BORIS, DAS KARTOFFELKIND – skurriler geht’s nicht

Ich liebe die erste Seite dieses Comics: das heimelige Setting am Kamin, den filigranen Strich von Anne Simon und ihre effektvolle Schraffierung, die klare Inszenierung – vor allem den starken Auftritt von Boris, der Hauptfigur.

Er ist der Sohn der abgedankten Königin Aglaé, die alle Regierungsgeschäfte ruhen ließ, sobald sie Mutter wurde. Jetzt wurstelt sich das Land Marylène ohne Regentin durch, was augenscheinlich funktioniert – bis Boris beschließt, in dieses Machtvakuum vorzustoßen und eine Diktatur zu errichten.
Das tut er mit Hilfe seiner „Pommeskriegerinnen“, stolzen Amazonen in Frittenform, deren Befehlshaberin Sabine er wieder als Ordnungsgewalt etabliert. Zeitgleich geriert sich Boris als Entrepreneur und überzieht das Land mit einer terroristischen Fast-Food-Kultur aus Pommesbuden und Flaschenbierkiosken.

Ich möchte es eine „Adiposikratie“ nennen. Boris kommandiert alle Frauen als Kartoffelschälerinnen in die Küche ab, lockt den Rest der Bevölkerung mit Jobs an der Fritteuse und hält alle mit zwanghaftem Bierkonsum in Schach.

Boris mit dem Fritten-Fetisch

Okay, das ist vollkommen spinnert. Konnten Sie folgen? Wenn nicht, macht nichts. Denn Autorin und Zeichnerin Simon knallt uns diesen Wahnsinn ungebrochen vor den Latz. In beinahe dokumentarischem Ton serviert sie uns Frittenfrauen und redendes Holzspielzeug, ein Hundetaxi, den sensiblen Musikus François, Alligatorkinder und Tango tanzende Pferde.

Ihr Märchenland Marylène ist ein unerhörtes und unerklärtes Sammelsurium aus skurrilen Einfällen. Es hat einen Vibe wie der Beatles-Zeichentrickfilm „Yellow Submarine“. Nichts passt hier zusammen, dennoch zwingt Simon diese Welt unter ihre narrative Knute.
So wie Boris nach Gutdünken schaltet und waltet, so springt der Comic mit uns Leser*innen um. Das ist meist charmant, manchmal rätselhaft, manchmal auch nichtssagend.

Treten wir aber zunächst einen Schritt zurück und schauen auf den grüblerischen Boris, der in einem alten Magazin (aus Zeiten des Tyrannen Von Krantz, der vor der Regentschaft Aglaés herrschte) die delikaten Soldatinnen entdeckt.

Bald hat er Heerführerin Sabine aufgespürt und zum Putsch überredet bzw. von seiner Idee zur „Potatokratie“ überzeugt.
(Hiermit erhebe ich Urheberschutz auf alle von mir erfundenen Regierungsformen, hihihi.)

Die Bevölkerung fügt sich brav unter das neue Regime, vielleicht zu brav – aber es ist ein Fantasymärchen und kein Politcomic. Am Schluss kommt es zur Konfrontation zwischen dem wiedererstarkten Patriarchat und dem unterdrückten Volk, das uns fast nur in weiblicher Gestalt begegnet.

Anne Simon verfolgt in ihren Büchern auch eine feministische Agenda. Weibliche Charaktere dominieren ihre Werke und immer wieder flicht sie historische Zitate pro und contra Frauenbewegung ein. Was sie damit bezwecken will, ist mir unklar. Denn diese dokumentieren mehr die Belesenheit der Autorin als dass sie handlungsrelevant wären.

Verankert werden die feministischen Aspekte in der Figur der Simone, ehemals rechte Hand der Königin Aglaé. Sie ist entsetzt von der aktuellen Entwicklung im Land und entschließt sich zur Revolte.

Simone gründet ein Institut zur feministischen Umerziehung kleiner Mädchen, die sie dorthin allerdings entführen lässt! Das geht jahrelang so, bis dann eine Eingreiftruppe formiert ist, die Boris in einer schnellen Aktion entmachten kann.

Dramaturgisch finde ich das wenig elegant. Simon setzt uns das höchst episodenhaft im „Und dann … und dann … und dann“-Stil vor. Schade, so entwickelt sich kein Flow und auch keine Figur: Aglaé bleibt passiv, Boris bleibt tyrannisch, Simone bleibt kämpferisch.
Handlung ergibt sich aus Simons Setzungen. Mitunter scheint sie mir draufloszuschreiben und wieder abzubrechen.

BORIS, DAS KARTOFFELKIND ist in zehn „Geschichten“ unterschiedlicher Länge eingeteilt, die in sich aber noch Exkurse beinhalten. Eine stoppelige, anekdotische Erzählweise, die leider kaum Synergien zwischen den Charakteren freisetzt.

Sie können diesen Comic prima runterlesen und sind wahrscheinlich teils amüsiert, teils irritiert, aber ich vermisse einen narrativen Elan. Simon macht der Reihe nach was mit ihren Gestalten, aber es leuchtet kein Konzept auf, dass diesen Szenen einen zwingenden Zusammenhalt gäbe.

Hier ist so ein Blitzlicht, eine Momentaufnahme: Simone verweigert François den Beitritt zu  ihrer Partisanengruppe, aus eher nichtigen Gründen, wie ich finde. Soll diese kurze Sequenz die Figur der Simone kritisieren? Soll sie einfach nur schräg-lustig sein? Sie entscheiden, ich weiß es nicht.

Sicher, Anne Simon bezaubert uns mit ihrem Land Marylène, mit ihren grotesken Darstellungen und skurrilen Einfällen (ich wiederhole mich). Wem es nichts ausmacht, ein charmantes Kuriositäten-Kabinett zu beobachten, dem sei der Band wärmstens empfohlen.

Wahrscheinlich gehe ich zu hart mit der Autorin ins Gericht. Ich mag diesen Comic, mir ist ihr Kosmos um Marylène zutiefst sympathisch. Ich liebe diese Spinnereien und verneige mich vor der überaus lustigen grafischen Umsetzung.
Ich bin nur enttäuscht vom fehlenden dramaturgischen Drive. Es ist so „matter-of-fact“, es ist so nüchtern. Komisch (in beiderlei Wortsinn) auf eine äußerst private Art. Ich versuche eine Analogie: Wer bei der Lektüre nicht in derselben Frequenz mitschwingt, hört nicht die Musik.

Was drauf auf die Pommes?

Der markante Kopf von Boris (dem Kartoffelkind) ist übrigens keine Kartoffel, damit wäre er in der Pommesküche auch zu gefährdet, es dürfte sich um einen Stein handeln. Denn sein Vater Philippe war ein Stein!
Das erfahren wir in Band 1 dieser Saga (DAS TUN UND LASSEN DER AGLAÉ), den mir Rotopol zur Kontextbildung in Digitalversion zukommen ließ.

BORIS, DAS KARTOFFELKIND ist nämlich bereits Teil 3 einer Reihe, die zwischen AGLAÉ und BORIS noch DIE KAISERIN CIXTITE einschiebt. In Frankreich sind unter dem Oberbegriff LES CONTES DU MARYLÈNE bereits 5 Alben erschienen.
Sollte Rotopol am Ball bleiben, erleben wir als nächstes die Abenteuer von GOUSSE & GIGOT, den Töchtern des originalen Tyrannen Von Krantz, die ihr Erbe niemals angetreten haben, sondern im vorliegenden Band nur als kartoffelgeknechtete Frauen im Exil auftauchen.
Denkbar, dass die beiden im Verbund mit Simone und ihren Streiterinnen ein neues Matriarchat errichten werden …

Hier wird Gousse von Boris persönlich zum Dienst in der Kartoffelküche verdonnert.


Ich dachte schon, ich hätte mit Anne Simon ein deutsches Talent verpasst, bis ich nachlas, dass Madame Simon Französin ist und bereits mehrere Werke in Frankreich veröffentlicht sowie vor fast 20 Jahren schon den Nachwuchspreis beim Comicfestival von Angoulême erhalten hat.

Übrigens erinnert mich Simon an den deutschen Zeichner Thomas Wellmann, der auch bei Rotopol veröffentlicht, anscheinend kein Zufall. Dessen PIMO & REX-Comics sind auch von dieser liebenswürdigen Skurrilität durchdrungen (und zeigen auch grafisch gewisse Verwandtschaft).

Und jetzt „rin in die Kartoffeln“: Ich blättere in den Band hinein, um Ihnen einen vertieften Eindruck zu  verschaffen.
(Achtung: Instagram hat offenbar zum März 2023 seine Video-Uploads eingestellt. Ich kann keine langen Videos mehr posten. Hiermit produziere ich ab sofort sogenannte „Reels“ direkt aus Instagram heraus, die Dauer ist auf maximal 90 Sekunden begrenzt!)