Simon Spurriers HELLBLAZER-Relaunch

John Constantine tritt gegen seinen schlimmsten Gegner an: sich selbst!

Nach einem irren und wirren Auftakt mit einem magischen Armageddon begegnet Constantine seinem älteren Ich (nennen wir es „Old John“), das ihm Rettung aus der aktuellen Misere verspricht – im Austausch für seine Seele, wenn  er dereinst sterben sollte.

Constantine geht auf den Handel ein, weil es a) wirklich übel aussieht und er b) immer einen Weg findet, solche Teufelspakte auszuhebeln! Aber ist es diesmal überhaupt möglich? Er hat es schließlich mit seinem ausgebufften Senior-Ich zu tun.

Ich verrate damit ein wenig, was im großen Handlungsbogen geschieht, Anleitung aber kann nicht schaden, denn dieser Lauf von HELLBLAZER ist kompliziert und komprimiert geschrieben. Das liegt am Autor Simon Spurrier, der mir vom wüsten Miniprojekt CRY HAVOC bekannt ist (ein Kriegs-Horror-Mysterycomic, in dem Monster in Menschengestalt zum Einsatz nach Afghanistan geschickt werden).

Spurrier ist Brite und hat das richtige Händchen für den Liverpooler Exorzisten Constantine: Der Ton stimmt, das Setting stimmt und auch seine aberwitzigen Horror-Einfälle können überzeugen.

Die Handlung springt von dem seltsamen magischen Scharmützel in die Psychiatrie-Klinik Ravenscar, wo John Constantine wie aus einem bösen Traum erwacht, sich selbst entlässt und in London nach dem Rechten schaut.
Zunächst sucht er nach seinem Taxifahrer-Kumpel Chas, der sich im vorausgegangenen Gefecht geopfert hatte. Chas hat in der Realität Schaden genommen, denn er findet ihn auf der Intensivstation eines Krankenhauses, mit Lungenkrebs im Endstadium und gefoltert von Dämonen, die auf die Rückkehr Constantines warten.

Chas macht John Vorwürfe, sein Krebs käme vom Passivrauchen, überhaupt sei John Gift für ihn gewesen, er nutze Menschen aus und opfere sie in seinem Duell mit den dunklen Mächten.

Das alles ist korrekt. John Constantine ist ein Getriebener, der zwar Gesellschaft sucht und braucht, diese aber ohne zu zögern auch zurücklassen kann. Was das psychisch in ihm anrichtet, davon handelt dieser neue HELLBLAZER.

Ich führe das nicht weiter aus, doch es geht um die große Frage nach Schuld und Sühne. Und um den Preis, den es für Magie zu zahlen gilt. Denn Constantine-Mantra eins lautet: Alles hat seinen Preis. Constantine-Mantra zwei lautet: Irrsinn ist die einzige Konstante!

(Im Englischen: „Madness is the only constant“, was einen hübschen Bezug zu Johns Nachnamen herstellt.)

Frische Figuren!

 

Wir nehmen also Abschied von Chas und Spurrier stellt ein neues „Assistenz-Team“ für John auf: Da ist zum einen der junge Schwarze Noah, der gerne ein harter Gangster wäre. Seine Sprachbehinderung (er ist stumm) und sein weiches Herz jedoch prädestinieren ihn für einen Job als Constantines neuer Chaffeur und Helfershelfer.

In einem Pub lernt er die taffe Türsteherin Natalie kennen, die immer mal wieder auftaucht und hilfreich handgreiflich werden kann.

Die verrückteste neue Figur ist allerding der Hipster-Yogi, der sich Tommy Willowtree nennt, ein ganzheitlicher, achtsamer Nachhaltigkeits-Magier, der superentspannt, megafreundlich und hammergesund ist – und sogar John unter den Tisch trinkt, ohne danach einen Kater zu haben!

Zwei Ausgaben mit dieser Figur inszeniert Spurrier (mit genialer Schützenhilfe des uruguayanischen Zeichners Matías Bergara) als Comedy-Einschub in der ansonsten düsteren Serie!
(Ich zeige die Szene, wo John verkatert in Tommys Wohnung auf einem Öko-Bett erwacht, sich fragt, ob womöglich was sexuell gelaufen sein könnte, Tommy aber schon strahlend frisch einen Frühstücks-Smoothie offeriert.)

Nochmal Lob für das komische Gespür von Zeichner Bergara: Johns Facepalm-Moment im Schatten ist ein toller Kontrast zum leuchtenden Yogi – desgleichen das Smoothie-Angebot und Johns grünes Erbrechen im Bildhintergrund als Kommentar darauf.

Bergara illustriert noch zwei weitere Ausgaben, eine davon („The Favourite“) die bitterböse Abrechnung mit britischer Royalty im Allgemeinen und mit Prince Andrew, Duke of York im Speziellen.

Autor Spurrier lässt (kaum chiffriert) einen männlichen Spross der Königlichen Familie junge Frauen missbrauchen. Höchst kunstvoll verweben Spurrier und Bergara diesen Aufhänger mit der Manie um Pferderennen, der Geburt eines Einhorns und der Unantastbarkeit der Royals.

Brillante 22 Seiten, die narrativ kompakt und originell präsentiert eine unvergessliche Einzelepisode im HELLBLAZER-Kosmos darstellen (und mit dem größeren Handlungsrahmen verknüpft sind, denn das Einhorn ist sozusagen eine weitere „Prüfung“, die Old John unserem kettenrauchenden Hilfstierarzt in den Weg legt).

