SLEEPING BEAUTIES: Wahn oder Wonne?

Ein Comic wie die neue Weltordnung: hysterisch und unverhältnismäßig.

In einem Wald erwacht eine mythische Eva-Figur; sie geht über die Lichtung hinüber in ein Cracklabor und zerfleischt die beiden Dealer; eine anwesende Freundin der beiden schickt sie in einen Dauerschlaf.
In einem Frauengefängnis wird die Insassin Jeanette Sorley von einem Wärter vergewaltigt. Der Mann betäubt danach die Gefängnisdirektorin Janice Coates, die in einen Tiefschlaf fällt.
Eine Hausfrau und Mutter verfällt ebenfalls dem Schlaf und entwickelt einen Kokon um ihren Körper. Als ihr Sohn nach Hause kommt und diesen entfernt, ersticht ihn die rasende Frau mit einer abgebrochenen Flasche.

Die Nachrichten berichten von einer seltsamen Schlafkrankheit, die nur Frauen befällt und sie in einem Kokon zurücklässt. Weckt man die Schlafenden, werden sie zu tobsüchtigen Mörderinnen!

Eva beginnt ihre Arbeit mit dem Besuch bei bedröhnten Dealern.

Auch sonst drehen alle durch: Ein Ehepaar rast mit der erkrankten Tochter ins Hospital, wo bereits Chaos herrscht und einem Mann die Augen ausgerissen werden.
Vor dem Weißen Haus in Washington wird eine protestierende Menge zusammengeprügelt. Im Fernsehstudio erlegt die Moderatorin einen männlichen Gast mit der Kaffeetasse.

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern heizt sich auf. Im Gefängnis versucht Jeanette, die Gefangenen mit Aufputschmitteln wach zu halten.
Sheriff Lila Norcross kann die geheimnisvolle Eva verhaften, kämpft aber gegen den Schlaf.
Ihr Mann, der Gefängnisarzt Clint Norcross, verhandelt mit Eva, die der Ursprung der Seuche zu sein scheint, muss aber bald die Festung gegen anrückende Männerbanden verteidigen, die den Knast stürmen und Eva in die Finger bekommen möchten.

SLEEPING BEAUTIES macht Alarm ohne Ende und scheut dabei nicht vor Überzeichnungen zurück. Muss man gewisse Männer denn derartig über-plakativ als Schweine darstellen?
Zwei frisch gebackene Polizisten benehmen sich erst sexistisch, dann möchten sie aus Spaß eine Obdachlose abfackeln:

In welchem Universum sind das realistische Figuren?!

Sie mögen sich wundern, dass ich in einem Comic Realismus einfordere, doch es geht mir um Glaubwürdigkeit. Wenn ich sehen möchte, wie man extreme Positionen aufeinander hetzt, hätte ich mich bei Twitter anmelden können.

Mich stört an SLEEPING BEAUTIES, dass der Plot mit dem Holzhammer montiert wird. Böse Männer, arme Frauen, kranke Welt. Kaum sind erste Fälle der Schlafkrankheit bekanntgeworden, ziehen schon männliche Todesschwadronen durchs Land, um auf ein Internet-Gerücht hin Frauen umzubringen!

Niemand in diesem Comic reagiert vernünftig oder abwartend, sondern ausschließlich impulsiv. Auch wenn die Welt auf dem Weg in solche Verhaltensweisen ist, so weit sind wir dann doch noch nicht. SLEEPING BEAUTIES ist grässlich überzogen.

Und dann tat es einen Dreher in meinem Kopf:
Was, wenn genau darin die Horrorabsicht liegt?

 

Will uns das Autorenteam Stephen King, Owen King und Rio Youers eine amerikanische Parallelgesellschaft vorführen, in der bereits jede Vernunft zum Teufel gegangen ist?
In der nur noch niederste Instinkte und Verhaltensweisen regieren? In der sich fast alle Figuren von ihrer Menschlichkeit verabschiedet haben? In der Verrohung auf allen Ebenen an der Tagesordnung ist?

Das wäre in der Tat fulminanter Horror, das wäre der ultimative Horror!

Ich glaube nicht, dass dies die Absicht war, aber der Interpretationsansatz macht mir Freude. Schon dass die Sprechblasen in SLEEPING BEAUTIES nicht wie üblich „Schwarz auf Weiß“, sondern „Weiß auf Schwarz“ gestaltet sind, mag ein Fingerzeig auf die Andersartigkeit dieser Welt sein.

It’s a Man’s World

 

Die Frauen, die der Schlaf entführt hat, treffen sich in Evas Garten. Dort bahnt sich eine Abstimmung über das weitere Schicksal der Welt an, diskutiert von den schlafenden Frauen.

Das ist natürlich eine überdrehte Allegorie weiblichen Widerstands gegen das Patriarchat und toxische Männlichkeit.

Mir ist schleierhaft, wie man das erzählen will, indem man die starken Frauenfiguren aus dem Spiel nimmt. Denn die Gefängnisdirektorin wie auch der weibliche Sheriff entschlummern bald. Hängt am Ende alles an Eva – und daran, wie „Adam“ in Gestalt von Clint Norcross mit ihr umgehen wird?

Gefängnisdirektorin Coates und Dr. Norcross untersuchen eine kranke Insassin. Im unteren Bild kommt Sheriff Lila mit Eva angefahren.

 

All about Eve

 

Die mythische Eva-Figur, die als Urmutter die Geschicke der Menschen beeinflussen kann – das hat einen Stich von SANDMAN-Phantastik. Diese „Eva Black“, die dunkelhäutige Version, kann mit Tieren kommunizieren und ist zu Teilen auch „Mutter Natur“. Sie ist gekommen, um den Riss in der Welt zu heilen, den ewigen Kampf der Geschlechter, das verlautbart sie auch so:

In SLEEPING BEAUTIES schwingen auch non-binäre Töne mit. Die Natur schert sich nicht um chromosonale Gegebenheiten, das weibliche Prinzip definiert sich nicht durch Äußerlichkeiten (wird an einer Stelle explizit gesagt).

SLEEPING BEAUTIES – nerviger Comic mit Gender-Agenda oder modernes Horror-Glanzstück?

Sie sehen: Es liegt mal wieder an Ihnen und Ihrer Betrachtungsweise.

Ich bin ein satiregeschulter Schreiberling, der seine Sichtweisen wechseln kann. Ich finde es spannend, für den Moment im Unklaren zu sein. Ich bleibe entscheidungs-fluid, bis Teil 2 vorliegt. Denn dieser Comic ist noch nicht abgeschlossen!

Sheriff Lila Norcross im Einsatz gegen eine rasende Frau, die ihren Polizisten-Ehemann erschlägt. Farben, Perspektiven, Bildaufteilung scheinen in diesem Comic ein Eigenleben zu führen …


Dieses kreative Artwork von Alison Sampson liegt für mich genau zwischen Emma Rios von PRETTY DEADLY und Maria Llovet von FAITHLESS. Auch bei Sampson sorgen die knalligen Farben von Triona Farrell für einen psychedelischen Look, der zur paranoiden Grundstimmung von SLEEPING BEAUTIES passt.

Deutsche Ausgabe übrigens bei Splitter, dort ist auch ein Band 2 schon erwähnt.

Für den Gesamteindruck blättere ich aber auch wieder mal hinein, Sampsons grafische Umsetzung ist ein absoluter Hingucker: