Das Drama beginnt mit einem Kuchen. Einem Kuchen mit Einhornmotiv-Verzierung, den der 14-jährige Simon für seine Mutter ausliefern soll. Auf dem Weg zum Zielort, wo Simon 25 Pfund kassieren soll, trifft er im Park auf seine Freunde Eddy, Richard und Will.
Diese drei nichtsnutzigen Vögel sind nicht wirklich Freunde, denn sie verspotten Simon als Fettsack und Loser – und versuchen, ihn immer wieder für schräge Unternehmungen einzuspannen.
Simon will sich diesmal jedoch nicht beirren lassen, denn seine Mutter braucht das Geld dringend und er möchte ihr beweisen, dass auf ihn Verlass ist. Dann aber tritt Richards hübsche Schwester Lorna ins Bild, Simon lässt sie vom Kuchen probieren und es kommt, wie es kommen muss: Ruckzuck ist der Kuchen weggefuttert – und Simon hat ein Problem.
Das ist der Auftakt zu DIE FARBE DER DINGE, dem „Infografik-Comic“, der vor zwei Jahren Furore machte. Der Clou an diesem Werk besteht darin, dass sämtliche Figuren (und das sind ungefähr zehn namhafte) nur als Kreise in verschiedenen Farben dargestellt werden!
Deshalb schaut das Kuchenessen im Park auch wie folgt aus:
Das ist so spinnert, dass ich den Comic damals nicht lesen wollte. Jetzt hab ich ihn nachgeholt und bin sehr begeistert, auch wenn ich ihn in vier Portionen, verteilt über vier Tage gelesen habe (schneller ging es nicht, aber einen leckeren Kuchen verschlingt man ja auch nicht sofort ganz).
Übrigens ist die Handlung von DIE FARBE DER DINGE alles andere als harmlos oder putzig, wie es die bunten Kreise vielleicht vermuten lassen.
Daheim nämlich kommt es zum Ehestreit über das fehlende Kuchengeld. Und während Simon flüchtet, prügelt der Vater die Mutter krankenhausreif und verschwindet aus beider Leben. Jetzt steht Simon verlassen da, nimmt sich dann jedoch vor, den Zusammenhalt der Familie zu retten.
DIE FARBE DER DINGE braucht etwas „Eingewöhnung“, aber dass wir nie einen Menschen zu Gesicht bekommen, gleicht Autor und Zeichner Martin Panchaud durch wundervolle Details, hintersinnigen Humor und immer neue Bildideen aus.
Hier zum Beispiel das Krankenhauszimmer, in dem Simons Mutter künstlich beatmet wird. Sie ist ins Koma gefallen und wird täglich von ihrem verzweifelten Sohn besucht (der orangefarbene Kreis). Simon setzt alles daran, seine Mutter wieder gesund werden zu lassen. Nach 22 Tagen im Koma ist er der Überzeugung, nur eine Verlegung in eine bessere Klinik könne den Zustand der Mutter wieder bessern. Dazu braucht es natürlich Geld.
Die Farbe des Geldes
Geld hat Simon sogar, aber fatalerweise kommt er nicht ran! Eine Wahrsagerin hat ihm beim Pferderennen einen todsicheren Tipp gegeben, Simon hat 16 Millionen Pfund gewonnen, kann die aber nicht abheben, weil er minderjährig ist.
Perfide Ironie des Schicksals: Den Wetteinsatz hat er zu Hause seinem Vater gestohlen, woraufhin der seine Frau verdächtigte und diese fast erschlagen hat. Simon ist also schuld an dem ganzen Elend und will nun mit aller Gewalt den Status quo wieder herstellen.
Erst mal aber erfährt er nichts als Ohnmacht, denn alle Welt will ihm den Wettschein abluchsen (der Gewinn ist inzwischen eine nationale Sensation). Schließlich vertraut er sich einem Fremden an, der sich als Einziger sonst noch um die Mutter sorgt: Alan Jones.
In einem Pub kommen sich die beiden näher, und ich darf anspoilern, dass dieser „Mr. Jones“ nicht so fremd ist, wie es zunächst scheint …
Beide gehen auf einen Roadtrip erst nach Birmingham, dann nach Liverpool, um Simons flüchtigen Vater Dan ausfindig zu machen. Der soll den Wettschein einlösen und mit dem Geld die Mutter in kompetente Pflege verlegen lassen.
Unterwegs bestehen Alan und Simon gemeinsame Abenteuer: Sie entwischen Reportern und Schaulustigen, treffen zwielichtige und trunksüchtige Informanten und liefern sich eine Schlägerei mit einer Rockerbande.
Das sieht bei Panchaud besonders skurril aus, denn diesen Fight erleben wir nur als Gruppierung wuseliger Kreise. Drei dieser Kreise (die Rocker) überziehen den vierten (Alan) mit Blessuren, die wiederum als kleinere Kreise erscheinen. Zugleich verringert sich sein „Lebensenergie-Balken“ (bekannt aus Videospielen).
Gottlob kann Simon einem der Gangster die Knarre aus der Hosentasche entwenden, die Bande damit in Schach halten und die gefährliche Situation auflösen:
Ich will jetzt wirklich nichts zum Fortgang der Geschehnisse verraten, darf Ihnen aber versichern, dass Martin Panchaud (Webseite ist sehenswert) eine flüssige Story mit cooler Dramaturgie hinbekommt.
Das Dollste: Der Comic gipfelt in einem grotesken Showdown, bei dem ein Blauwal eine Rolle spielt.
DIE FARBE DER DINGE handelt von der Tragödie eines ungeliebten Jungen, doch dessen Geschichte wird mit viel Sarkasmus und einem ungeschönten Blick auf das Leben serviert.
Die Menschen in diesem Stück sind egozentrisch, gierig, nur auf ihren Vorteil bedacht, grausam und lächerlich. Zum Glück sind es nur geometrische Formen – hahaha.
Simon bleibt nichts erspart, er muss sich mit einer Welt voller Widrigkeiten herumschlagen, um am Ende erst gebrochen, dann gereift aus diesem Martyrium hervorzugehen.
Ich präsentiere noch eine Beispielseite, in der der desillusionierte Simon wieder in den Park vom Beginn zurückkehrt. Inzwischen hat er aus lauter Frust das Rauchen angefangen – und Panchaud inszeniert eine getrübte Idylle mit „Enten / Tauben / Spatzen“ und … Tränen, möchte ich ausrufen: Tränen!
Da sitzt er, seine Tränen löschen die Zigarettenkippe. Als Engel der Verzweifelten erscheint die kesse Lorna, die ihn tatsächlich trösten wird.
DIE FARBE DER DINGE ist ein singulärer Comic mit Metakonzept, in der Art von Richard McGuires HIER (spielt nur in einem Raum), Jens Harders Weltgeschichte als assoziativem Bilderreigen oder den Werken von Chris Ware (in ihrem Gestaltungswillen durchaus ähnlich).
Weiterhin lieferbar bei Edition Moderne, mittlerweile in dritter Auflage.
In diesem Blättervideo lasse ich gerne Kreise vor Ihren Augen tanzen: