Das ist ein Comic aus dem Jahr 2000, ein buntes Über-Album von 75 Seiten Länge und das vielleicht unbekannteste Werk von Jacques Tardi, dem französischen Großmeister – hauptsächlich berühmt für seine ergreifenden, aber auch schwerblütigen Schwarzweiß-Comics über Weltkriegserlebnisse (DIE WAHRE GESCHICHTE VOM UNBEKANNTEN SOLDATEN, DAS ENDE DER HOFFNUNG, KRIEGSGEFANGENER IM STALAG IIB).
Auch populär sind seine Krimis (meist auch schwarzweiß, darunter NESTOR BURMA), doch in meinen Augen zu kurz kommen seine satirischen Arbeiten wie die Serie um ADELE BLANC-SEC oder der vorliegende Band nach einem Szenario von Daniel Pennac.
Und wenn Tardi koloriert, hat er eine völlig andere Anmutung! In Farbe ist er fröhlich und locker, sein unverkennbarer Strich transportiert eine Schelmenhaftigkeit, die mehr an klassische frankobelgische Semifunnys anknüpft als an die „Comics für Erwachsene“ der 1980er-Jahre.
(Ich zeige am Ende des Beitrags im Kurzvideo eine Tardi-Rarität, die mich als Jugendlicher schon beeindruckt hat: eine quietschbunt-brutale 10-Seiten-Gaga-Weltraumschlacht, meines Wissens nur einmal veröffentlicht in SCHWERMETALL Nr. 14 vom März 1981.)
Doch erst der Auftakt dieses Albums:
Einmal ABWÄRTS, bitte!
Passend zum Pop-Look bekommen wir eine kauzige Geschichte serviert:
Das alte Mütterchen mit der derben Sprache entpuppt sich als knallharte Polizeikommissarin, die einen Räuber dingfest macht.
Im Begleitwagen steht zivile Kriminalpolizei zur Unterstützung bereit:
Der rotblonde Polizist am Telefon ist unsere Hauptfigur, Justin, der am Handy Süßholz mit seiner neuen Flamme Lili raspelt. Seine Kollegen beschweren sich über sein Abgelenktsein, vielleicht sind sie auch neidisch.
So schräg beginnt ABWÄRTS, ein kaum als Krimi zu kategorisierender Comic, der zwar im Folgenden einen Todesfall im Pariser „Jardin de plantes“ schildert, aber eigentlich von Justins Sprunghaftigkeit und den Mechanismen des Kapitalismus und der Medien handelt.
Wir begegnen der Tierärztin Lili, verantwortlich für die Gehege mit Affen und Raubtieren, wie sie ein noch lebendes Kätzchen aus dem Rachen des narkotisierten Tigers Georges rettet, sowie ihrem Kollegen, dem Hauptmann, gewandet wie ein Operettenkapitän mit Großwildjäger-Outfit.
Wieder sehr skurril – und in dem Stil geht es weiter!
Im Affengehege hat sich plötzlich ein Mensch eingesperrt. Ein abgerissener, trauriger Vogel, der dort teilnahmslos hockt und sich von Tierfutter aus der Dose ernährt. Er spricht nicht, er reagiert nicht, er verhält sich wie ein verletztes Tier in tiefster Depression. Das Schild am Käfig weist die Person als „Arbeitslosen“ aus.
Niemand weiß, wer der Mann ist. Niemand weiß, was die Aktion bezwecken soll. Eine Performance? Eine Anklage? Ein Jux?
Presse und Medien rücken an und berichten. Nonnen beten für ihn, Kinder stellen kritische Fragen, die Bourgeoisie amüsiert sich an den Fernsehberichten.
Das geht eine volle Woche lang so, dann hält Lili dem Unbekannten eine Gardinenpredigt. Sie ist es leid, dass er den Käfig okkupiert hat und die Tiere ringsum vom Rummel um diese Aktion verstört sind. Am nächsten Tag ist der Käfig leer und der Mann tot. Man findet ihn erhängt in einem anderen Teil des Parks.
Fürs erste geht man von Selbstmord aus, doch die Polizei ermittelt – und Justin bekommt den Fall aufgehalst. Tatsächlich findet er eine Spur und ermittelt die Identität des Toten: Hubert Lahache hieß der Mann und war Chef des Tierfutterkonzerns „KatyDog“. Aus PR-Gründen hatte er sich verkleidet und zurechtgemacht und sich tagsüber für einige Stunden in den Käfig gesetzt, um seine Marke diskret ins Bild zu rücken.
Seine überhaupt nicht betrübte Witwe fängt sofort eine Affäre mit Justin an, der an seinem Polizeiberuf zu zweifeln beginnt und sich der Welt der Werbung und der Industrie zuwendet. Es geht so weit, dass die beiden die Firmenleitung übernehmen und da weitermachen, wo Lahache aufgehört hatte: nämlich Personal entlassen!
Justin ist jedoch auch noch Polizist und untersucht die Alibis der Menschen, die zuvor von der „KatyDog“ gefeuert worden waren. Firmenchef Lahache war ein echter Drecksack und an Tatverdächtigen herrscht daher kein Mangel.
Parallel ermittelt auch Lili mit dem Hauptmann im Umfeld des Parks. Sie fühlt sich erst schuldig am vermeintlichen Selbstmord, doch dann findet sie eine Betäubungsspritze und ahnt, wer Lahache des Nachts narkotisiert und aufgehängt hat!
Autor Pennac dreht die Geschichte so, dass es zur Konfrontation zwischen Justin und Lili kommt. Die Schuld am Tod des Unternehmers wird ihr in die Schuhe geschoben, was dem Album einen prallen Twist verleiht und die Figuren noch einmal neu aufstellt.
Und ABWÄRTS wäre kein französischer Comic, wenn nicht tüchtig auf die Großkapitalisten geschimpft würde, hier aus Perspektive des „kleinen Mannes“, der kein Blatt vor den Mund nimmt.
A lighter shade of Jacques
Jetzt darf ich die letzten 20 Seiten nicht verraten, denn dieser schräge Krimi fügt sich dramaturgisch clever zusammen und endet noch auf einer herrlich schwarzen Pointe. Sagen wir nur so viel: Die Gerechtigkeit siegt und die Schmierlappen bekommen ihr Fett weg.
Tardi inszeniert den Stoff mit sichtlichem Vergnügen und mit dem souveränen Einsatz seiner bewährten Stilmittel. Sein flotter Strich charakterisiert seine Figuren auf unnachahmlich markante Weise: die griesgrämigen Polizisten, der stoische Hauptmann, die patente Lili, der windige Justin, der traurige Arbeitslose, die eiskalte Witwe … man gewinnt sie alle lieb!
Nicht zu Unrecht gilt Tardi als Comicgenie. Ich kenne nichts von ihm, was langweilig wäre. Dieser Künstler setzt seine Seiten intuitiv und behutsam um, indem er subtile Kompositionen benutzt. Seine Layouts wirken zwar auf den ersten Blick „langweilig normal“, doch Tardi bedient sich immer wechselnder Panel-Arrangements, sprechender Bildausschnitte, effektvoller Close-ups, natürlich auch stimmungsvoller Licht- und Farbeinsätze.
Mich begeistert der bunte Tardi. Die Kolorierung akzentuiert seine im Grunde immer karikaturhafte Zeichenweise.
(Ich mag Musik nur, wenn sie laut ist. Tardi nur, wenn er bunt ist.)
ABWÄRTS ist eine knallige Parabel auf den Turbokapitalismus, ein sarkastischer Kommentar auf das „Fressen und gefressen werden“, auf die Mechanismen der Verwertbarkeit, die die beginnende Globalisierung selbst Frankreich aufzwingt.
Ein Thriller mit Message? Ein Gesellschaftsporträt mit absonderlichem Setting? Ein Zeitstück mit Nonsens? Handfest auf der einen Seite, schrullig auf der anderen: Selten war Krimi so beschwingt.
Und hier ist noch der versprochene Clip mit einer selten gesehenen Tardi-Kurzgeschichte.