Alter Hut steht gut: die DARK-TOWER-Comics

In den Tausenderjahren war ich von Berufs wegen nicht so drin im Thema Comics und habe fast alles verpasst, was von 2000-2010 erschienen ist, so auch THE DARK TOWER. Per Zufall stieß ich dieser Tage drauf – und bin kindlich begeistert von diesem Fantasy-Horrormärchen mit Western-Hautgout!

Was hier zwei Autoren mit der literarischen Vorlage veranstalten, was zwei Zeichner in traumartigen Visionen grafisch umsetzen ist ein zeitloser Höhepunkt im Western-, Horror-, Fantasy-Genre (Sie suchen sich eins aus, es passt immer).

THE DARK TOWER (DER DUNKLE TURM) ist wie kein anderer Comic, dieser Artikel möchte es Ihnen durch eine Analyse nahebringen.

Faktisch erwähnt sei zunächst, dass THE DARK TOWER vielen Fans als 4.250 Seiten starkes Roman-Hauptwerk von Horrorlegende Stephen King gilt, die Comicadaption von Robin Furth und Peter David (mit Kings wohlwollender Unterstützung) erstreckt sich über 16 (!) Bände.

Von der Handlung brauchen Sie auf die Schnelle nur zu wissen, dass drei junge Burschen auf Heldenreise (Roland, Alain und Cuthbert) schönen Damen, Hexen, Verschwörern, Söldnern und einem Teufel begegnen.

Ich behandle in meiner Analyse nur den Auftakt der ersten drei Bände, die vor beinahe 15 Jahren erschienen sind. Das Autorenteam bleibt zwar danach zusammen, doch die Illustratoren wechseln im späteren Lauf der Serie, wie gelistet auf der englischen Wikipediaseite.

Auf Deutsch übrigens immer noch lieferbar bei Splitter.
Wobei ich zu Beginn meine Bedenken gegen eine Übersetzung äußern möchte: Großes Vergnügen nämlich bereitete mir das eigentümliche Englisch, in dem DARK TOWER verfasst ist. Wir haben es mit einem Westernslang zu tun, durchsetzt mit blumigen Shakespeare-Anflügen – eine schräge Mixtur.
In dieser Erstbegegnung von Roland Deschain (als Will Dearborn getarnt unterwegs) mit Susan Delgado nimmt der Text sogar Bezug auf „Romeo und Julia“ durch Verwendung des Begriffs „star-crossed lovers“.

Damit sind wir schon mittendrin in der Analyse und bei Faszinosum Nummer Eins: dem Text und der Erzählhaltung von THE DARK TOWER.

Erzähl mir was Schönes

 

Ein sich namentlich nicht vorstellender, allwissender Erzähler berichtet uns die Saga vom „Gunslinger“, vom mythischen Revolvermann (zu dem Roland Deschain einst werden wird), dabei erlaubt sich diese Erzählperson kuriose Ausschmückungen.
Hier wird nicht geradlinig erzählt, hier schwelgt jemand in Erinnerungen und philosophischen Betrachtungen, ironischen Kommentaren, persönlichen Urteilen und dramatisch überspitzten Formulierungen.

Auch wenn diese Erzählperson die Gesamtsituation neutral überblickt und nicht direkt eine Seite einnimmt, so hat sie einen individuellen Ton „am Leib“ – diese entkörperlichte Instanz ist ein Wesen mit klugen (oder altklugen?) Einsichten, mit denen es auch nicht geizt.

Will sagen: Der Erzähler in THE DARK TOWER ist ein reizvolles, da ambivalentes Element dieser Adaption. Er ist auch völlig willkürlich, in dem, was er uns auftischt. Er springt von Figur zu Figur, hält sich hier und da mit Nebenhandlungen auf und erzählt nicht so konsistent, wie er könnte.
Ein Spaß an THE DARK TOWER liegt darin, sich von der Erzählperson „verführen“ zu lassen. Und natürlich darf man sich auch eine Frau als Erzählerin vorstellen …

Meiner Meinung generiert  die spezifische Erzählhaltung ein Spannungsfeld komischer Fallhöhe. Wir sind zwar nah dran am Geschehen, dennoch bewahrt der neunmalkluge Kristallkugel-Plauderton eine Distanz. Wir fühlen zwar mit den Charakteren mit, dennoch ist uns auf jeder Seite bewusst, dass wir es nur mit Figuren eines wahnsinnigen Skripts zu tun haben.

Ist unser narrativer Gastgeber womöglich ein Verrückter,
ein Clown, ein Fabulierer, der uns als Geiseln seiner
unendlichen Geschichte genommen hat?

 

Faszinosum Nummer Zwei sind natürlich die Zeichnungen, die jeder Konvention Hohn sprechen.

Vorzeichner ist der US-Amerikaner Jae Lee, der mir mit seinen eigenartigen Kompositionen bei BEFORE WATCHMEN: OZYMANDIAS aufgefallen war. Reinzeichnung und Farbgebung besorgt hingegen der Franzose Richard Isanove, längst in die Vereinigten Staaten übergesiedelt und fleißiger Kolorist für Marvel und DC.

Das Ballett der Bilder

 

Comics sind „Theater auf Papier“, wie manche glauben? In Jae Lees Fall sind Comics Tanztheater auf Papier! Sie haben inzwischen ein paar Seiten gesehen, sind Sie nicht befremdet von diesem Artwork?

Lee und Isanove lassen ihre Figuren statisch erstarren, Posen einnehmen, durch den Raum schweben. Beleuchtung und Bühne tun ein Übriges: Isanoves fieberhafte Farben setzen die Tradition eines Richard Corben fort und tauchen Menschen und Landschaften in giftige Nebelschwaden oder leuchtendes Neon.
Das ist kein Comic, das ist Ballett.

Jede Seite ist anders, die gewählte Kamerasperspektive scheint nahezu willkürlich, Hintergründe fehlen oft oder werden durch ein prägendes Objekt markiert, die Figuren sehen wir selten frontal, sondern meist nur von hinten, im Anschnitt, im Schatten.
Dieser Comic will keine Identifikation aufkommen lassen mit irgendwas – weder dem Personal noch der Welt, die wir zu sehen bekommen.

THE DARK TOWER ist eine flüchtige, filigrane Erzählung im Wind, ein Schattenspiel, ein mangelhaftes Mosaik, ein märchenhafter Traum.

Ich zeige jetzt noch die beiden allerersten Seiten dieses Werks. Lesen Sie sich den nächsten Satz durch und stellen Sie sich dabei die grafische Umsetzung vor. Wie würden Sie folgende Szene mit der Kamera oder dem Stift einfangen?

Der Gunslinger verfolgt seinen Erzfeind, den „Man in Black“, durch eine Wüste.

Ich sehe vor meinem geistigen Auge eine karge John-Ford-Westernlandschaft, in der Ferne Felsen, die Kamera schwebt hoch in der Luft. Ein Westernbösewicht hetzt schwitzend über Stock und Stein, er schaut sich ab und zu um – und ganz weit weg trabt tatsächlich auf einem Pferd sein Verfolger: ein stoisch und entschlossen blickender Clint-Eastwood-Typ, seinen Hut ins Gesicht ziehend.

Jetzt schauen Sie mal, was bei Lee und Isanove daraus wird:

Erst mal wird nur Licht, dann fokussiert die Szene in Nahaufnahme auf aasfressende Geier, dann stürzt ein fledermaushafter Mann durchs Bild, verscheucht die Geier und entschwindet selber wie ein dunkler Vogel im Nebel.
Dann kehren die Geier zu ihrem Mahl zurück, wir blättern auf die nächste Seite, die Farben sind anders, ein Zeitsprung scheint stattgefunden zu haben: Statt Mittag könnte es Abend sein.
Die Knochen sind blank geputzt, die Geier verschwunden, nun knallt ein riesenhafter Stiefel auf die Szene. Der Träger desselben hält inne, prüft eine Spur am Boden, dann sehen wir diesen Mann, offenbar den Verfolger, aus der Froschperspektive einen Schluck Wasser aus einer Feldflasche trinken.
Niemals sehen wir ein Gesicht von Jäger oder Gejagtem, die ganze Szenerie scheint mit Personen nichts zu tun zu haben. Es geht um eine grausame Landschaft (Geier, Knochen, Wüste, Sonne), in die zwei Menschen schicksalhaft geworfen scheinen.

Der Text erklärt uns, wer die Personen sind. Das Artwork hingegen illustriert nicht in erster Linie, sondern nutzt das Mittel der Text-Bild-Schere für einen Verfremdungseffekt.

Ein Mann in Schwarz läuft durch eine Wüste? Okay, wir zeigen jedoch lieber Geier, Knochen, Blutfetzen und einen wehenden Umhang.
Der Revolvermann ist hinter ihm her? Meinetwegen, aber wir stellen ihn vorerst nur mit Eindrücken von seiner Lederpanzerung vor.
Das ist eine spezielle Auswahl von Bildmotiven, präsentiert in ungewöhnlichen Bildanschnitten.

Verblüffendes Teamwork

 

Beobachtung am Rande: In Band 4 („Fall of Gilead“, den ich jetzt noch für einen grafischen Vergleich heranziehe) ist Jae Lee nicht dabei, sondern Richard Isanove gestaltet die Seiten allein.
Obwohl der Look derselbe ist, fühlt sich dieser Comic anders an, hat eine andere Ausstrahlung – denn die Komposition der Seiten ist anders. Isanove schafft es solo nicht, diese theatralische Anmutung von Lee zu imitieren.

(Ich präsentiere das spezielle Verhältnis von Lee und Isanove in diesem eigenen Video: Es hat mich selber erstaunt, was ich hier noch gelernt habe, denn Lee macht zwar nur Pencils und Isanove scheint den ganzen Look zu bestimmen, aber dann behauptet sich doch die Kraft der Vorzeichnung. Im Vergleich perfekt zu sehen.)

Come on, Aileen!

 

In Band 3 („Treachery“) erleben wir den Auftritt einer weiteren starken Frau – und wie herrlich verschroben wird der uns präsentiert!
Die Nichte des Waffenausbilders Cort will ein selbstbestimmtes Leben führen und auch ein Gunslinger sein. Der Erzähler verrät uns, dass diese Aileen nicht verheiratet werden möchte, sondern lieber tot wäre. „Die meiste Zeit ist sie einfach nur frustriert, doch heute wird sie die Dinge in die Hand nehmen.“

Mit dem Schlüssel ihres Onkels verschafft sie sich Zutritt zur Waffenkammer und rüstet sich mit Pistolen aus. Der Erzähler vergleicht ihre Vorfreude auf sehr altbackene und unangebrachte Weise mit den Sexualakten einer Hochzeitsnacht.
In meiner Interpretation soll das ganz bewusst plump und skurril wirken.
Schauer der Verzückung“? Ich bitte Sie!

Beachten Sie, dass Lee und Isanove auf diesen beiden Seiten kaum die Gesichtszüge der jungen Frau porträtieren. Die Atmosphäre der Waffenkammer mit ihren seltsam hängend arrangierten Riemen und Ketten spielt hier die Hauptrolle. Aileen gerät in den Sog dieses Systems.

DARK TOWER bleibt seinem grafischen Konzept treu und schildert uns die Figuren als von dieser Welt beherrschte, gewissermaßen ferngelenkte Getriebene. Die Illustration insinuiert, dass das Schicksal größer als die Charaktere ist. Umso überraschender, wenn der Text und das Geschehen dagegen arbeiten.

Aileens Vorstellung mündet in eine wunderbare Slapstick-Szene mit einem Schießtraining der Jungs und den heruntergerutschten Hosen von Cuthbert.
Wieder erfreut mich diese Serie mit einer eigentlich unpassenden Comedy-Einlage, die aber dennoch viel transportiert: die Konkurrenz der jungen Gunslinger untereinander, die Frau als Fremdkörper in dieser Welt und die Suche nach Bestätigung, die uns alle antreibt.

Cuthbert hat nicht realisiert, dass sich Aileen auf die Szene geschlichen hat. Awkward, but funny!

 

THE DARK TOWER hat mich alte Unke nochmal richtig vom Stuhl gehauen. Eine solch wunderbar Melange aus Text und Bild ist mir noch nicht unter die Augen gekommen. Salopp formuliert: Es ist abartig, wie viel Kunst die Kreativen aus diesem Groschenheftquatsch herausholen!

Dafür liebe ich Comics. Einfach mal drauf geschissen, ob das Hochkultur sein soll oder banalste Unterhaltung auf narrensicheren Formeln – THE DARK TOWER ist ein Fest der Neunten Kunst.

Hier funktioniert es, weil die schreibenden und die illustrierenden Köpfe sich kompetent Gedanken gemacht haben – und ihren Stoff mit Lust am Knall- und Schaueffekt inszenieren.

Bisschen frech aber finde ich, dass Stephen King zum Kernthema seiner „Mid-World“-Geschichte das Bündnis dreier Jungs macht, von denen der eine (Hauptfigur Roland Deschain) sich stets am Rande des tragischen Scheiterns bewegt.
Seine Inbesitznahme des magischen Artefakts namens „Maerlyns Grapefruit“ bringt ihn des Öfteren fast um den Verstand – zum Glück stehen ihm seine Freunde Cuthbert und Alain rettend zur Seite.

Na, klingeling, Herrschaften! Woran erinnert uns das denn?!
Auch wenn in der Comicadaption der Welt des Dunklen Turms die Landschaften nicht danach aussehen, so klingt doch vieles nach Tolkiens Mittelerde und seinen Protagonisten Frodo Beutlin und den Gefährten Sam, Merry und Pippin.

Aber man macht storytechnisch nichts falsch mit einer Gruppe sympathischer Jugendlicher, die in Abenteuer geraten, die sie eigentlich nicht bewältigen können. Diese Geschichte ist eine Nummer zu groß für sie, die Herausforderungen sind überirdisch, doch das steigert die Spannung (und auch die Freude an Erfolgen) – und erlaubt die Einführung kauziger und memorabler Nebenfiguren, die mit ins Geschehen verwickelt werden.

In THE DARK TOWER sind das zum Beispiel der Krieger-Vater Steven Deschain, die treulose Mutter Gabrielle, der intrigante Verführer Marten Broadcloak, der bullige Waffenausbilder Cort, die böse Truppe der „Big Coffin Hunters“, die teuflische Hexe Rhea, die noble Susan Delgado, der heldenhafte Dorfjunge Sheemie sowie die unheimliche Nemesis, das Genie des Bösen: the Crimson King!

Dieses Namedropping zum Schluss lässt erahnen, dass es viel zu entdecken und zu studieren gibt in dieser Comicserie. Ich hoffe, ich habe Ihnen verdeutlichen können, was so besonders daran ist. Wie immer blättere ich noch durch ein paar Seiten – lassen Sie sich vom Rausch der Bilder mitreißen: