Cowboys gegen Nazis: PULP

Es ist fast lachhaft, welch enorme Produktivität das Kreativduo Ed Brubaker (Text) und Sean Philipps (Zeichnungen) an den Tag legt. Alle halbe Jahre liegt eine neue grafische Novelle vor! Die Liste ihrer Titel ist bereits länger als mein Unterarm (habe ich probeweise auftätowiert)!

Während ich diese Zeilen schreibe, erfahre ich, dass seit dem Sommer 2020 (in dem PULP erschienen ist) bereits drei Bände der neuen Serie RECKLESS vorliegen. Wahrscheinlich haben beide Klone im Keller, die nachts weiterarbeiten.

(Deutsche Ausgaben hängen meines Wissens noch bei ihrer Reihe KILL OR BE KILLED von 2017-18.)

Wie kann man solchen Leuten trauen?! Fließband-Schreiber-und-Zeichner! Das kann doch nix taugen!

Und dann hab ich PULP in den Fingern und Sean Philipps ist cool wie immer, diesmal fast noch einen Tacken schöner, weil er hinreißende Textur-Effekte für seine Rückblenden benutzt.
Und Ed Brubaker hämmert eine gnadenlos straighte und packende Geschichte runter, die es auch noch schafft, Cowobys mit Nazis zusammenzuführenohne dass es quatschig wirkt!
Das ist schockierend. Schockierend schön.

Diese Szene sieht wie ein Klischee-Western von der Stange aus? Diese Szene ist ein Klischee-Western von der Stange! Auch wenn die Seite vorher Zeit und Ort als „New York City, Februar 1939“ definiert hat. Wie kann das sein?
Auflösung folgt sogleich: Der Showdown ist die Visualisierung des Groschenromans, den Max Winter verfasst hat. Der hat das Skript gerade seinem Verleger eingereicht und steht nun erwartungsvoll vor dessen Schreibtisch in der Redaktion.

Mort, der Verleger, beendet die Lektüre – und wir befinden uns nun in New York City, im Februar 1939. Mort applaudiert der Schießerei, streicht Max jedoch das heraus, was im Anschluss folgt: ein möglicher Ruhestand für den Western-Outlaw Red River Kid.
Max versucht zu protestieren: Er möchte seine Stoffe weiterentwickeln, das habe „Conan“-Schöpfer Robert E. Howard schließlich auch getan.

Mort bügelt ihn schnell ab und zahlt seinen Autoren aus, allerdings bekommt er weniger als sonst, weil die Kioske inzwischen mit Groschenwestern überflutet würden.

Zack, so einfach geht das. Auf nur neun Seiten haben Brubaker und Philipps den alten Schreiberling Max Winter mit seinen Fähigkeiten, in seiner Zeit und seiner Situation etabliert. Genauso flott geht PULP im Folgenden zu Werke.

Auf dem Heimweg kommt Max einem orthodoxen Juden zu Hilfe, der von antisemitischen Schlägern bedrängt wird. Dieser Einsatz bekommt ihm schlecht, denn nun wird er zusammengeschlagen, ausgeraubt und landet mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus!

In der Schwärze seines Komas bekommen wir in Rückblenden eine weitere Westerngeschichte erzählt, doch diesmal ist Max die Hauptfigur. Wir erfahren, dass Max in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts der Outlaw Red Rock Kid war, der sich nach wilden Raubzügen in Mexiko zur Ruhe setzte.

Ahaaa! Max verpackt die eigene Biografie in seinen Westernromanen! Und wie er damals des Verbrechens müde wurde, ist er auch nun an einem Wendepunkt angelangt: alt, krank und pleite.

Ich zeige zwei Seiten, die uns auf rührende Art und Weise Max endgültig nahebringen:

Er geht heim zu seiner Lebenspartnerin Rosa, einer liebenswürdigen Latina, die ihn nach dem Ersten Weltkrieg (in dem Max alles verloren hat) aus dem Loch gezogen hat. Seitdem lebt er in New York als Groschenschreiber – der nun, das Ende des Lebens in Sicht, einen verzweifelten Plan fasst. Er kundschaftet Geldtransporte aus, wozu ist er schließlich Outlaw?!

Doch als Max gerade aktiv werden will, fällt ihm ein Mann in den Arm, hindert ihn an seinem Vorhaben und schiebt ihn stattdessen in die nächste Kneipe.

Der jüdische Name seines Kontaktmanns lässt vielleicht schon Ahnungen aufkommen: Jeremiah Goldman war ein seinerzeit auf Max angesetzter Pinkerton-Detektiv, inzwischen ebenfalls auf den Hund gekommen. Und auch Goldstein verfolgt einen verzweifelten Plan, für den er Hilfe braucht: Er möchte die Parteizentrale der amerikanischen Faschisten überfallen!

Der „German-American Bund“ betreibt in den USA Propaganda für die Nazis und hält eine Parade in New York ab (wahre Geschichte übrigens).

Also gehen der Ex-Outlaw und der Ex-Pinkerton eine Allianz ein, um zum Zeitpunkt des Events die bösen Buben auszurauben. Ob ihnen das gelingt und welche Konsequenzen das hat, verrate ich hier nicht mehr.

Ich muss nicht betonen, wie lässig Sean Philipps diesen Stoff illustriert. Auch wenn er wie immer seinen leicht schwammigen Stil benutzt, stimmt jeder Bildausschnitt, sitzt jede Perspektive und befördert den Plot in optimaler Weise.
Auch überlasse ich es Ihrem Urteil, wie gekonnt Ed Brubaker wieder seine Figuren im Griff hat. Naaa, ich oktroyier’s Ihnen: Jeder Textkasten und jede Sprechblase sind ein Fest!

Und weil ich gerade im Überschwang bin, spendiere ich noch eine geniale Action-Sequenz:

Nach diesem rasanten Showdown mit Automobilen (dem Gangster-Pendant des Western-Shootouts) präsentiert PULP als Nachklapp ein weiteres rabiates Finale von zehn Seiten, das man aufgesetzt und reißerisch finden kann.

Aber wie sagt der Redakteur (Sie haben die Sequenz schon gesehen) auf Seite 6 zum Pulp-Schreiber Max?
Bleib bei der Formel: Red und Heck helfen Menschen in Not … sie knallen dafür böse Burschen über den Haufen!“
Der Schluss von PULP lässt sich als Meta-Kommentar lesen. Müssen Sie nicht. Können Sie aber.

Und das wirft Ed Brubaker einfach so obendrauf, wie bei einer verdammten Blumenauktion: Diesen Drachenbaum gebe ich noch gratis zum Ficus und der Gummipflanze bei.
Und Sean Philipps macht daraus grafisch eine Augenweide: Max tritt ab „in a blaze of glory“, wie die Amerikaner sagen, mit einem Paukenschlag.

PULP ist große grafische Literatur, die disparate Themen wie Westernromantik und amerikanischen Faschismus souverän zu verflechten weiß; PULP ist ein grafischer Groschenroman mit Cowboys gegen Nazis.
Ist es beides? Sie entscheiden!

Während Sie noch grübeln, hab ich schon längst vom Leder gezogen und knalle Ihnen das Video vor den Latz: