Ein Hauch von WATCHMEN, ein Schuss UMBRELLA ACADEMY, eine Prise „Homeland“ – dann hat man die Handlungsbausteine für SEVEN SONS beisammen.
Das meine ich respektvoll, denn die Autoren Robert Windom und Kelvin Mao schaffen es, aus ihren Zutaten einen schmackhaften Comic zu bereiten.
Wir befinden uns im Jahr 1998: Eine Welle neuchristlicher Religiosität hat die USA erfasst – und in Las Vegas (das jetzt „New Canaan“ heißt) erwartet man die Wiederkehr des Gottessohns. Genauer gesagt: einem von sieben.
Denn der erfolgreiche Kult um die „Sieben Söhne“ wird einen von ihnen zum neuen Messias erheben. Bis dahin macht der Prophet Nicolaus, Kopf der Kirche, einen tollen Reibach mit Erweckungsshows, Fernsehübertragungen und Merchandising!
Aber es sind finstere Zeiten. Dem neuen Superglauben, der sich global verbreiten möchte, stehen „Allahs Wächter“ gegenüber, eine Bewegung islamistischer Terroristen, die alle sieben Söhne ermorden möchten. Das ist ihnen bei vieren von diesen bereits gelungen.
Wir schalten in die Handlung, als die verbleibenden drei Söhne Pergi, Ep und Delph mit ihrer Rolle ringen und sich fragen, wer von ihnen den Messias-Job überhaupt haben will.
Hier sehen wir die Drei im Streitgespräch mit ihrem „Chef“, dem Propheten Nicolaus, der die ganze Chose steuert und bestimmt:
Ich sagte „ein Hauch von WATCHMEN“, weil wir es bei SEVEN SONS mit einer Alternativweltgeschichte zu tun haben: Das war nicht unsere Realität des Jahres 1998, es gab keine Kirche der „Seven Sons“, kein New Canaan, keinen islamischen Terror.
Hoppala, den gab und gibt es doch. Aber weshalb spielt dieser Comic 1998, wo er doch (nach dieser Realitätsvorgabe) genauso gut 2020 spielen könnte? Eben weil wir mit dem islamistischen Terror seit 2001 zu vertraut sind. SEVEN SONS muss hinter dieses Datum zurück, weil sich der Terror aus anderer Quelle speist.
Damit kommen wir zur Prise „Homeland“ (die TV-Serie), wo sich die Triebfeder der Handlung mit der US-amerikanischen Bombardierung unschuldiger Muslime spannt. Ähnlich hier: Sarboz, der Anführer von „Allahs Wächtern“, handelt aus Rache für die Ermordung seiner Schwester durch Richard Antipas – der Mann, der die sieben Söhne erschaffen hat.
Und wie in „Homeland“ kulminiert das Geschehen darin, dass ein Terrorkommando in die USA reist und den Präsidenten bzw. den Messias in die Luft sprengen will!
Woher kommen denn diese heiligen Männer, diese sieben Söhne, werden sie sich fragen. Die hat man aus der UMBRELLA ACADEMY ausgeliehen.
In beiden Comics werden unter mysteriösen Umständen zeitgleich überall auf der Welt jungfräuliche Babys geboren.
Die sind offenbar vom erwähnten Genetiker Richard Antipas geklont und im Lauf der Jahre vom Propheten Nicolaus eingefangen und für seine Mission trainiert worden. Nicolaus nämlich war Geldgeber von Antipas und strebt nach der religiösen Weltherrschaft.
Die sieben Söhne haben keinerlei übernatürlichen Fähigkeiten wie ihre Geschwister von der UMBRELLA ACADEMY, aber die Figur des Nicolaus ist verdammt nah am Patriarchen der Academy, Reginald Hargreeves.
Egal! Die Mixtur ist gelungen.
Klingt kompliziert?
Man hat eine Menge aufzunehmen, einzuordnen und zu verarbeiten. Zumal SEVEN SONS nicht linear erzählt, sondern mit heftigen Zeitsprüngen und Rückblenden arbeitet. Was auf den ersten Seiten passiert, gehört zum Finale des Buchs, ohne dass wir wüssten, dass es sich bei der Hauptfigur um Delph handelt, dessen Geschichte sich erst langsam aufblättert.
Und die ist komplex. Erst reißt er mit Bruder Ep heimlich ins Nachtleben aus und lernt die Krankenschwester Grace kennen. Nach dem Tod eines weiteren Bruders begibt sich Delph auf die Flucht, trifft dabei auf die Muslimin Sophia, spürt dem Geheimnis seiner Herkunft und dem verschwundenen Richard Antipas nach.
SEVEN SONS ist erfreulicherweise alles andere als eindimensional. Sophia bringt Delph den wahren Islam nahe (den Nicolaus weltweit hat ächten lassen!) und begegnet schließlich Sarboz, der ihn zuerst umbringen möchte.
Doch Delph liefert ihm Beweise, dass die neue Religion von langer Hand geplant und inszeniert worden ist. Damit hofft er, den Terroranschlag am Tag der Messias-Verkündigung (Bruder Pergi ist inzwischen dafür vorgesehen) verhindern zu können.
Als er in die USA zurückkehrt und seinen Ziehvater Nicolaus konfrontiert, kommt es zur Kastastrophe.
Es passiert eine Menge in SEVEN SONS, sehr komprimiert und oft nur wie am Rande geschildert: Delph nämlich hat doch übernatürliche Fähigkeiten, Nicolaus hat Leichen im Keller, Antipas hat tatsächlich göttliche DNA zur Klonung der Söhne benutzt.
Ganz zu schweigen von dem, was sonst noch geschieht: Die Machenschaften von Nicolaus und seinem brutalen Handlanger Stanstead. Das Verhalten der Brüder Pergi und Ep. Die Attentate der „Wächter Allahs“ und ihr Aufstand gegen die „Sieben Söhne“. Das geheimnisvolle Wirken von Richard Antipas wie auch sein Verschwinden.
Die größte Leistung dieses Comics besteht darin, dass ich ihn verstanden habe.
In meinem Artwork schwimmt eine Fliege
Ein Coup ist natürlich, dass man Zeichner Jae Lee für die Illustrationen gewinnen konnte. Hier allerdings mache ich Abstriche.
Lee hat sich in den Werken DARK TOWER und BEFORE WATCHMEN: OZYMANDIAS als absoluter Bildmagier bewiesen. Eine Leistung, die er hier nicht wiederholen kann.
Wenn Sie zum ersten Werk vergleichen mögen, ich habe mein Analyse zur Anschauung verlinkt. Lee ist dann am besten, wenn er großformatige Bilder gestalten darf (wie in DARK TOWER) oder ein passendes Grundlayout bespielt (wie in BEFORE WATCHMEN).
In SEVEN SONS jedoch zwingt man ihn (zwingt er sich?) in kleinformatige Normraster-Seiten, auf denen sein Zauber oft verpufft.
Großartig hingegen sind und bleiben seine wenigen ganzen Seiten, aber (jetzt kommt ein böser Befund) diejenigen Seiten oder Doppelseiten, auf denen Lee kreativ wird, wirken, als wolle er Andrea Sorrentino kopieren!
Der Italiener gilt seit GIDEON FALLS als Neudenker des Comic-Layouts, der auf seinen Seiten gern beinahe psychedelische, aber dennoch zielführend organische Kompositionen kreiert. (Kleine Werkprobe bei mir unter der Besprechung von PRIMORDIAL einsehbar.)
Lee in SEVEN SONS hinterlässt bei mir einen eher willkürlich montierten Eindruck.
Des Weiteren ist gerade Jae Lee ein Künstler, der komplett von seiner Kolorierung abhängt (habe ich im DARK-TOWER-Beitrag ausgeführt.) Die adäquat verrückte Farb- und Lichtsetzung, die mit dem Kollegen Richard Isanove die halbe Miete war, kann in SEVEN SONS Koloristin June Chung nicht leisten.
Will sagen: Jae Lees Artwork macht sich selber klein.
Gut, dieser Comic umfasst stramme 210 Seiten. Dafür die Magie auszupacken, bezahlt einem keiner. Meine Snob-Ansprüche werden zwar nicht erfüllt – das muss Sie aber nicht stören!
Dem Kreativteam ist ein intelligenter, packender und komplexer Comic gelungen. Wer zeitkritische Werke mit Mystery-Touch mag, dem sei dringlich zugeraten.
Zur Verdeutlichung blättere ich eine Minute lang hinein: