Nora heißt die junge Frau, deren Welt aus den Fugen gerät. Eine kosmische Katastrophe hat die Sonne verlöschen lassen und unsere Erde in Dunkelheit gehüllt. Schnell verliert die alleinlebende Nora jegliches Zeitgefühl und als sie sich mit einer Freundin trifft, geschieht das Unfassbare: Zu unheimlichen Glockenschlägen löst sich Melanie in Luft auf – wie nach und nach alle Menschen in Noras Umgebung.
Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach Überlebenden, dringt in leere Häuser ein, flüchtet vor einem geheimnisvollen Nebel und trifft in einer Hütte vor der Stadt auf einen Weggefährten: einen anhänglichen Hund, den sie „Kaiser“ tauft.
Im Radio laufen Unsinnsbotschaften, wilde Hunde streunen um die Hütte und Nora beschließt, in der Stadt den Radiosender aufzusuchen.
Last Woman on Earth
Dorothea Erber heißt die Künstlerin, die in ihrem Erstlingswerk COME DAYBREAK eine bizarre Atmosphäre kreiert. Eine deutsche Zeichnerin legt einen Mysterycomic vor?! Das hatte mich neugierig gemacht, der Tipp kam von Comicreport Online („Frisch gelesen Folge 221“).
Tatsächlich legt Erber eine waschechte Rätselgeschichte vor, die sich rational bald nicht mehr begreifen lässt. Dieses Untergangsabenteuer scheint halb Traum, halb Fantasie zu sein – dennoch fühlen wir mit Nora mit.
Die „Last Man on Earth“-Prämisse ist ein Alptraum-Sujet, was schon oft von Film und Literatur bedient wurde. Es freut mich sehr, es mal in Comicform zu sehen!
Mein Verstand sagt mir, dass ein Ausagieren dieser Prämisse in der Wirklichkeit ein ziemlicher Nonsens wäre: Als letzter Mensch wäre ich sehr bald tot (aus Mangelernährung, technischem Unvermögen, Panikverhalten).
Als Comicstoff hingegen, gegossen in ein 70-Seiten-Album, kann ich aus der Distanz mitfiebern und mitleiden: Gänsehautgrusel stellt sich automatisch ein, wenn Nora sämtliche Gewissheiten des bisherigen Daseins verlorengehen.
Erber erzählt uns ihre fantastische Geschichte in klassischem Layout (rechteckige Panels, meist vier bis sieben pro Seite) und konventioneller Erzählweise (Textkästen, Sprechblasen und Soundwörter).
Ich denke, dieses Konzept für COME DAYBREAK ist unumgänglich. Hätte Erber ihren Comic experimentell umgesetzt, flögen uns schon bald die Synapsen aus dem Hirnkasten. Will sagen: Den Ball grafisch flach zu halten, unterstützt die groteske Handlung. Wäre hier alles wild gestaltet, gäbe es nichts mehr zu verstehen.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
COME DAYBREAK zu „verstehen“, ist Interpretationsarbeit jedes einzelnen. Ich habe meine Deutung, darf darüber aber kein Wort verlieren. Der Reiz an diesem Comic liegt darin, sich auf ihn einzulassen und daran herumzudeuten.
Erber scheint auch munter Versatzstücke aus vorangeganger Popkultur einzustreuen (sich auflösende Menschen, Nebel des Grauens, Hund als Sidekick, seltsame Botschaften, Himmelsphänomene), verfolgt aber dennoch ihren eigene kreative Vision.
Ihre Protagonistin Nora ist ein glaubwürdiger Charakter, mit dem wir uns gerne identifizieren und durch die Handlung treiben lassen. Und während sich die Rätsel verdichten, hoffen und bangen wir mit ihr auf Aufklärung und Erlösung aus diesem Alptraum.
Betonen darf ich noch Erbers gekonnten Einsatz von Licht und Schatten, ihr schnörkelloses Artwork und ganz besonders die großartige Farbgebung in Weiß, Schwarz und Nachtblau – atmosphärischer und effektiver hätte man die Erzählung nicht umsetzen können.
Es gibt allerdings ein paar Dinge an COME DAYBREAK, die kommen mir unbalanciert vor (was bei einem Erstlingswerk nahezu erwartbar ist), ich erkläre es kurz.
Der Wechsel von der Tagebuchaufzeichnung zur Erzählung: Die ersten Informationen bekommen wir in Tagebuchform vermittelt, doch mit Seite 10 wechseln wir in eine präsentische Ich-Erzählung, die uns fortan als Textkästen begleitet.
Das Tagebuch ist vergessen, wir hätten es übrigens nie gebraucht, denn Hauptfigur Nora hätte uns von Beginn an aus nichtverschriftlichter Perspektive berichten können.
Gewichtung und Tempo der Veränderung: Die ersten 20 Seiten faszinieren durch ihre dichte Abfolge unheimlicher Ereignisse. Schlag auf Schlag bricht Noras Welt zusammen und wird immer mysteriöser. Das Tageslicht verschwindet, die Zeit steht still, Menschen lösen sich auf, ein unheimlicher Nebel kriecht durch die Straßen, Glockenschläge erklingen …
So atemberaubend das ist, gerät COME DAYBREAK danach leider in ein lineares Fahrwasser und beschreibt ausschließlich Noras Flucht vor den Hunden und die Suche nach weiteren Überlebenden.
Der Dramaturgie hätte es vielleicht besser getan, die fantastischen Umbrüche etwas gestreckter zu verteilen bwz. die Handlungsmodule in ihrer Abfolge anders zu arrangieren.
Die Redundanz-Schleife mit dem Funkruf: Auf Seite 40 kann Nora einen Funkspruch aussenden, auf Seite 58 tut sie das nochmal. Dazwischen bewegt sie sich von B nach A zurück, von wo aus sie zuvor gestartet war. Das kommt mir einfach doppelt gemoppelt vor. Wieso muss sie denn zweimal funken?
Damit einher geht auch die Hatz durch die wilden Hunde, die wir zweimal erleben, hinein und hinaus aus der Stadt – das ist mir ganz klar „zu viel Hund“, auch wenn es spannend bleibt (mit wilden Hunden kann man nichts falsch machen).
All das sind Dinge, die mir kritischem Analysefuchs zwar auffallen, der Lektüre aber keinen Abbruch tun. COME DAYBREAK ist ein berührender und bizarrer Comic, er lädt zum Nachdenken ein und ist darüber hinaus noch unterhaltsam.
Insgesamt bin ich sehr angetan von Dorothea Erbers Debüt. Ein prima Auftakt für weiteres Schaffen. Link zur Verlagsseite HIER, dem Reinhard Weber Fachverleg für Filmliteratur, keiner der „üblichen Verdächtigen“ im Comicgeschäft.
Ich blättere in einem kurzen Instagramvideo noch hinein in COME DAYBREAK: