SHOOTING RAMIREZ wartet auf Vollendung

Man ist unweigerlich geflasht, wenn man den ersten Band von SHOOTING RAMIREZ gelesen hat: Zeichner Nicolas Petrimaux brennt ein visuell kunstvolles und grafisch üppiges Feuerwerk ab, dekoriert mit detailreichem Flair der 1980er-Jahre und präsentiert das Ganze noch mit ironischer Grundhaltung.

Sein Autorendebüt (als Zeichner hatte er zuvor bloß einen Zombies-überrennen-Paris-Comic gezeichnet) ist ein massiver Erfolg, in mehrere Sprachen übersetzt und wahrscheinlich Initialzündung für eine ganze Schule von Nachahmern (allein in Frankreich: NOUS N’IRON PAS À PAISLEY PARK, SPEEDBALL, LE LABO, BLASS LE CHAT, HIT THE ROAD, VIOLENT LOVE) – sowie GUN CRAZY, hier von mir analysiert.

Also: Alle waren voll des Lobes für SHOOTING RAMIREZ, 1. AKT (auf Deutsch erschienen 2019 bei schreiber&leser), inzwischen fortgesetzt mit Band 2, dem „2. Akt“. Siehe Link beim Verlag.

Die Crux am Comicjournalismus besteht darin, dass wir immer nur die Auftaktbände von Serien besprechen. (Kollege Jakubwosky hat jüngst beim Comicmagazin ALFONZ das Muster durchbrochen und den Gesamtlauf der Serie LINCOLN gewürdigt.)

Ich werde immerhin nun eine Analyse der beiden ersten Bände von SHOOTING RAMIREZ liefern (dramatischerweise ist die Albenreihe nicht abgeschlossen, denn der abschließende dritte Band hängt hinterher, seine Erscheinung steht momentan noch in den Sternen!).

Worum geht’s in diesem Comicknaller aus Frankreich? Nehmen wir erst mal den Pressetext:

Jack Ramirez hat es bei Robotop-Hauhaltsgeräte zum Mitarbeiter des Jahres gebracht: ein stiller, allseits beliebter Mann – kein Wunder, er ist stumm. Durch eine zufällige Begegnung gerät er ins Visier der mexikanischen Drogen-Mafia, die ihn lieber jetzt als gleich um die Ecke bringen würde. Eine Verwechslung? Die perfekte Tarnung? Eine raffinierte Falle!? Vor einer Kulisse mit Vintage-Originaldekor beginnt eine verrückte Hetzjagd voll atemberaubender Wendungen.“

Sie sahen Jaques („Jack“) Ramirez, der sich ins Wochenende verabschiedet. Er möchte auf ein Rockfestival nach Stone Creek, wo die Band auftritt, bei der seine verstorbene Frau Schlagzeugerin war.
Auf der Straße jedoch begegnet er der Schauspielerin Chelsea Tyler, die seiner Frau zum Verwechseln ähnlich sieht. Zugleich ist Chelsea mit ihrer Freundin Dakota Smith auf einem Höllentrip durch Amerika: Die beiden rauben Geschäfte und Banken aus und driften ziellos durch die Gegend.


Wie das Schicksal es will, landet das Duo in Ramirez‘ Gurke von Automobil und muss sich in diesem Gefährt eine haarsträubende Verfolgungsjagd mit den Killern eines mexikanischen Drogenkartells liefern.

Damit kommen wir zum vorletzten Plotbaustein von SHOOTING RAMIREZ: Zwei Veteranen der Drogenmafia halten Ramirez für den berüchtigten Auftragsmörder gleichen Namens. Die schlagen Alarm und holen Verstärkung von zunächst vier Mexikanern, denn Mafiaboss Hector hat mit Ramirez noch ein Hühnchen zu rupfen.

Der wildeste der Killer ist der grimmige Ramon, Hectors rechte Hand, der entschlossen ist, Ramirez fertigzumachen, hat der ihn doch ein Auge gekostet.

Letzter Punkt des Handlungsgerüsts: Ramirez wird wirklich verwechselt, denn der wahre Killer ist sein Vater! Der ihm sehr ähnlich sieht, allerding deutlich älter ist. Beider Gesicht ziert ein flammrotes, markantes Muttermal von der Stirn bis zum Kinn – das der Grund, weshalb Ramirez so leicht zu identifizieren ist.

Ich spoilere hiermit einen Twist, der aber auch am Ende von Band 1 schon etabliert ist. Die Kritiken seinerzeit betonten die Köstlichkeit des Verwechslungsspiels, was eigentlich nicht funktioniert.
Denn die beiden Mexikaner, die ihn zu erkennen glauben, müssten auch erkennen, dass dieser Mann viel zu jung ist, um „ihr“ Ramirez zu sein. Denn der echte sieht so aus:

Im Ganzen klingt SHOOTING RAMIREZ nach Kriminalthriller à la Hitchcock, mächtig aufgepeppt in Tarantino-Manier mit bösen Männern und wilden Frauen sowie jeder Menge Feuerstühle (sprich: Autos und Motorräder).
Dazu wird kunstvoll geballert und gekämpft, bis die Software im Zeichentablet raucht.

Ich stifte mal eine Sequenz aus dem zweiten Band, in der sich Chelsea und Ramon ein Duell vor explodierenden Autos liefern:

SHOOTING RAMIREZ blendet uns mit enorm viel Budenzauber. Ich mag diesen Comic, keine Frage. Der Budenzauber ist genial. Ich möchte aber auf den Preis hinweisen, den Petrimaux zahlt, indem er die Action in den Vordergrund rückt.

Die gezeigte Szene ist (fast) das Ende einer Konfrontation zwischen Chelsea, Dakota, ihrem Helfer Perry und Ramirez auf der einen Seite, und Ramon und zwei weiteren Killern auf der anderen.

Die Gesamtlänge dieser Schlacht in einer Garagenwerkstatt umfasst 44 Seiten und damit fast ein Viertel der immerhin 190 Seiten des zweiten Bandes!
Das finde ich monströs und wirkt, als habe Petrimaux wirklich lieber einen Film draus machen wollen.

Mach mal langsam


Dabei weiß der Autor/Zeichner auch mit ruhigen Momenten umzugehen. Denn Band 1 eröffnet mit einer originell inszenierten Verhörsituation: Der FBI-Ermittler Eddy Vox befragt Henry Jackson, einen Arbeitskollegen von Ramirez. Nicht nur wird das Gespräch witzig und stimmungsvoll präsentiert, auch stellt man uns die Hauptfigur durch andere Augen vor.

Der Wunsch nach einem Kaffee charakterisiert wunderbar diese beiden Figuren.

Nämlich als harmlosen und eifrigen Angestellten, der vollen Einsatz für seinen Staubsauger-Reparaturdienst leistet. Fortgesetzt wird der Comic mit einer Büroszenen-Rückblende, in der wir Ramirez im Job erleben. Der Mann ist gutmütig bis dorthinaus und klagt nicht mal über seinen tyrannischen Chef, der ihm Extraarbeit am Wochenende aufhalst.

Es ist nicht so, als sei Petrimaux davon besessen, einen wüsten Haudrauf-Comic hinzulegen – dazu ist seine Konstruktion zu kunstvoll und dazu ist SHOOTING RAMIREZ auch viel zu „meta“.
Jawohl, dieses Werk beinhaltet die eigene Ironisierung, was es natürlich auch schwermacht, ihm ans Zeug zu flicken. Nichts in diesem Werk ist ernst gemeint, denn immer wieder unterbricht Petrimaux die Handlung für Werbeanzeigen für Autos, Staubsauger, Kleidung, Dienstleistungen, Filme, Banken usw.

Das Charmante daran ist, dass diese Metaelemente Rückbezug auf das Geschehen nehmen, siehe folgende Werbung für die National City Bank – die zuvor von Chelsea und Dakota überfallen worden ist! Die Anzeige gibt uns Anhaltspunkte, wie dieser Raubüberfall hat passieren können, denn gezeigt worden ist er uns nicht!

(Stichwort: Tresorkombination aus zwei Ziffern.)

Das ist genial witzig, doch gelingt selten so schön wie in diesem Beispiel. Leider übertreiben diese Werbeblöcke, indem sie sich (manchmal!) selbst sabotieren. So gibt es Anzeigentexte, die sich für schwindlerisch erklären oder damit enden, dass der Werbetexter gefeuert worden ist.
Aus satirischer Denkweise ist das grundfalsch, aber will man es ihnen verübeln? Dieses PR-Getrommel bleibt ein netter Spaß und wird niemals überflüssig inszeniert.

Hauptthema aller Werbung sind übrigens die Staubsauger, die Ramirez so geschickt reparieren kann. Dieser Comic macht Staubsauger zu Kultobjekten, was nicht unserer Realität entspricht und damit dieser Welt einen generellen Verfremdungseffekt verschafft.

Die Staubsauger-Hysterie in allen Medien, die wir hier erleben, ist Petrimaux‘ Kommentar auf moderne Technikbesessenheit, insbesondere die Produkte eines gewissen Herrn Jobs. Betrachten wir diese völlig überzogene Präsentation des neuesten Staubsaugermodells:

Apropos Tarantino: Natürlich (man muss es schon sagen: natürlich) ist SHOOTING RAMIREZ nicht linear erzählt, sondern erlaubt sich Flashbacks und Rückblenden. Schicke rätselhafte Zeitsprünge, wie sie heute zum narrativen Standard gehören.
Die funktionieren und sind meisterlich eingewoben, aber brauchen tut sie niemand. Hier ist Petrimaux in modernen Konventionen gefangen.

Ich wünschte mir, dieses Werk käme ein wenig geradliniger daher.

Hier herrscht kein Personalmangel!


Die Idee mit der stummen Hauptfigur ist sehr schön, aber müssen deswegen alle anderen so viel quasseln? Und brauchen wir überhaupt alle anderen? So viele Kollegen, so viele Mörder, so viele Musiker?
Die Idee mit der stummen Hauptfigur ist sehr schön, aber müssen deswegen alle anderen so viel quasseln? Und brauchen wir überhaupt alle anderen? So viele Kollegen, so viele Mörder, so viele Musiker?

Sehr prominent werden die beiden Frauenfiguren präsentiert, das wilde Thelma-und-Louise-Pärchen Chelsea und Dakota. Aber wer sind die eigentlich? Chelsea ist angeblich ein Filmstar, der irgendwie durchgedreht ist, aber weshalb, das wird uns nicht vermittelt.
Auch in welcher Beziehung sie zu Dakota steht, müssen wir uns selber denken. Sie scheinen ein lesbisches Pärchen zu sein, aber wo und wie haben sie sich kennengelernt? Keine Ahnung.

Autor Petrimaux lässt seine Frauen tüchtig agieren, aber nach zwei Bänden ist mir weiterhin völlig unklar, was sie zu ihrem Amoklauf durch die Vereinigten Staaten antreibt, was überhaupt ihr Plan ist. Mit dem geraubten Geld irgendwohin durchbrennen? Wahrscheinlich.

Im zweiten Band wird eine weitere Ebene eröffnet: Ramirez ist nicht nur ein geschickter Feinmechaniker, er spielt auch Gitarre und hat heimlich mit einigen Kollegen eine Rockband gegründet. Daher sein Aufbruch zum Rockfestival nach Stone Creek, wo er womöglich auch auftreten will!

Ich will den zweiten Band in keinster Weise verspoilern, aber die Geschichte mit der verstorbenen Frau und deren Musikkarriere hallt nach und wirkt fort in SHOOTING RAMIREZ. Band 3 wird garantiert in Stone Creek spielen, wo auf dem Festival alle Fäden und alle Figuren zusammenlaufen werden. Der ausstehende „3. Akt“ wird purer Rock’n’Roll!

Mit einer Menge Gewalt, das ist absehbar. Damit komme ich zu dem Punkt, der mir Sorgen macht. Die Gewalt in diesem Comic ist fies. Band 2 schließt mit einem unangenehmen Cliffhanger: Wer der beiden kämpfenden Figuren wird überleben?

Petrimaux hätte es nicht nötig, diesen Aspekt so auszustellen. Er möchte definitiv mehr Tarantino als Hitchcock sein. Die bezaubernden ironischen und originellen Passagen dieses Werks werden von brutalem Gemetzel desavouiert, möchte ich behaupten.

Ich mag keine Comics, in denen en passant Randfiguren geschlachtet werden. Das geschieht einige Male in SHOOTING RAMIREZ, und es gibt mir einen Stich ins Herz. In Band 2 durchbricht der böse Ramon eine Straßensperre der Polizei und macht drei armen Cops den Garaus:

Muss das sein?! Ramon ist längst als Killer etabliert, diese Sequenz absolut unnötig.

Auch die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Ramirez Senior und Ramirez nimmt eine düstere Wendung. Der Vater wird vom Schutzengel zum Despoten. Er möchte, dass der Junior in seine Attentäter-Fußstapfen tritt und verlangt, dass Ramirez einen Menschen liquidieren soll!
Das wird der nicht tun, denke ich mir, aber weshalb dreht Petrimaux die Figur des Vaters ins Unsympathische? Um sie im weiteren Verlauf leichter umbringen lassen zu können? Der Verdacht kommt mir, wie ich überhaupt befürchte, Band 3 wird ein reines Schützenfest und eine blutige Vendetta jeder gegen jeden. Mit Musik, versteht sich!

Hardrock natürlich, was ich schrecklich klischiert finde. Es hätte besser gepasst, wenn sie zum Countryfestival nach Nashville gefahren wären. Fallhöhe, Leute, Fallhöhe.

Fragt sich also, ob SHOOTING RAMIREZ trotz seiner ironischen Reflexion auf popkulturelle Standards zurückfällt. (Wer sich in die Popkultur-Hommage begibt und dort nur an der Oberfläche kratzt, kommt darin um, hehe.)
Aber das ist Spekulation. Band 3 ist (wie erwähnt) nicht in Sicht, das kann noch ein gutes Jahr dauern.

Wenn ich Sie nicht durch meine Betrachtungen und Bedenken verschreckt habe, empfehle ich Ihnen diesen Comic trotzdem.
Petrimaux macht einen Alarm, wie man ihn in diesem Jahrhundert selten gesehen hat. Sein Beitrag zur Comicgeschichte ist mehr als nur eine Fußnote. Ob man’s mag oder nicht:
SHOOTING RAMIREZ ist schon vor Vollendung ein moderner Klassiker.

Um noch einen besseren Gesamteindruck zu geben, blättere ich eine Minute durch das Werk, wobei ich noch auf die sensationelle Schönheit der Stadtlandschaften eingehen möchte, die Petrimaux wie mit magischem Dunst überzieht.