Dschingis Khan ist nicht gleich DSCHINGIS-KHAN

Ich habe mit mir gerungen, ob ich Ihnen zu Beginn etwas verrate … ich tu’s. Denn ich denke, es ist hilfreich, dass Sie diesen Comic nicht mit falscher Erwartung angehen.

Mich hatte interessiert, was man aus einem musealen Thema wie „Dschingis Khan“ noch herausholen will. Stellt sich heraus: nix. Beziehungsweise merke ich nach ca. 60 Seiten Lektüre, dass es nicht um Dschingis Khan geht!

Der Junge Temudjin, dessen Aufwachsen und Entwicklung wir begleiten, ist nicht Dschingis Khan, wie mich der Titel DSCHINGIS-KHAN mutmaßen ließ. Er ist ein magisch befähigter Knabe, der in einer politisch zerrissenen Mongolei lebt, offenbar Generationen nach den Heldentaten des echten Dschingis Khan, der hier und da als Vorbild erwähnt wird.

Der Verlag sagt in seiner Ankündigung zwar:
»Dschingis Khan« spielt mit der Biografie des mächtigsten Kriegsherren der Geschichte. Zwischen Historie und Fantasie, zwischen weltlicher Eroberung und mystischer Reflektion erzählt diese Graphic Novel die Geschichte eines Namens, der die Jahrhunderte überdauert, auf vollkommen neue Weise.

Marketingtechnisch womöglich richtig gedacht, dennoch lässt einen diese Passage (finde ich) nicht unbedingt verstehen, dass wir es bei DSCHINGIS-KHAN nicht mit dem Menschen, sondern mit dem „System Dschingis Khan“ zu tun haben, mit der mongolischen Sehnsucht nach einem neuen Heerführer. Da muss man erst mal dahinterkommen.

Der Schamane Ozbeg ist für den Knaben Temudjin wie ein Vater und unterweist ihn durch die Weitergabe alter Sagen.

 

Im französischen Original heißt der Stoff übrigens TEMUDJIN, erschienen in zwei Alben. Ich danke Splitter dafür, für Deutschland den Superdoppelpack geschnürt zu haben, bin aber der Meinung, dass die Umbenennung ein Fehler ist.

Warum denn nicht TEMUDJIN? Da hätte ich mich gleich einlassen können auf mongolische Folklore und mystische Fantasie – ohne andauernd einen Bezug zu Dschingis Khan suchen zu müssen. Vielleicht auch nur mein Problem!

„Temudjin“ oder „Temüdschin“ übrigens war der mongolische Name des historischen Dschingis Khan.

Damit allerdings endet auch schon jeder historische Vergleich des echten Khan mit unserer Comicfigur. Es wird nur gesagt: Es gab da mal einen Dschingis Khan und du, Temudjin, kannst sein Nachfolger werden und ebenfalls tun, was er tat – nämlich das mongolische Reich erneut vereinen, dass ca. 100 Jahre nach Dschingis Khan wieder zerfallen ist.

Temudjin, nun ein Krieger, stellt sich der konkurrierenden Horde der Tataren.

 

Um was geht es denn?

 

Im ersten Teil geht es um den Schamanen Ozbeg und sein Findelkind Temudjin. Sie ziehen umher, sie erleben Exorzisten-Abenteuer. Temudjin entwickelt seine magischen Fähigkeiten und wird in die mystische Parallelwelt mit seiner Geistergattin Ayami eingeführt.
Als Ozbeg stirbt, soll Temudjin in die Rolle des neuen Khan hineinwachsen, was er nur widerstrebend tut. Nach 80 Seiten ist dieser Handlungsbogen beendet und es war ein schöner Lauf!

Temudjin, hier noch ein Jüngling, trifft im Fieberkoma auf Ayami, die ihm erklärt, was mit ihm vorgeht.

 

Im zweiten Teil kommt Autor Antoine Ozanam mit seinem Temudjn nicht in die Pötte. Anstatt ihn jetzt Kriegsherr sein zu lassen, zögert und hadert Temudjin weiter, ob er den bösen „weißen General“ angreifen soll. Dann reitet er eine Attacke, wird zurückgeschlagen und zieht sich sofort wieder in seine Schmollecke zurück.

Er stellt den Feldzug hintan und nimmt sich lieber erst mal eine Frau. Danach geht er wieder wochenlang in Meditation, um an der Schwelle des Todes Bekanntschaft mit der Göttin Maheshvara zu machen, die ihm drei magische Krieger schickt (mit denen er dann einen neuen Kriegsanlauf unternimmt).
Zeitgleich verkracht er sich mit seiner Geisterfrau Ayami, die ihn stets begleitet und geleitet hatte, Maheshvara wird ihm spiritueller Ersatz.

Merken Sie, dass es irgendwie bröselt und bröckelt?
Warum hat Autor Ozanam nicht Ozbeg leben lassen? Weshalb bekommt Ayami keine präsentere Rolle, egal ob Geistwesen oder nicht?
(Es ist doch ein Comic, wir können hier machen, was wir wollen.)
Wieso braucht es überhaupt Maheshvara, die ist doch eh nur ein Double?

Ich habe das Gefühl, dem Autoren Ozanam zerfasert die Dramaturgie.

Temudjin im Streitgespräch mit Ayami über sein Schicksal

 

Das erweiterte Figurenkarussell, so vermute ich, soll für mystisches Kolorit sorgen. Nur ein oller Schamane, eine kühle Geisterfrau, ein hitzköpfiger Temudjin könnten zu wenig sein, also hauen wir noch eine vierarmige Göttin in den Topf, einen menschlichen Stier, einen blinden Seher und noch einen Typ mit Geweih auf dem Kopf, das wirkt gleich viel irrer und macht optisch mehr her.

Ich glaube, der gesamte Stoff hätte wunderbar funktioniert mit nur dem ollen Schamanen, der kühlen Geisterfrau und dem hitzköpfigen Temudjin – hätte man die Figuren etwas anders gewichtet und hätte man ein bisschen Humor hineingepackt sowie zwei oder drei originelle Randfiguren.

Von denen haben wir nämlich nur einen Bogenschützen namens Jebe, der im späteren Verlauf Adjutant und Beinahe-Freund von Temudjin wird. Auffällig ist zudem, dass wir in diesem 200-Seiten-Comicschmöker nirgendwo Volk zu sehen kriegen!

Keine Menschenaufläufe, keine Truppenansammlungen, keine wilden Reiterschlachten. Doch: eine, auf drei Seiten, mit abgezählten 40 Kämpfern:

Wo bitte ist dieses Volk, wo sind diese Stämme, für die Temudjin sich engagieren soll? Wo äußern sich Untergebene, was geschehen soll? Wo wird ihr Leid geschildert?

Das ist hier alles Hörensagen, Herrschaften. Dieser Stoff klebt an einem um sich selbst kreisenden Rumpfpersonal. Auf der Gegenseite stehen auch bloß zwei Männeken: der finstere weiße General und dessen schwarzmagischer Schamane, der an einigen Stellen alle anderen an die Wand spielt!
(Der ist eigentlich der Coolste, hat nen geilen Schlangentrick und kann einen Schwarm Raben aussenden, die seine Augen sind, huu, haa!)

Wohin geht die Reise?

 

Ich verstehe DSCHINGIS-KHAN als Entwicklungsroman eines Mannes, der sich gegen den Job stemmt, den alle von ihm verlangen. Denn Temudjin will nicht Kalif anstelle des Kalif… halt, Khan anstelle des Khans werden, sondern wäre lieber ein wundertätiger Schamane geworden (wie sein Ziehvater Ozbeg, dem er immer noch nachtrauert).

Das ist ja ein gültiger, ein klassischer, ein spannender Konflikt: die Balance zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Der aber bleibt schwammig ausgestellt.

Hauptproblem ist nämlich die Hauptfigur.
Dieser Temudjin, der Junge, der Mann, der Zweifler, der Krieger – er lässt mich kalt und wird mir nirgendwo sympathisch. Schwerer Fehler. Entschuldigung, aber wenn ich mein Publikum für das Ringen der Hauptfigur mit seinen Gefühlen interessieren will, sollte diese kein kalter Fisch und keine egozentrische und abweisende Persönlichkeit sein.

Temudjin begegnet auf einer Astralreise der Götting Maheshvara – und lässt den Stinkstiefel raushängen.

 

So kommt Temudjin mir vor: ein nur mit sich selbst beschäftigter Egomane. Verdrießlich, grüblerisch, unfreundlich, sogar undankbar. Ich gehe eine Wette ein, dass ein US-amerikanisches Skript mit Leichtigkeit eine andere Richtung eingeschlagen hätte. Oder einmal Lewis Trondheim kurz draufschauen lassen!

Jetzt höre ich aber mal auf zu meckern, sondern betone das Positive an DSCHINGIS-KHAN.

Himmlisches Artwork

 

Zeichner Antoine Carrion verzaubert mich mit seinen Kompositionen und seinen Farben. Ich habe zwar das rein subjektive Gefühl, dass er im zweiten Band ein wenig flüchtiger zu Werke geht – will mich aber nicht darauf kaprizieren, sondern Ihnen vorführen, wie prächtig der grafische Gesamteindruck von DSCHINGIS-KHAN ist.

Carrion besticht durch kreatives, aber unaufdringliches Layout, fein aufeinander abgestimmte Farben, einen schicken und klassischen Strich mit starken Outlines sowie elegant eingestreuten Lichteffekten, coolen Schraffuren und feschen Texturen.
Das ist Weltklasse, keine Frage. Wenn Sie das Artwork mögen, kann das allein ein Grund sein, sich dieses Megaalbum zu holen.

Hier sehen wir die Raben des bösen Schamanen, die nach Temudjin Ausschau halten – und ihn in der verhüllten Gruppe auf dem Basar entdecken.

 

Mein Fazit:
DSCHINGIS-KHAN ist ein schickes Comicbuch und auch ein unterhaltsames, aber meinen Snob-Ansprüchen an großes Drama wird es nicht gerecht. Es will ein großes Rad drehen und von der Tragik des Individuums Temudjin künden – dafür ist es mir menschlich zu kalt und dramaturgisch zu flatterhaft.

Damit Sie aber sehen können, wie schön es grafisch gelungen ist, flattere ich durch die Seiten: