Neulich, im Ego-Moloch: DIE GROSSE LEERE

Kann man einem Comic, der DIE GROSSE LEERE heißt, mangelnden Gehalt vorwerfen? Hahaha. In der Tat kann man den Inhalt dieses Werks auf eine simple Formel runterbrechen: Es tut nicht gut, nach Likes und Followern zu gieren.
Darum nämlich geht es. Protagonistin Manel Naher will im Socia-Media-Zirkus nicht mitspielen, muss es aber doch, weil sie sonst ihrer Existenz verlustig ginge!

Das ist die fantastische Prämisse dieser Graphic Novel: Taucht dein Name nicht regelmäßig in der Öffentlichkeit auf, schwinden deine Lebenskräfte und bringen dein Herz zum Stillstand.
Waaaas, glauben Sie nicht? Doch, doch, schauen Sie hier, wie sich Manel nach einer Vergessens-Attacke nach Hause schleppt.

Das sieht doch bedenklich aus. Die Gesundheitskrise abwenden kann Manel nur, indem sie sich erst in eine Tanzschule zum Ringelpiez mit Anfassen begibt (wo man sich gegenseitig seiner Präsenz versichert), dann eine Karaoke-Bar besucht, in der die Leute von der Bühne herab Namen singen (den eigenen wie die der Anwesenden). Kapiert?

An dieser Welt nimmt nur teil, wer sich aktiv ins Leben stürzt, Werbung für sich macht, prominent zu sein versucht. Deshalb bestehen die Stadtlandschaften in DIE GROSSE LEERE aus bunten Häuserschluchten mit plakatierten Personalien und Neon-Namen.

Manel aber ist eher ein Bücherwurm, liest sich durch den Buchladen ihres Bekannten Patrick und hängt zu zweit mit ihrem Freud Ali ab. Beide planen, diesem allgegenwärtigen Bestätigungs-Terror zu entkommen und in die sagenumwobene analoge Zone namens „Die große Leere“ zu flüchten.
In die Quere kommt ihr dabei der gesundheitliche Zusammenbruch. Um zu überleben, muss Manel sich akut gesellschaftlichen Zwängen beugen. Eine Ärztin verschreibt ihr intensives Ausgehen.

Verkompliziert wird die Sache dadurch, dass Manel eine Namensvetterin hat, die ein musikalischer Superstar ist. Diese andere Manel Naher raubt ihr durch Überpräsenz noch zusätzlich Lebenskraft.

Deshalb fasst unsere Manel den verzweifelten Entschluss, jetzt richtig auf die PR-Pauke zu hauen und alles dafür zu tun, wahrgenommen und erinnert zu werden: Sie besucht einen Nachtclub, wirft sich auf der Straße fremden Menschen an den Hals und trompetet ihren Namen heraus.

Doch es kommt zum Eklat. An der Ecke trifft sie auf eine Frau, die (um für sich selber Aufmerksamkeit zu generieren) den Hit der anderen Manel Naher singt – und unsere Manel rastet aus!

Sie prügelt die Unglückliche mit ihrem Sandwich-Schild und gewinnt durch diese aggressive Aktion Aufmerksamkeit und Ruhm. Auch Gewalt macht unsterblich, wie uns die Geschichte lehrt. Ruckzuck ist Manel auf allen Kanälen, darf ihre Fans ohrfeigen und wird von allen hofiert.

Allerdings verkracht sie sich mit ihrem Kumpel Ali, der sich Sorgen um ihre Psyche macht und sie immer noch in die große Leere entführen will.

Wahrscheinlich sind ihnen auf den Beispielseiten schon die verrückten Ideen der Autorin und Zeichnerin Léa Murawiec aufgefallen. Beginnen wir die nächste Sequenz mit einem köstlichen Detail – Alis missfälligem Gesicht als Spiegelung in Manels Suppe!

Mich begeistert diese Künstlerin mit ihrer hyperexpressiven Grafik und den unkonventionellen Layouts. Auch erlaubt sie sich imposante, stumme, stimmungsvolle  Doppelseiten, die mich den Atem anhalten lassen.
(Kann ich nicht scannen, sehen Sie im Reel am Schluss des Beitrags.)

Manels Leben ändert sich grundlegend. Ihr Freund Ali zieht ohne sie aus der Stadt, ihre Familie in Gestalt von Mutter und Schwester (ohne die Manel längst verschwunden wäre) gerät in Vergessenheit und ihr Bücherdealer Patrick gibt den Laden auf – an dessen Stelle tritt ein Geschäft für lustige Hüte.
(Auch das so ein skurriler Murawiec-Einfall, der wie von Monty Python inspiriert scheint.)

Die Heldin dieses Comics gibt sich ganz ihrem exaltierten Dasein hin und merkt zu spät, was sie alles verloren hat. Hier überwältigt sie sturzartig die Erkenntnis:

Das Leben ist immer noch analog!

Der Gehalt ist simpel. 200 Seiten Comic für eine Warnung vor einem entfremdeten Leben?
Der Verlag Edition Moderne nennt DIE GROSSE LEERE „eine wilde Allegorie auf soziale Netzwerke, medialen Ruhm und gesellschaftliche Anerkennungsdynamiken“. Dort ist auch eine Leseprobe einsehbar.

Es ginge jedoch an der Sache vorbei, DIE GROSSE LEERE als seicht oder oberflächlich abzutun, denn dies ist kein gesellschaftskritischer Roman, sondern ein Bilderkunstwerk, wie man es nicht oft zu sehen bekommt.

Murawiec will uns keine Moral auftischen, sondern uns unterhalten mit ihrer herrlich verschobenen und verschrobenen Parallelwelt, in der Aufmerksamkeit nicht bloß Währung, sondern Lebenselixier ist.

Die Kritik am Digitalen in den analogen Alltag zu übertragen, ist ein toller Kunstgriff. Das wäre ein langweiliger Comic, wenn wir uns in den sozialen Netzwerken bewegen müssten und auf Screens, Chatverläufe, Klickzahlen schauen müssten.
Doch in DIE GROSSE LEERE kommt nirgendwo ein Smartphone, Tablet oder Handy vor! Die hier bebilderte Aufmerksamkeitskultur spielt auf der Straße, in Discos, in Fernsehstudios und ist eigentlich vollkommen retro.
Hier läuft Manel durch die Murawiec-Welt der Personalwerbung und schenkt (in der unteren Bildhälfte) ihrer Schöpferin ein Lächeln (kleiner Gag am Rande, schauen Sie genau hin.)

So großartig die Illustrationen sind, muss ich auch betonen, dass die Handlung nicht außer Acht gelassen wird. Es geschehen wohlplatzierte Entwicklungsschritte, die ich nicht verraten will, aber der Umbruch kommt, als Manel dem unsterblichen Baby begegnet.

In ihrer Persönlichkeitskrise bekommt sie von diesem Kugelkopf mit der dicken Zigarre (der von einem Träger auf zwei Händen balanciert wird) den Kopf gewaschen. Manel solle sich nicht so anstellen, sondern ihren Star-Status genießen, er gehe sowieso bald genug zu Ende.

Diese eigenartige Konfrontation serviert uns Murawiec aus dem Nichts und verstärkt für mich den hypnotischen Leseeindruck, den DIE GROSSE LEERE auch bescheren kann. Mir gefällt sehr, dass die Künstlerin auch vor einer gewissen Psychedelik nicht zurückschreckt.

Manels Verschwinden im Analog-Nirwana zum Finale ist keine Überraschung.

Französische Kritiken zeigten sich durch die Bank vom Schluss enttäuscht, was ich nachvollziehen kann. Manels doch noch vollzogener Aufbruch in die große Leere ist auf puren Kontrast angelegt, ist in seiner Überdeutlichkeit fast kitschig und führt in ein offenes Ende. C’est la vie, c’est le vide.

Macht aber nichts. Bis dahin bin ich so abenteuerlich und so kreativ bei Laune gehalten worden, dass ich nur staunen kann. Léa Murawiec ist eine Ausnahmekünstlerin, une artiste exceptionnelle. Ihre Arbeit ist Weltklasse, dabei ein Comic-Debüt!
Und ähnlich wie Julia Bernhard bei uns ist sie sofort an die Spitze geschossen, was hier wie dort Auszeichnungen auf renommierten Comicfestivals belegen.

Man darf auf weitere Werke hoffen, doch zunächst noch ein Blätter-Eindruck von DIE GROSSE LEERE: