Diesen Comic hätte ich mir vom Thema her nicht unbedingt ausgesucht, denn schon im ersten Kapitel (das „Congo“ benannt ist) präsentiert sich uns das gesamte Elend Afrikas.
Sklavenarbeit in den Coltan-Minen, Macheten-Massaker durch Kindersoldaten, Vergewaltigungs- und Folterterror durch Milizen, allgegenwärtige Armut und korrupte Regierungsbeamte.
Aber wie herrlich ist das Artwork!
Und welch eigenwillige Töne schlägt diese Graphic Novel im weiteren Verlauf an.
Doch der Reihe nach.
LE CIEL DANS LA TÊTE, den „Kopf im Himmel“, hat der zwölfjährige Nivek, dem wir begegnen, als er bei Schürfarbeiten in einer kongolesischen Coltan-Mine verschüttet wird. Sein Freund Joseph zieht ihn aus der Grube, was den Unmut eines sadistischen Wachsoldaten erregt.
Der hätte Nivek seinem Schicksal überlassen, um keine Arbeitsunterbrechung zu erzeugen. Doch Nivek ist ein impulsiver und wilder Junge, der den Soldaten erschlägt und damit die Aufmerksamkeit des Milizkommandanten Wamba erregt.
Hier sehen wir die Szene in der Mine, Anfang und Ende der Tat in folgendem Tableau mit Zentralfigur arrangiert:

Wamba sortiert Nivek zu seinen Kindersoldaten. Im Schnelldurchlauf erleben wir seine Initiation durch tribalistische Rituale und Einflößen einer Mut machenden Droge.
Er übt das Schießen mit einem Gewehr, das Werfen von Granaten – und muss sich des Weiteren „von seiner Familie verabschieden“.
Was das für einen zukünftigen Kindersoldaten bedeutet, buchstabiere ich hier nicht völlig aus, aber es beinhaltet Mord und Verstümmelung der eigenen Mutter – was Nivek für immer traumatisieren wird.
Es folgen erste Überfälle auf wehrlose Dörfer und Gräueltaten an der Bevölkerung, die ich Ihnen erspare. Lieber zeige ich das wunderschön inszenierte Voodoo-Ritual.
(Und, ja, eine Eigenheit dieses Comics ist, dass der Schrecken grafisch schick daherkommt, dazu später mehr.)

Niveks Kumpel Joseph avanciert derweil zum Koch der Miliz und ist vom Naturell der Gegenpol. Joseph ist freundlich, optimistisch und lebensklug. Nivek ist hart, unnachgiebig und stolz. Er begreift sich als „Krieger“ und wird von diesem Selbstbild auch nicht mehr abrücken.
Nach einem nächtlichen Feuergefecht mit einer rivalisierenden Miliz nutzen Nivek und Joseph die Chance zur Flucht und schlagen sich zu einem UNO-Krankenhaus durch, wo die beiden Kinder aufgenommen und behandelt werden. Dort hören sie von besseren Verhältnissen in Europa und fassen einen Plan …
Die kalte, kalte Hauptfigur
Nivek ist eine problematische Hauptfigur, die uns nie sympathisch wird, bestenfalls haben wir Mitleid mit ihr. Aber er ist ein sturer Charakter, der seinen Weg mit aller Konsequenz geht.
Nivek ist ein Überlebenskünstler, der seinen „Kopf im Himmel“ behält und von Europa träumt, denn in Afrika sieht er keine Zukunft für sich.
Joseph begleitet ihn und gemeinsam ziehen sie in ein jahrelanges Abenteuer.
LE CIEL DANS LA TÊTE gliedert sich in sechs weitere Kapitel, von denen die nächsten beiden („Dschungel“ und „Savanne“) einen Bruch zum bisherigen Geschehen darstellen.
Denn es wird folkloristisch und naturmagisch!

Im Dschungel schlafen sie nachts in den Baumkronen (Joseph weiß, wie man sich dort eine Schlafstatt einrichtet), ernähren sich von Früchten und treffen auf die Baka, einen Eingeborenenstamm, der fernab der Zivilisation lebt.
Sie werden dort aufgenommen und verpflegt, lernen den Häuptling Mompana, die Braut Nawhia, den Jäger Mbundo und seinen Konkurrenten Mbé kennen.
Nach einer Elefantenjagd entbrennt ein Wettstreit um die Gunst Nawhias: Der Jäger will mit dem größten Stück Fleisch als Hochzeitsgabe triumphieren, aber Nivek und Joseph leiten Mbé an, das schmackhaftere Stück Fleisch zuzubereiten.
Mit dieser kulinarischen List kann sich Nawhia für Mbé entscheiden – und ein bisschen Kochkunst ist in den Dschungel eingezogen.
Man mag kaum glauben, dass diese Geschichte im selben Comic erzählt wird, in dem zuvor noch Menschen massakriert wurden. Aber den Kopf im Himmel zu haben und den Schrecken phasenweise ausblenden zu können, trifft auch auf uns Leser zu.

Pure Folklore ist diese Elefantenjagd, die ebenfalls mit Gewalt nicht geizt und auf ihre Weise illustriert, dass der Mensch an sich ein Mörder ist.
Im Kapitel „Savanne“ begegnet Nivek dem „Großen Delwa“, einer wunderbaren Type: ein Medizinmann in Zylinder und Wickelrock. Delwa verspricht, Nivek den Weg bis zur Wüste zu zeigen, muss aber zuvor nach Station im Königreich Babungo machen.
Nivek wird kurzerhand zu seinem Lehrling erklärt und staunt über des Alten Kräutermagie und die Gepflogenheiten in Babungo.
Dort ist König Zafoa erkrankt und möglicherweise das Opfer einer schleichenden Vergiftung. Denn sein ehrgeiziger Sohn Abakar hat die Regierungsgewalt bereist an sich gerissen und mag sie nicht mehr hergeben.
Adoum, der jüngere Sohn Zafoas, warnt Delwa und Nivek, dass Abakar sie alle umbringen möchte. Er sei ein grausamer Mann, der vor nichts zurückschrecke (so hat er bereits den amtierenden Arztmagier lebendig begraben lassen).
Delwa präpariert Zafoa soweit, dass er sich wieder dem Volk zeigen kann, doch dann kommt es zu einem Unglück, dass die Verhältnisse durcheinanderwirbelt.

Dem sagenhaften Einschub mit Delwa und Zafoa folgt Niveks einsame Reise durch die Wüste in Richtung Norden, zum Mittelmeer. Eine Landung auf dem harten Boden der Realität, denn beinahe wäre der Junge verdurstet, hätte ihn nicht eine Karawane von Flüchtenden aufgenommen.
Die Sudanesin Aisha nimmt sich Niveks an und beide unterstützen sich in gefahrvollen Situationen. Dann jedoch fallen sie in die Hände von Menschenhändlern, die sie nach Musrata in Libyen verschleppen.
Bei einer waschechten Auktion auf dem Sklavenmarkt gerät Nivek in den Besitz des mächtigen Bashir. Der hätte ihn gerne als Liebesknaben, doch Nivek reagiert mit Gewalt und landet in einem Bunker für Gladiatoren.
Auf Bashirs Geheiß werden hier tödliche Duelle Mann gegen Mann ausgetragen. Obwohl Nivek ausgelacht und verspottet wird, erweist er sich als agiler Krieger, der mehrere Gegner zu Tode tritt und beißt.
Hier eine „Zeitraffer-Seite“, die erste Kämpfe zu einem kunstvollen Panorama verdichtet.

Es folgen nicht mehr viele Seiten, aber ich beende hiermit meine Zusammenfassung, denn es passiert noch einiges zum Finale hin, was ich nicht verraten möchte.
Ist das denn alles wahr?
Autor Antonio Altarriba kniet sich gern in düstere und verwickelte Stoffe (s. ICH, DER VERRÜCKTE).
Leider aktuell und akkurat ist offenbar seine Schilderung des Coltan-Abbaus, der tatsächlich durch aufständische Milizen kontrolliert wird.
Darum nehme ich an, dass er uns auch keinen Schmu erzählt, was den agrarisch lebenden Stamm im Dschungel angeht oder das Königreich Babungo.
Es existiert ein Volk der Babungo in Kamerun; ob die nun einen König haben, der immer „über seinen Untertanen schweben“ muss, überlasse ich Ihrer weiteren Recherche.
Auf jeden Fall ist es ein cooles Setting mit märchenhafter Anmutung.
LE CIEL DANS LA TÊTE ist ein staunenswertes Buch, das ein afrikanisches Gesellschaftspanorama aufblättert, das man so noch nicht gesehen hat. Die bittere Realität einiger Regionen wird mit der magisch-kulturellen Vielfalt der anderen konterkariert.
Und man muss nicht lange nachdenken, um den Unterschied am verderblichen Einfluss des sogenannten „Westens“ und seiner kolonialen Katastrophe festzumachen.
Dieser Comic ist nicht so dumm, einen moralischen Zeigefinger erheben zu wollen. Er präsentiert äußerst sachlich die Zustände, wie sie sind – und verfremdet sie dann durch seine verkünstelten Illustrationen.
Auf diese Weise bekommen wir einen frischen Blick auf das Geschehen und sortieren im Kopf vielleicht ein paar Dinge um …
Mir hat das expressive bis expressionistische Artwork von Sergio García Sanchez (koloriert von Lola Moral) einige Schreckmomente beschert, die mich fragen ließen: Darf man das Grauen so ästhetisch darstellen?
Natürlich darf man, aber es liegt im Auge des Betrachters, was man draus macht. Für mich koppeln sich so Ereignisse an Bilder, die sich fortan nicht mehr lösen lassen.
Das ist ein pädagogischer Aspekt von Kunst allgemein, der unsere Wahrnehmungswelt bereichert.
Ein Beispiel:
Im Mittelmeer havariert ein überfülltes Schlauchboot und die Flüchtenden ertrinken leblos und leise, auf einer großformatigen Seite inszeniert wie ein Meeres-Stillleben aus Fischen und Algen.


Eine Kritik habe ich dann doch noch:
Der Comic erlaubt sich textliche Redundanzen (auch im Zusammenspiel mit den Bildern) und kommt sprachlich eher plump daher.
Die Passage, in der Nivek und Joseph im UN-Krankenhaus aufgenommen, therapiert und über koloniale Geschichte unterrichtet werden, ist Dramaturgie mit dem Holzhammer.
Gut, es sind nur fünf Seiten und irgendwie muss man diese Fakten abhaken.
Aber auch die Episode mit dem Kochwettbewerb im Dschungel wird gefühlt dreimal erklärt, und die Nachfolgeregelung des Königs Zafoa wird ebenfalls überdeutlich ausdekliniert.
Befremdlich ist übrigens auch das durchgehende Maschinen-Lettering! Hat man so was in den letzten Jahren überhaupt irgendwo gesehen?!
Das ist mir komplett schleierhaft.
Mit einem organischen Handlettering oder einer stilvollen Typographie hätte LE CIEL DANS LA TÊTE noch eine ganz andere Wirkung entfaltet.
(Wollte man mit diesem hässlichen Schriftbild vermeiden, dass die Schönheit der grafischen Gestaltung zu sehr im Vordergrund steht? Keine Ahnung.)
Trotz dieser Holprigkeiten finde ich das Werk beachtlich. Es wirbelt uns einmal quer durch Afrika und hält uns dann „den Spiegel vor“, wie man im Feuilleton des letzten Jahrhunderts gern Betroffenheit umschrieb.
Ich ziehe meinen Hut vor diesem ungeschminkten, nichts beschönigenden Kindersoldaten-Schicksal, das uns am Ende auch keinen Rettungskitsch zumutet.
LE CIEL DANS LA TÊTE ist ein kraftvolles, ästhetisch gelungenes und unvergessliches Werk.
Themenverwandte Comics sind sicherlich GAMES – AUF DEN SPUREN DER FLÜCHTENDEN AUS AFGHANISTAN von Patrick Oberholzer sowie DER RISS von Guillermo Abril und Carlos Spottorno (beide Werke konzentrieren sich allerdings auf Fluchtgründe und -Routen, ohne den soziokulturellen Hintergrund der Menschen zu vertiefen).
Natürlich blättere ich noch hinein in den Band, spare dabei jedoch die Grausamkeiten der ersten Seiten aus.