Aber springen wir zurück an den Anfang, denn vor den komödiantischen Tupfern ist es schwergängiger: Ein irre gewordener Irakkriegs-Veteran hält sich für die Wiedergeburt des Dichters William Blake und wirkt vernichtende Magie in einem Park, in dem Drogenhändler ihre Geschäfte abwickeln.

Drogenboss K-Mag ist selbst Hobbymagier und ruft John Constantine zu Hilfe. Der gerät zwischen die Fronten der Straßengang und des selbstgerechten Veteranen, kann für Ruhe sorgen, hat danach aber den aus der Bande ausgestoßenen Noah an der Backe.
Er nimmt sich des jungen Mannes an, was für das Konzept der Serie bedeutsam ist, zeigt es doch Constantines menschliche Seite – die ansonsten zu kurz käme, denn John charakterisiert und stilisiert sich selber als „nasty piece of work“  (ein übler Typ).

Im Dunkeln ist gut Munkeln

 

Hauptzeichner ist Aaron Campbell, der seinen HELLBLAZER mit einer selten gekannten, fast radikalen Finsternis anlegt. Mir ist es fast zu viel, aber natürlich passt es zum Sujet (und übrigens gefällt mir Campbell hier weitaus besser als in INFIDEL).

Bravourös, atmosphärisch und konsistent ist sein Stil – und Campbell ist der ideale Mann, um „Dinge, die im Schatten lauern“ zu illustrieren.
(Siehe folgende zwei Beispielseiten: Constantine möchte einen Hass-Dämonen exorzieren, der in Gestalt einer Frau durchs Krankenhaus schleicht. „Quatschen wir eine Runde?“, fragt John, doch wird er bereits angegriffen.)

Die Situation rettet und auf die Lösung kommt der stumme Noah, der dem Hass seine Fürsorge und Liebe entgegensetzt. Beim erneuten Erscheinen des Damönen stellt sich der junge Mann zwischen ihn und sein Opfer im Krankenbett. Der Hass löst sich wortwörtlich in Luft auf.
(Und mich amüsiert auf persönlicher Ebene, dass Campbell sein Thema aus INFIDEL variiert, doch diesmal auf elegante und unaufdringliche Weise.)

Am besten aber gefällt mir die Doppel-Episode mit der Meerjungfrau: „Britannia, rule the waves“. In Heft 7 und 8 präsentieren Spurrier und Campbell das abgefahrene Horrormärchen vom Fischer und seiner Seejungfau.

Freddie ist das Gespött seiner Fischerkollegen, denn er ist kaum in der Lage,  seinen Trawler aus dem Hafen zu steuern. Old John beschwört ihm eine Meerjungfrau herbei, die ihn nicht nur sexuell befriedigt, sondern ihm auch die teuersten und exotischsten Fische ins Netz treibt. Freddies Marktstand floriert, er hat die beste Ware für  die Londoner Cuisine.
Doch die raren Bestände vor der Küste gehen zur Neige, Freddie treibt seine Nixe gnadenlos an, zwingt sie auch zu Verbrechen an anderen Fischern – bis er schließlich auf eine letzte, grausame Idee verfällt (und Constantine ihm Einhalt gebieten muss).

Diese nicht nur die See aufwühlende Geschichte zeichnet Campbell in gewohnt kratzigem Strich, doch brilliert Kolorist Jordie Bellaire obendrein noch mit moosigen, sumpfigen, eisigen Farben, die mir ein bisserl den Magen umdrehen.
Schöner kann maritimer Horror nicht sein, außerdem serviert das Team uns einen derben Oldschool-Twist mit „poetic justice“-Feeling.

Aufhören, wenn’s am schönsten ist?

 

Die beiden letzten Hefte kommen zu einem Finale und einem Abschluss, der sich jedoch gedrängt und etwas hastig liest. Man ahnt, dass es hätte weitergehen sollen.

Der HELLBLAZER-Neustart bricht nämlich nach 12 Heften ab (die auf Englisch in zwei Tradepaperbacks veröffentlicht sind), als Grund wird der Zusammenbruch des US-Comicmarkts durch die Coronakrise genannt. Die Serie soll sich aber auch nicht besonders gut verkauft haben!
Das ist wirklich schade, denn Autor Spurrier belebt John Constantine ganz im ursprünglichen Sinne wieder: Die Figur agiert souverän, aber immer am Abgrund; er selbst kommt davon, doch die Kollateralschäden sind immens; seine Denk- und Redeweise ist sarkastisch bis zynisch, aber nicht menschenfeindlich.

Diese 12 Hefte, dieser finale Lauf von John Constantine, nennen wir ihn THE BEST VERSION OF YOU (das Leitmotiv der Geschichte), ist tatsächlich ein ungewollt schöner Abgesang. Es ist nochmal alles am Start, was HELLBLAZER jemals ausgemacht hat, und kreist um die Person und Persönlichkeit Constantines: Seine Magie, seinen Witz, sein Schicksal, seine Schuld, seine Tragik.

Auf Deutsch wählt man bei Panini die Betitelung JOHN CONSTANTINE – HELLBLAZER 1 + 2. (Band 2 ist in der Pipeline und erscheint übrigens am 29. Juni 2021.)

Mein Tipp: Irgendwann und irgendwo wird er wieder auftauchen, unser Johnny, schlecht rasiert, im Trenchcoat, die obligatorische Kippe im Maul. Darauf verwette ich meine Seele!

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