Vor Klassikern wird gewarnt!

Ich habe mir den Spaß erlaubt, mit dem Blogger-Kollegen und Comic-Kritiker Timur Vermes (comicverfuehrer.com) ein Lästergespräch über die Neunte Kunst zu führen.

Genießen Sie überspitzte Urteile und schmunzeln Sie über freche Bewertungen – oder verfallen Sie einfach in Schnappatmung!

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Tillmann: Wir haben uns auf einer Lesung in Bochum kennengelernt und festgestellt, dass wir uns sehr geistesverwandt fühlen, was unsere Rezeption von Comics angeht. Es kam die Idee auf, ein bisschen über die Neunte Kunst zu lästern, ohne dabei die eigene Betriebsblindheit aus dem Blick zu verlieren. Das haben wir uns vorgenommen, weil wir viel überschätztes Zeug in den Regalen liegen sehen.

Timur: „Geistesverwandt“ mit mir mag ich lieber keinem unterstellen. „Ähnliche Ansichten“ schon eher. Der ganze Comicberatungs-Gedanke ist ja, dass Leute mit unseren Gedanken was anfangen können. „Überschätztes Zeug“ ist aber stets knifflig: Überschätzt kann ja nur sein, was viele schätzen – also tritt man so immer eine Menge Leute vors Knie.
Da wird, wenn ich hier etwa mal „Tim & Struppi“ erwähne, oft gewettert. Dabei man kann durchaus sagen: Trotz aller Verdienste altern die einfach schlecht. Oder?

Tillmann: Hu, du rollst gleich das größte Fass herein! Ich bin bei „Tim & Struppi“ mittlerweile zurückhaltend, weil meine Lektüre Jahrzehnte zurückliegt und ich nicht mehr weiß, was wirklich von Hergé ist (sowohl Text als auch Bild). Als Fachmann hört man ja so einiges.
Ich habe allerdings dieses Jahr zwei Bände wiedergelesen und kann sagen, dass ein Frühwerk wie „Die Krabbe mit den goldenen Scheren“ äußerst simple Abenteuerunterhaltung ist, wohingegen ein Spätwerk wie „Die Juwelen der Sängerin“ nach wie vor wunderbare Sitcom bietet, aber auch den Ausreißer im Œuvre darstellt (und vielleicht nicht von Hergè ist).

Timur: Simple Unterhaltung trifft’s gut. Ich bin nicht mit Tim aufgewachsen, aber jetzt sind mir die Alben einfach zu naiv. „Asterix classic“ und Carl Barks funktionieren aber auch für Erwachsene, es liegt also an Tim. Der Reporter ist im Urlaub, patsch: schon hat er einen Fall. Die Polizei liebt ihn, weil er ihre Fälle löst. Dann kommen die zwei Dödel und sind doof, der Käpt’n flucht – Storytelling à la „5 Freunde“. Aber ich bin nicht mehr zwölf.

Wenn man das sagt, denken Fans, man will ihre Jugend kaputtmachen: Nein, es ist nur so, dass viele Klassiker erzählerisch Defizite hatten, die man erst als Erwachsener bemerkt. Oder geht’s nur mir so?

Tillmann: Ich bin ganz bei dir und warne sogar vor der Lektüre der Klassiker. Die Neunte Kunst bitte nicht mit 50 Jahre altem Krempel gleichsetzen! Comics haben sich in den letzten 20 Jahren enorm weiterentwickelt und bieten hochaktuelle Unterhaltung. Deshalb schüttle ich meinen Kopf über Integralveröffentlichungen und Wiederauflagen von „Buck Danny“, „Michel Vaillant“, „Die Blauen Boys“, „Sammy & Jack“ oder „Garfield“.
Das sind doch nur Regalfüller, das kann man doch heute nicht ernstlich lesen! Ich muss genauso drüber lachen, dass Carlsen „Clever & Smart“ in einer „seriösen“ Neuauflage bringt, mit frischer Übersetzung und Kolorierung – als ob der olle Ramsch von Condor nicht völlig gereicht hätte!

Timur: Na, Geldverdienen muss schon sein. Die Neuauflagen sind Wohlfühlsammlungen für die Kinder von früher, die heute mehr Taschengeld haben. Doch die meisten wissen, dass „Buck Danny“ Limits hat.
Es gibt geile Flugzeuge, attraktiv inszeniert, aber die Stories sind nur der Vorwand und die Charaktere so egal, dass Michel Vaillant mit Danny jederzeit Plätze tauschen könnte.
Professionell gemacht, für damals sowieso, aber heute zeigen andere Erzählformen, dass es was bringt, wenn Walter White nicht nur irgendein Drogenbäcker ist, sondern ein krebskranker Chemielehrer mit einer tantigen Frau. Und da wird’s bei „Buck Danny“ halt arg dünn. 

„Garfield“ hab ich nie begriffen. Der erklärt sich für mich nur durch die Marktlücke, die entstand, weil Snoopy und die Peanuts ab den 70ern so nachließen. „Wir brauchen ein philosophisches Tier!“  – „Nimm halt die Katze.“
Das mit den „Peanuts“ wird auch nicht gerne gehört: In den letzten 15, 20 Jahren haben die nur noch die Zeit totgeschlagen. Ist nie ein gutes Zeichen, wenn Leute anfangen, mit einem Schulhaus zu reden.

Aber das sind keine Überraschungen, wenn man ehrlich ist. Enttäuschender sind da eher Klassiker wie „Corto Maltese“. Erwachsener Anstrich, erwachsene Optik, seit Jahrzehnten gerühmt und verehrt, und dann guckste rein und nach zwei Seiten hält dich praktisch nichts mehr wach. Und du denkst: Stimmt was mit mir nicht?

Tillmann: Hugo Pratt sei mein Stichwort für die Serie „Berühmte Zeichenstars, die mir nichts geben“: Pratt gilt vielleicht nicht als bester Erzähler, aber stets als brillanter Zeichner. Ich lege einen drauf und sage: Er zeichnet auch nicht immer gut, denn bei ihm wechseln sich eindrucksvolle Passagen mit struppigen Skizzen ab.

Eine Seite CORTO MALTESE

Künstler ohne Konsistenz, die machen mich wahnsinnig! Oder auch Will Eisner, der seinen originellen „Spirit“-Comic als expressiven Film-Noir anlegt und seine bräsigen Graphic Novels leider mit einer faustdicken Theatralik inszeniert.

Timur: Pratt ist ein Überraschungsei. „Ticonderoga“ ist toll – hat er nur gezeichnet. Den „indianischen Sommer“ hat er nur geschrieben – alles andere als fad. Aber „Corto“: tripelschnarch. Das gibt’s eben: Leute machen Sachen, bei denen man sich wundert dass sie aus ein- und demselben Kopf kommen.

Haben wir Leser ein Recht auf gleichbleibende Qualität? Nein, es ist wie bei McDonald’s: Es rentiert sich für die, wenn’s immer gleich schmeckt, aber wenn sie das Geld nicht mehr brauchen, können sie auch Motoröl ausschenken. Das mag ich an Eisner: Unabhängigkeit. Der „Spirit“ langweilt ihn – Eisner zeichnet Handbuchcomics für die Army, dann Graphic Novels. Ich finde Eisner vor allem deshalb überschätzt, weil er nicht erkennt/erkennen will, dass seine MAD-artigen Grimassen seine Comics beeinträchtigen.

Da sieht man aber auch, wie beim Überschätzen der Fan mitarbeiten muss. Hier: Alle sehen den Grimassenquatsch, oder dass der „Spirit“ keine einzige ernst gemeinte Prügelei abliefern kann – und alle tun, als wäre alles okay oder hätte einen tieferen Sinn. Motto: „Mach mir meinen Eisner nicht kaputt.“ Dabei hält der Eisner das locker aus.

Eine typische Szene des späteren Will Eisner

Tillmann: Ich verstehe den „Spirit“ auch als frühen Meta-Comic, deswegen fordere ich da keine Ernsthaftigkeit ein. Eisner ist natürlich ein Pionier, der schon 1941 oder wann das Potenzial für Graphic Novels und das Spiel mit dem Medium überhaupt erkannt hat. Aber was Klassikerlieblinge betrifft, halte ich mich an Giganten wie Franquin, Hermann oder Giraud/Moebius – obwohl einiges von „Jeremiah“ ziemlicher Käse ist und ich Moebius nach dem „Incal“ auch nicht mehr angefasst habe.

Timur: Oha: Das ist einer meiner weißen Flecken. Moebius habe ich so gut wie nicht gelesen. Da steht nur „Ikarus“ bei mir im Regal, die Story stammt von ihm, die Zeichnungen von Jiro Taniguchi. Ist der eigentlich bei dir auf der „Überschätzt“-Kandidatenliste? Bei mir schon…

Tillmann: Das ist jetzt einer meiner weißen Flecken. Taniguchi, der „europäische Mangaka“, hat mich nie interessiert. Sicher ein Meister seines Fachs, aber Krimi- und Bergsteigercomics, grafische Meditationen übers Kochen und Spazierengehen?! Scheint mir was für Japaner mit Burn-out-Syndrom zu sein.
Darf ich Mangas generell in Bausch und Bogen ablehnen? Ich hab es versucht, aber der Stil ist mir zu einheitlich, ich verstehe die „östliche Dramaturgie“ nicht und ich werde mit den Figuren nicht warm.
Ausnahmen mache ich hier mit Gou Tanabes Lovecraft-Adaptionen (westliche Skripte) und heimischen Manga-Produktionen von David Füleki und Martina Peters. Die nehmen mich mit!

Jiro Taniguchi lässt spazieren

Timur:  „Bausch und Bogen“ ist immer problematisch, gerade wenn es Ausnahmen gibt. Das führt dann zu Blankoschecks wie „Meister seines Fachs“. Was bei Taniguchi für mich nur stimmt, wenn das Fach „Gebirge, futuristische Fabriken und Schablonenvisagen“ heißt. Trotzdem: beim Manga gibt’s immer wieder was, weil der Markt so aberwitzig groß ist, dass auch Gutes seine Chance bekommt. Was für alle großen Märkte gilt: auch für die Zombie-Schiene. Womit wir bei einem meiner Lieblingsüberschätzten sind: „The Walking Dead“.

Tillmann: Kann ich gleich mit „nicht gelesen“ abbürsten. Was ich in 20 Heften nicht erzählt bekomme, das wird auch nichts mehr. Ich bin ein Freund von komprimierten und knackigen Stoffen. Darum bitte keine Endlos-Serien wie „Invincible“, „Fables“ oder auch „Donjon“, ja ich gebe es zu. Das sind Spitzenleute mit tollen Ideen, aber lasst mich da raus.

Timur: Tja, abbürsten kann ich nicht gut. Der Vorteil: so habe ich „Strangers in Paradise“ entdeckt. Ich will wissen, warum etwas Erfolg hat.

Es gibt Mainstreambereiche, da bringt das Publikum die Stimmung selber mit. Der Künstler ist dann nur Party-Anlass, er soll nicht stören. Das ist so bei Florian Silbereisen oder Mario Barth, aber auch bei Kirkman. Der entdeckte, dass heute zu Zombies bedeutungsvolles Gelaber passt. Laberlaberlaber, einer geht allein in den Keller, einer kriegt eine Axt in den Kopf, laberlaberlaber. Das ist die Party. Jetzt, wo ich’s weiß, muss ich nicht mehr hin. Dann guck ich in „Outcast“, sehe: Ah, Kirkman checkt ab, ob Gelaber sich auch anderswo verkauft. Da verpass ich nichts. Kategorie „überschätzt“.

Tillmann: Ich darf gestehen, dass ich eingeknickt bin und „Outcast“ mitgemacht habe (48 Hefte). Ich schätze diese Serie ihres ländlichen Settings wegen, dazu das eher seltene und interessante Thema Besessenheit sowie ein wirklich originelles Artwork von Paul Azaceta. Es gibt immer Ausnahmen.
Natürlich bin ich auch beladen mit Vorurteilen und Vorlieben. Manche Comics sortiere ich im Vorfeld aus, obwohl sie hymnisch gefeiert werden. Wie eben „Strangers in Paradise“ oder „Omaha, the Cat-Dancer“. Fantasy-Serien von Splitter sind mir suspekt und generell Comics, die mit drallen Pin-up-Weibern beworben werden – schickt mir bloß keine Serpieri-Artbooks mehr! Gut: Erotik, Melodram und Romance sind eben nicht mein Genre.

Timur: Darf man Genres ablehnen? Gerade Comicfans hören oft, dass Leute Geschichten ablehnen, weil sie als Comic erzählt werden. Ich weiß, dass diese Leute was verpassen, also will ich kein Genre verteufeln, sondern im Romantikhaufen das „Brokeback Mountain“ finden, bei den Zombies das „Gung Ho“, und es muss eigentlich auch bei Erotik was Gutes geben, was man nicht nach Gebrauch verschämt hinters Regal stellen muss.

Tillmann: Du bist eben der Comicverführer, der in allem noch die Perle sucht. Ich bin der Comicsnob, den 95 Prozent aller Veröffentlichungen vorab schon nicht die Bohne interessieren. Leider meine ich damit auch zeitgenössische, aktuelle Erzeugnisse. Um gleich mal einen rauszuhauen: Toll, dass sich der avant-Verlag mit Liv Strömquist finanziert, aber ihre Werke sind grausam. Das macht Katja Klengel bei Reprodukt mit „Girlsplaining“ viel besser!

Liv Strömquist macht Comics

Timur: Ja, die Strömquist. Schon erstaunlich, wie man unter dem Logo „Superfrech und bissig“ segeln kann, ohne das Versprechen nur ansatzweise einzulösen. Ich wünsche mir da immer eiskalte, messerscharfe Logik, bissig zugespitzt, finde aber nur Häme und schiefe Bilder. Wie bei Trump: Du musst Fan sein, um das schlüssig zu finden.
Andererseits ist auch das Gleichberechtigung: Warum sollen Feministinnen klug und treffend argumentieren, wenn der Kundschaft „Make women great again“ vollkommen ausreicht? Aber wenn nicht drin ist, was draufsteht: überschätzt.

Tillmann: Ich bin meist sehr angetan von den Werken deutscher Zeichnerinnen. Aber was ist denn mit US-Shooting Star Tillie Walden? Ich glaube, dass diese Frau tatsächlich die Zukunft des Comics ist, aber ich hab nur einen versucht („Auf einem Sonnenstrahl“) und war davon eher abgeschreckt: female Kuschel-Empowerment im Weltall. Klarer Fall von „Ich bin nicht die Zielgruppe“.

Timur: Von Tillie Walden hab ich „Pirouetten“ gelesen, und kürzlich hatte ich ein ähnliches Erlebnis mit Alison Bechdels „Fun Home“: Ich verstand das Problem nicht. Letztlich haben sie kaum mehr Ärger als jeder in der Pubertät. Was unterhaltsam sein kann, aber beide ersetzten Spannung/Pointen mit ausgewalzten Selbstreflexionen.
Ist vielleicht therapeutisch wertvoll, muss man aber als Leser nicht feiern. Da finde ich die Mangas besser, die diese Selbstzweifel marktgerecht inszenieren und damit genauso sagen: jeder hat anders Sex, ist manchmal schwierig, aber nicht schlimm.

Eine Seite von Tillie Walden

Tillmann: Graphic Novels aus Nordamerika sind generell schlechter als ihr Ruf. Ich denke an diese Mischpoke aus Chester Brown, Seth, Daniel Clowes, Charles Burns und Chris Ware. Die geben mir wenig. Die sieden alle in ihrer eigenen Brühe. Bei den Damen sind neben Bechdel noch Julie Doucet und Phoebe Glockner hoch angesehen. Reißen mich auch nicht vom Hocker.
Das geht schwungvoller: Meine Lieblinge sind die vergessene Roberta Gregory, die unbekannte Lynda Barry und Emil Ferris, die mit ihrem halbfertigen Debütwerk „My Favorite Thing Is Monsters“ tatsächlich die große American Graphic Novel hingelegt hat.

Timur: Generell ist schon mal selten bis nie was. Aber man muss Chester Brown, Seth, gerade auch Joe Matt zugestehen, dass sie rücksichtslos ihr eigenes Ding machen. Der Mainstreammarkt nimmt die kaum zur Kenntnis, da können sie eigentlich auch nicht überschätzt sein. Burns ist erfolgreicher, aber der erzeugt auch eine einzigartige, eklige Unbehaglichkeit: Respekt!
Überschätzt-werden setzt eigentlich Erfolg voraus, und dass wir inzwischen bei Chester Brown ankommen, ist ein Indiz dafür dass uns die bekannten Namen ausgehen. Ich jedenfalls bin mit meinen großen Ärgernissen soweit durch…

Tillmann: Wollen wir zum Ausklang eine Runde Lob verteilen? Ein Name-Dropping-Sträußchen jüngerer Comicschaffender, die uns imponieren? Ich nenne: Mikael Ross, Julia Bernhard, Josephine Mark, Jakub Rebelka, Emma Rios, Andrea Sorrentino, Christophe Blain, Sana Takeda und Julie Rocheleau.

Timur: Da kennst du mehr als ich. Ross mag ich auch. Helena Baumeister: Sehr witziger Erstling „Oh cupid“, aber wie bei Josephine Marks „Trip mit Tropf“ so autobiographisch, dass ich fürchte, ihnen könnte das Material ausgehen. Eckartsberg/Kummant müssen dazu: dieser Mut zu blockbusterartig verwertbarer Qualität, das ist Spielberg-Mentalität.

Miriam Wurster, eine der neuen Cartoonistinnen der SZ. Doppelt überraschend, weil die SZ auf der Meinungsseite bislang zuverlässig entweder Fades oder Altbackenes gedruckt hat. Und wenn du den Jungspund Blain nimmst, kann ich auch den jungen Riad Sattouf erwähnen.

(Das Gespräch wurde im März/April 2023 per Mail geführt
und gibt natürlich rein persönliche Standpunkte wieder.)