und tut alles, um seine unterseeischen Freunde zu schützen.

Hier hat Gustave mit Claudius aus einer Schiffskabine Schmuck erbeutet. Der Schreckensschrei der Dame erinnert nicht von ungefähr an Bianca Castafiore im TIM-Album „Die Juwelen der Sängerin“.

Wo geht’s hier zur Handlung, bitte?

In den drei bislang erschienenen Alben (mehr scheinen in Planung) erleben wir die Entfaltung mehrerer Handlungsstränge.
Die Spionin Miss Tuscott (Engländerin?) versucht, mit ihrer Bande zu den Gründlern vorzustoßen, und liefert sich Handgemenge mit den Emiles und Julienne.
Ein geheimnisvoller Kristall wird entdeckt, der besondere Fähigkeiten an den Tag legt (dazu unten mehr).
Im „Hotel Atlantico“ treiben Passfälscher ihren Handel und bringen ausreisewillige Emigranten um ihre Ersparnisse. Fälschlich in Visier unserer Ermittler gerät eine Theatertruppe, die dort gastiert.
Der traditionelle Boxwettkampf zweier Botschaften wird zum Stadtgespräch in New Cherbourg.
Kommandant Criqueboeuf testet einen Tauchroboter, um am Meeresboden besser mit den Gründlern interagieren zu können:

Die Dramaturgie dieser Serie bedient keine straighten Spannungsmuster, sondern erlaubt sich seitenlange Exkurse, die rein für sich stehen: Ein finnisches Pärchen errettet Julienne aus Seenot, Gustave und sein Kumpel Jimmy besichtigen den Hafen, die Gründler ziehen Nachwuchs auf, ein Minister inspiziert den Geheimdienst, die Emigranten bekommen ein Theaterstück vorgeführt, der Boxer John wird vom britischen Botschafter für seinen Kampf gegen den uruguayanischen Meister motiviert und Monsieur Collenot repariert das Dach der Voliere. Wie bitte?!

DER HAFEN DER GEHEIMNISSE nimmt sich Zeit, viel Zeit für seine Figuren und seine Episoden vom Rande. Das kann man träge finden, das kann man charmant finden. Diese Serie macht Ernst damit, uns dieses Zeitgemälde des Provinzlebens auszumalen.

Stellen wir in Rechnung, dass der Comic im Original NEW CHERBOURG STORIES heißt, vermittelt sich das Konzept der Serie besser:
Es handelt sich um Geschichten aus dieser Parallelwelt eines fantastisch angehauchten Cherbourg, angesiedelt in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Diese Stories laufen zum Teil etwas durcheinander und nebeneinander, verweilen eine Zeitlang auf bestimmten Figuren, um dann wieder andere zu verfolgen.

Der Charme dieses Comics liegt für mich in den unaufgeregten Charakterisierungen des Personals. Neben den erwähnten Hauptfiguren tritt in Band 2 die wunderbare Madame Camille Chaffrey auf, eine kauzige alte Dame, die Besucher durch ihr privates Raritätenkabinett führt.
Dabei verhökert sie das eine oder andere Stück, um ihre Rente aufzubessern. Stücke, die sie mitunter im Ramschladen nebenan billig ersteht und mit einer geheimnisvollen Herkunft „auflädt“.

Der Wissenschaftler Lucas de Néhou, der inmitten des Krempels tatsächlich etwas Besonderes entdeckt: Einen außergewöhnlichen Kristall vom Meeresgrund, der (zu einer Linse geschliffen) einen Blick in die Zukunft erlaubt.
Als er damit einen Überfall feindlicher Agenten auf Madame Chaffrey vorhersieht, macht er sich Sorgen und kommt ihr mit dem Kommandanten zu Hilfe.

De Néhou trägt die Bienlein-Rolle (ohne dessen Verwirrtheit) und den grünen Anzug; Madame Chaffrey erweist sich als „wehrlose“, aber schießwütige Dame und der Kommandant verhört einen der Einbrecher mit scharfem Schnaps. Schöne Sequenz!

Mich hat das Skript von Pierre Gabus überzeugen können. Ich mag eintauchen in diese Welt und freue mich auf weitere Begegnungen mit diesen Figuren.

Reden wir abschließend über das Artwork von Romuald Reutimann, dass Sie schon eingehend betrachten konnten. Der Zeichner stammt aus Cherbourg und setzt mit HAFEN DER GEHEIMNISSE seiner Heimat ein Denkmal.

Das ist eine Ligne claire, aber ich finde, sie ist abstrahierter und „verwaschener“ als bei Hergé und dessen Epigonen. Damit wirkt sie auch moderner und findet gewissermaßen ihren Anschluss an die neue Schule der L’Association.

Reutimanns Stil sieht ungewöhnlich aus, hat einen Fuß in beiden Welten und bedient somit ein breites Spektrum: retronostalgisch und zeitgenössisch in einem. Auch seine Seitenlayouts folgen keinem sturen Muster, sondern werden unaufdringlich variiert.

Zu beobachten in folgender Sequenz. Julienne beginnt einen Flirt mit John, dem Boxer. Sieben Bilder, die uns viel vermitteln und uns die Persönlichkeit von Julienne nahebringen:

Sollte DER HAFEN DER GEHEIMNISSE Ihr Interesse geweckt haben, empfehle ich Ihnen dieses exzellent gemachtes Video (auf Französisch), in dem Szenarist Gabus und Zeichner Reutimann ihre Vision von „New Cherbourg“ darlegen.

Hier noch der Link zur Serie beim Carlsen Verlag.

Und ich mache kein Geheimnis darum, dass Sie noch mit mir ins Werk hineinblättern können.