DIE NEUEN RUSSEN haben alte Probleme

Hmmm, will man in diesen Tagen einen Comic über den russischen Alltag der 1990-er Jahre lesen? Will man hören, dass es diesen Menschen sehr schlecht gegangen ist? Ist das nicht momentan höchst unangebracht und absolut schlechtes Timing?

Aber DIE NEUEN RUSSEN behandeln ein gültiges Thema, nämlich den Zerfall der Sowjetstrukturen und den Einzug des Raubtierkapitalismus in eine schutzlose Gesellschaft. Autor und Zeichner Pierre-Henry Gomont ist das Ganze ein Anliegen, er hat die Region bereist und erklärt seine Motivation in einem Vorwort.

Das Machtvakuum der aufgelösten Sowjetunion füllte sich rasant mit mafiösen Clans und skrupellosen Machtpolitikern – wie dem Herren, der derzeit Russland im Würgegriff hält. Gut, die Russen haben ihn gewähren lassen (und tun es noch), was ein trauriges Zeugnis russischen Selbstverständnisses ist.
(Ehe ich gleich mit weiteren Psychologisierungen loslege, ein Blick in den Comic.)

Zwei Freunde, Slava und Lawrin, tuckern in einem Kleinbus durch die russische Provinz, irgendwo hinter dem Ural. Sie suchen aufgegebene Datschen, Residenzen, Feriendomizile von Sowjetfunktionären auf, brechen dort ein und nehmen mit, was nicht niet- und nagelfest ist (um es auf dem Schwarzmarkt in der Stadt zu verhökern).

Hier erleben wir beide gutgelaunt bei der Arbeit:

Slava war Kunstmaler, dessen Einkünfte mit dem Zusammenbruch des Systems ebenfalls einbrachen. Lawrin ist ein Blender, der sich wie ein Fisch im Wasser bewegt, immer auf dem Sprung, ein Geschäft machen zu wollen. Was er wirklich draufhat, muss sich im Lauf der Handlung erst zeigen. Er ist der ruhelose Macher, der die Abwesenheit des Staates zur eigenkapitalistischen Ermächtigung nutzt.

Bald jedoch stößt sein Unternehmensgeist an schmerzliche Grenzen: Erst geraten unsere Plünderer in ein Feuergefecht mit konkurrierenden Plünderern, dann müssen sie rausgepaukt werden von der taffen Nina, die mit ihrem Vater Wolodia in einer Bergarbeitersiedlung lebt.
Slava und Nina sind einander nicht abgeneigt, doch klopfen sich zunächst ab:

Nina nämlich hat sich einen Rest Sowjetideale erhalten, was aber auch daran liegen kann, dass sie weit weg von den Umwälzungen lebt und sich ihren Kollegen solidarisch verbunden fühlt. Lawrin und Slava kommen bei den Arbeitern unter und erleben live den Auftritt des Investors Morkhoff, der das Bergwerk aufkaufen und für die Zukunft fit machen will.

Nina, Wolodia und die Arbeiter sind skeptisch, sie vermuten in Morkhoff eine Heuschrecke, die das Werk erwerben, dann in den Bankrott führen und die Bestandteile ins Ausland verscherbeln möchte. Diesen Verdacht bekräftigt auch Lawrin, der jedoch voll auf Morkhoffs Seite steht: So funktioniert Kapitalismus in Reinkultur!

Slava kommt darüber langsam ins Grübeln:

Zeichner Gomont, dessen slapsticknaher Zeichenstil auf den ersten Seiten gut war für Schießereien im Schnee und Raubzüge durch Luxusvillen, kommt im Mittelteil in seriöses Fahrwasser und gestaltet Betriebsversammlungen, Diskussionen und das Pläneschmieden für einen alternativen Verkauf der Betriebsanlagen: Buchhalter Arkadi bringt unsere Freunde auf neue Ideen.

Slava und Lawrin sollen in die Stadt gehen und dort einige taugliche Maschinen verkaufen. Mit dem Erlös gründen die Bergarbeiter eine neue, selbst verwaltete Firma und können sich so weiterbeschäftigen. Dealmaker Lawrin stimmt allerdings nur zu, wenn er auch alle Luxusgüter aus der Produzentenvilla verkaufen darf.

Das Erstaunlich an DIE NEUEN RUSSEN ist, dass der Comic sein Thema tatsächlich ernst nimmt. Der Autor lässt seinen Slava sogar politisch philosophieren und Parallelen zu Thomas Hobbes‘ „Leviathan“ ziehen.

Russland ist kein schönes Land – no, no, no, no, no

 Was im weiteren Verlauf der Handlung geschieht, ist die Tragödie Lawrins. Unser Kleeblatt aus Slava, Nina, Wolodia und Lawrin kämpft sich über die verschneiten Berge in die Stadt vor und läuft dort erst mal gegen die Wand.
Lawrin kommt nicht rein in die Zirkel, in denen die Deals gemacht werden, er wird sogar von Dunkelmännern entführt! Dem bärenstarken Arbeiterführer Wolodia ist zu verdanken, dass er wieder befreit werden kann

Auf der Rückfahrt ins Hotel (am Steuer sitzt Wolodia in Unterhose) muss sich Lawrin Vorwürfe anhören. Doch er behauptet, endlich das Entrée gefunden zu haben:

Eine Party beim Oligarchen Sacharew soll den erhofften Deal im Hinterzimmer bringen. Lawrin instruiert seine Freunde, wie sie sich zu verhalten haben. Während Slava und Nina die Geduld verlieren und sich in die Nacht und ihr Liebesabenteuer stürzen, gelingt Lawrin mit dem bravourös schauspielernden Woldodia (der einen Gangsterfürsten mimen soll) tatsächlich ein Handel.
Der aber stellt Nina und Slava nicht zufrieden. Es kommt zum Bruch mit Lawrin und Slava nimmt die Dinge in die eigene Hand: Er trifft sich mit Lawrins altem Mentor Trubetskoy und fädelt die Sache selber ein.

Was dann noch passiert, darf nicht verraten werden. Nur so viel: Wer hat im ganzen Spiel noch die Übersicht? Wer ist wem gegenüber noch loyal? Ist es den Menschen generell möglich, gewachsene Strukturen zu brechen? Gewinnt am Ende nicht immer die Bank?

Faustrecht der Taiga

Jetzt möchte ich ernsthaft nochmal zur Psychologie zurück. Wer sich mit den Hintergründen des Ukraine-Kriegs befasst hat, hat mitbekommen, dass die russische Mentalität Teil des Problems ist. Wir müssen Russland als eine passive Gesellschaft begreifen, erstarrt in patriarchalen Mustern von Macht und Unterwerfung.

Eine Gewaltkultur durchzieht das Leben der Bevölkerung von der Familie über die Schule bis hin zu Gefängnis und Militär. Angeblich sitzt jeder dritte Russe zeitweilig im Knast ein – und erleidet dort brutale Unterdrückung. Russland ist das ideale System für jede Form von Aggression.

DIE NEUEN RUSSEN legen beredtes Zeugnis davon ab. Das hat der Autor wahrscheinlich nicht beabsichtigt, aber es manifestiert sich in seinem Comic. Die Schicksale der Figuren sind zementiert in diesen Gewaltstrukturen. Gomont gelingt ein bedrückendes Abbild der postsowjetischen Gesellschaft, die nur das Recht des Stärkeren gelten lässt.

(Noch eine Nebenbemerkung: Die 1990er-Jahre waren eine furchtbare Phase für die russische Bevölkerung, ein Regime des Chaos ohne jede Sicherheit, absolut traumatisch. In dem Zusammenhang ein Filmtipp: Die Dokumentation „Red Penguins“ macht jede Menge klar, Trailer HIER auf YouTube.)

Mein Augenmerk möchte ich zum Schluss noch auf die Zeichenkunst Gomonts richten. Sein kauziger Strich pendelt zwischen Christophe Blain und Gérard Lauzier (er selber verortet sich zwischen Gipi und Charles Burns), fängt Charaktere treffend ein, beherrscht Szenerien und kann auch mit stillen Bildern von Bauwerken oder Natur bezaubern.

Seine kyrillisch designten Soundwörter (hier etwa ein „Blaf“) finde ich arg manieristisch und selbstverliebt. Die hätte es nicht gebraucht. Sie torpedieren eigentlich den Ernst des Geschehens. Denn unter der witzig wirkenden Oberfläche brodelt „die russische Seele“. Und die ist finster.

Ich mag diesen Comic. Er ist originell und verfolgt sowohl inhaltlich wie auch grafische seine eigene Vision. Leider kommt er 20 Jahre zu spät. In den Tausenderjahren wären DIE NEUEN RUSSEN eine Sensation gewesen.

Wie ich das sehe, ist das Werk die erste deutsche Veröffentlichung von Pierre-Henry Gomont. Der hat in Frankreich schon einiges auf dem Kerbholz, scheint sich aber erst mit seinem letzten Comic von 2020 (LA FUITE DU CERVEAU, ein schräger Verfolgungsplot um Einsteins Gehirn) auf den vorliegenden Zeichenstil kapriziert zu haben.

Zwei weitere RUSSEN-Comics sind in Planung, man sollte den Mann im Auge behalten. Hier noch der Link zur Verlagsseite bei schreiber&leser, darüber hinaus ist noch ein Blick ins Album bei mir möglich: