Sonnig, süßlich, seltsam: DIE VERLORENEN BRIEFE

Alle, die diesen Comic aufschlagen, sind beeindruckt: Das Artwork von Jim Bishop fasziniert mit seinen drolligen Figuren, der heiteren Stimmung, den hellen Farben und einer subtilen Kamera, die dieses Jugendabenteuer nicht so konventionell einfängt, wie es zunächst wirkt.

Es geht um den Jungen Iode, der mit einem Pelikan (der immer „Ja!“ kräht) in einem Strandhaus lebt und sehnlichst einen Brief von seiner Mutter erwartet. Die ist irgendwo am Ende der Welt unterwegs, der Vater lebt zurückgezogen für sich.
Iode kommt die Idee, der Brief könne auf dem Postamt liegengeblieben sein, also macht er sich in einer „Ente“, dem klassischen Citroën 2CV, auf den Weg in den Ort.

Jim Bishop, französischer Zeichner mit amerikanischem Pseudonym, illustriert sein dickes Album als Ferienidylle eines Städtchens namens Sunville. Da gibt es Strandpromenaden, Kanäle, sogar eine Schwebebahn – und natürlich ein Postamt, in dem man allerdings stundenlang Schlange stehen muss!

Hier schleicht sich eine erste Irritation in das Werk, wenn wir mal außer Acht lassen, dass auf der Fahrt nach Sunville schon eine seltsame Anhalterin namens Frangine zugestiegen ist. Die transportiert einen geheimnisvollen Koffer und ist Agentin der Royal Sungarde, unterwegs im Auftrag, den Gangsterboss Tintenfisch hochzunehmen.

Vor dem Postamt kommt es zu einer Konfrontation mit dem übereifrigen Polizisten Cycy, der sich durch Iode und Frangine in der Verhaftung eines Diebes gestört fühlt und die beiden von nun an auf dem Kieker hat.
(Wie ich’s niederschreibe, klingt es wie ein Komödienplot aus „Väter der Klamotte“, was sich durch Bishops Artwork jedoch verbietet.)
Nicht übersehen sollte man, dass DIE VERLORENEN BRIEFE auch mit Humor operieren. Allerdings mit solchem der leisen und unaufdringlichen Sorte.

Überhaupt ist Bishops Welt äußerst schräg und fantastisch, was uns jedoch so beiläufig und selbstverständlich serviert wird, dass man sich kneifen möchte. Wachtmeister Cycy nämlich ist ein Goldfisch im Glas, der einen Cyborgkörper befehligt. Frangine zückt plötzlich eine Knarre und im Aquarium von Sunville lauert ein Dutzend Makrelen in Anzügen, die ihr den Koffer entwenden möchten.

Und bis es auf Seite 52 (von 200) zu einer Schießerei kommt, hätte ich DIE VERLORENEN BRIEFE als Kindercomic kategorisiert: sonnig, sympathisch, süßlich. Aber was ist nun?!

Die Dinge verkomplizieren sich. Iode kommt nicht an seinen Brief, Cycy wird degradiert und Frangine aus der Gilde der Transporteure ausgeschlossen. Backstories rollen sich aus und das ungleiche Trio schließt sich zusammen, um auf eine Brief-Findungsmission zu gehen. Denn zudem offenbart sich Iode als Sohn des weltberühmten Forschers Salin Sea.
Der hat der bedrohten Meeresfauna geholfen, an Land zu leben (s. Fischpolizei, Makrelen in Anzügen, Tintenfisch-Gangster) und vermisst seinen Sohn genau so sehr wie dieser seine Mutter.

Nach einer dramatischen Verfolgungsjagd mit Wasserflugzeugen kommt es zum Wiedersehen von Vater und Sohn. Zwischen beiden gärt ein Konflikt um die abwesende Mutter, der kurz darauf von Frangine gelöst werden kann.

Und dann kommt ein Epilog, der uns komplett vor den Kopf stößt. Ein herber Nachtrag, der DIE VERLORENEN BRIEFE endgültig als Kinderlektüre disqualifiziert. Oder etwa nicht?

Jim Bishop präsentiert uns auf seine märchenhafte Weise nur, was wir im Leben vorfinden. Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, auch wenn es von außen so aussehen mag. Alle tragen wir unser Päckchen (Postwitz) und müssen uns mit Veränderungen arrangieren.
Das tun unsere drei Akteure (Iode, Frangine, Cycy) auf drei diverse Arten.

Skurril ist dieser Comic, er wird mit den Werken des Studio Ghibli verglichen. Mir eröffnete er Assoziationen zu „Der kleine Prinz“ und „Die Brücke nach Terabithia“.
(Und „Krieg der Sterne“ ist auch drin, wenn Frangine im raumschiffartigen Flugzeug in die Bordschützenkammer steigt und auf die sie umkreisenden Angreifer ballert, jawohl!)

(Die beiden Seiten oben zeigen sehr schön, wie kreativ Bishop mit der Komposition seiner Seiten umgeht: Obwohl er ausschließlich rechteckige Panels benutzt, variiert er diese mit größtmöglichem Effekt. Sein Arrangement erzeugt Spannung, seine Kamera steht nicht still.)

Das gefundene Resümee

Sie können diesen Comic konstruiert, pseudophilosophisch und pillepalle finden. Sie können ihn auch als zauberisch, meditativ und überraschend bewerten. Ich bewege mich irgendwo in der Mitte und bin doch größtenteils sehr angetan von Bishops Vision.
DIE VERLORENEN BRIEFE ist trotz seines kruden Mischmaschs aus Familiendrama, Thriller, Actionkomödie und Tierfabel konsistent und flüssig erzählt. Kriegen Sie das erst mal hin.

Resultat ist in meinen Augen ein jugendlich wirkender Comic, der uns unterschwellig höchst erwachsene Themen unterjubelt: Wo ist mein Platz in der Welt? Von welchen fixen Ideen sollte ich mich lossagen? Gibt es Traumata, die nicht zu überwinden sind?

Jim Bishop gelingt es, jede und jeden mit seinem Comic zu verstören – und das meine ich in all seinen Bedeutungen: befremden, amüsieren, beunruhigen, anregen oder staunen machen.

Ich linke noch die Verlagsseite bei CrossCult sowie ein YouTube-Video:

Wer mag, kann sich eine ComicTalk-Runde anschauen, in der Hella von Sinnen, Volker Robrahn, Ulli Lust und Ingo Römling über DIE VERLORENEN BRIEFE grübeln.

Für einen weiteren Eindruck blättere ich noch hinein in dieses Werk: