Premiere für Chris Ware auf meinem Comicblog!
Der US-amerikanische Zeichner darf als einer der einflussreichsten Künstler der Gegenwart gelten, doch ich habe immer von ihm weggesteuert.
Seine vielfältigen Werke um JIMMY CORRIGAN, THE SMARTEST KID ON EARTH haben mich nie interessiert.
Ich sah seinerzeit (ca. 1995) in den ersten Band hinein und fand es grafisch steril und inhaltlich bitter. Natürlich ist Chris Ware ein genialer Komponist und Arrangeur, aber er hat mir keine Geschichte erzählt (oder ich war zu faul, mir eine zurechtzuinterpretieren).
Heute finde ich diese Comics immer noch grafisch steril und inhaltlich bitter, aber Ware hat nicht nur die spröden Corrigan-Werke fabriziert. Es gibt da noch was Anderes!
Die Comicforscherin Nina Eckhoff-Heindl machte mich auf LINT aufmerksam, ein abgeschlossenes Einzelwerk von 2010, das ebenfalls alle Kunstfertigkeit von Ware in sich vereint, dennoch einen flotteren Takt aufweist und tatsächlich eine komplette Biografie erzählt.
Zunächst muss (wie immer bei Ware) auf die Aufmachung des Werks geachtet werden: LINT schaut aus wie ein altes Fotoalbum. Der hochwertig mit Dekostoff verzierte Hardcover-Umschlag könnte eingeklebte Fotos enthalten (die Älteren unter uns erinnern sich: Fotos waren mal analog, aus Spezialpapier, man konnte sie in Alben sammeln).
LINT jedoch offenbart sich nicht als Fotoalbum, sondern als pralles, buntes Comicbuch im Querformat, das uns das Leben einer bestimmten Person aufblättert: Jordan Wellington Lint, gerufen „Jason“, geboren 1958 und gestorben 2023 (!). Diese Daten verrät uns sein Familienstammbaum, abgedruckt auf der vorderen, inneren Umschlagklappe, über dem Impressum angesiedelt.
Rufen Sie doch ausnahmsweise schon jetzt mein Blättervideo auf, da gehe ich konkret auf diese schon für sich hochkomplexe Umschlagklappe ein (und präsentiere die generelle Anmutung von LINT). Danach machen wir mit Detailanalysen weiter.
Sie haben es im Video schon bemerkt: Jede Seite dieses Buches behandelt einen „Schnappschuss“ aus Jasons Leben – allerdings kein Einzelbild, kein Foto, sondern ein grafisches Arrangement bzw. eine Sequenz von Bildern.
Jede Seite ist (chronologisch fortschreitend) eine Momentaufnahme einer ausgewählten Phase von Jasons Existenz. Die sind natürlich nicht willkürlich ausgewählt, sondern offenbaren „Schlüsselszenen“ des Daseins: wichtige Begegnungen, traumatische Erlebnisse, aber auch relevante Erkenntnisse. Der Tod der Mutter, der geplatzte Traum vom Rockmusiker, Geburt des ersten Sohns Gabriel, die Affäre mit der Nachbarin, berufliche Steuertricksereien usw.
Chris Ware fokussiert mit seinem Jason Lint auf einen Normalbürger, dessen Karriere und Ansichten absolut unbedeutend und nichtssagend sind. Doch gerade mit der Präsentation dieses Prototyps schält Ware den Kern der US-amerikanischen Gesellschaft heraus.
Diese feiste, dreiste Leben um Autos, Football, Sex, Familie, Glaubensvorstellungen und Konsum, das sich trotz aller Annehmlichkeiten im Nichts dreht.
(Ja, ich behaupte, europäische Lebensläufe sehen anders aus, sind differenzierter und reflektierter.)
Jason Lint ist das Abziehbild des sich durchs Leben wurschtelnden, verwöhnten, desinteressierten Chauvi-Typen, der am Ende allein dasteht – übrigens eine Abrechnung mit dem „alten weißen Mann“, die sich gewaschen hat. Ware kann wahrscheinlich nur bitter.
Aber seine Sterilität wandelt sich in dieser Darreichungsform in kritische Distanziertheit und präsentiert uns ein amerikanisches Schicksal. Oder DAS männliche, amerikanische Schicksal schlechthin?
Man darf LINT zu einer der großen American Graphic Novels zählen.
Ha, das ist schon unser vorgezogenes Fazit. Wir möchten aber jetzt noch einmal zurückspulen und ein paar Seiten aus LINT genauer betrachten, um zu verstehen, wie kunstvoll Chris Ware seine Comics gestaltet.
Krawallige Kindheit
In dieser auf den ersten Blick banal wirkenden Szene eines Kindergartenstreits steckt sehr viel mehr als nur ein aggressiver Akt Jasons (der hier noch Jordan gerufen wird) gegenüber dem schwarzen Jungen.
Die U-förmig arrangierten Panels zeigen Jordan/Jason, der seinem Spielkameraden ein rotes Klötzchen entreißt, den Jungen schlägt und ihn dabei anherrscht, es gehöre ihm. Die rot gesetzte Schrift verstärkt auf typografischer Ebene den Wutausbruch; interessant ist das zentrale Großpanel in der Mitte, schwarz hinterlegt, das uns Jordans/ Jasons Gedanken präsentiert (und diese Gedanken sind durchaus schwarz).
Die obere Hälfte dieses Bildes ist eine harmlose Ich-Erzählung eines Vorschulkindes: Ich bin vier Jahre, ich lebe in einem Haus, meine Mama hat mich hergefahren und ich hatte Toast zum Frühstück.
Die untere Hälfte jedoch führt uns an gedankliche Abgründe: Eine Assoziationskette läuft über blaue Augen zu schwarzen Augen zu schwarzem Haar zu schwarzen Menschen, vor denen der Vater warnt (sie lügen und stehlen angeblich). Kurz kreiseln die Gedanken des Kindes zurück zur Mutter, die nichts von blauen Menschen erzählt (obwohl sie doch blaue Augen hat). Diesem kindlichen Fehlschluss folgt der Sprung zur Farbe Rot, was Jason an sein Klötzchen erinnert, das er immer noch haben will (es tauchte in der ersten Gedankenreihe schon auf).
Der Wunsch ist nun präsenter (größer dargestellt). Jasons Hirn schließt den Anblick des schwarzen Jungen (der das Klötzchen hat) kurz mit dem väterlichen Vorurteil von diebischen schwarzen Menschen. Seine Reaktion ist Wut, die sich im Angriff entlädt.
(Über den Einsatz der Farben könnte man noch weiter spekulieren, doch das sparen wir uns. Behalten Sie aber das Thema „Wut“ im Hinterkopf, ganz zum Schluss greifen wir das wieder auf.)
Natürlich kann man das simplifizierend finden, aber es ist eine Erklärung dafür, weshalb Jordan/Jason nicht mit Respekt auf den Spielkameraden zugeht, sondern sofort gewalttätig wird. Und all das in eine Handvoll Panels zu packen, ist beeindruckend.
Mit dieser einen Seite hakt Chris Ware Jasons Zeit im Kindergarten ab! Das ist clever, effektiv und macht sogar in der Entschlüsselung seines Inhaltsreichtums Spaß, wie ich finde.
Jämmerliche Jugend
Die folgende Seite schildert zwei typische Situationen aus dem Leben eines pubertären Jungen: die Entdeckung der Sexualität und das Ausagieren riskanter Abenteuerlust.
Die obere Seitenhälfte stellt Jason beim Masturbieren auf ein Centerfold-Pin-up dar, das er in einer Schublade seiner Kommode aufbewahrt. Er fantasiert dabei von einer Mitschülerin und versucht, die Attribute des Pin-up-Models mit dieser überein zu bringen (die kleinen Ausriss-Panels über dem Porträt von Kathy).
Mit den weißen Punkten symbolisiert Ware den Orgasmus des Jungen, der sich vor seinen Augen, in seinen Lenden anbahnt, dann gewaltig wie ein schwarzer Stern im zentralen Großbild explodiert, schließlich nach rechts hinaus abebbt. Erschöpft, vielleicht auch desillusioniert, hängt Jason noch kurz seinen Gedanken nach, dann verstaut er das Centerfold wieder in der Schublade.
Die untere Seitenhälfte ist von einer rasanten Sequenz dominiert: eine holprige Fahrradfahrt einen Hügel hinab. Die Selbstaussage „I am the best bike rider in the world …“ korrespondiert mit dem gewaltigen Buchstaben-Arrangement „I AM JASON“ direkt darunter, als betrachteten wir den Vorspann eines Films.
Dem kläglichen Sturz folgt ein Bildquadrat, das wiederum in zwei diagonalen Bildquadraten plus zweier Einzelpanels angeordnet ist. Ein Freund tritt hinzu und erkundigt sich, ob Jason in Ordnung sei. Der stöhnt zunächst und macht sich selber vor, die Aktion sei doch cool gewesen. Er präsentiert sich damit als „harter Hund“, den selbst ein Unfall nicht aus der Bahn wirft.
All das Mosaiksteine, mit denen Chris Ware uns das Bild des prototypischen „US American male“ zusammensetzt.
Beide Situationen übrigens enden auf immer kleinteiligeren Bildern. Ich interpretiere das als Verebben des Rausches, als Wiedereinfinden in die langweilige Realität. Das ist elegant und ein Ausweis für die magische Aussagekraft von Comics.
Familiäre Fadheit
Ich überspringe Jasons Highschool- und Collegezeit und auch seinen gescheiterten Versuch als Rockmusiker. Er landet schließlich als Angestellter bei einer Versicherung und arrangiert sich mit dem kleinbürgerlichen Dasein: Er lernt seine Frau Leslie kennen, heiratet, hat zwei Kinder mit ihr, wird füllig und arbeitet aktiv in der Kirche mit.
Aus dieser Phase wähle ich eine Seite, die von ihrem Aufbau her mit die konventionellste im ganzen Buch ist. Sechs gleichgroße Panels, wobei zu beachten ist, dass das fünfte Bild wiederum in zweimal sechs kleinere Bilder aufgeteilt ist: eine Seite in der Seite in der Seite.
Das sind die Ware-Tricks, um a) den Lesefluss zu stoppen und b) einen Exkurs einzuflechten. Dazu gleich mehr.
Zunächst jedoch überrascht diese Seite mit einem rätselhaften Bild: fallende Gestalten vor einem schwarz-roten Hintergrund. Schnell wird klar, dass wir uns in einem Gottesdienst befinden. Die körperlose Stimme des Priesters referiert über die Sünder auf dem Weg in die Hölle (als solche interpretiere ich die Gestalten, die lauschende Gemeinde stellt sich dieses Bild vor; noch dazu greift die Kirchenwand die Farbe der Hölle auf).
In filmischen Schnitten erleben wir alsdann Jason an der Klampfe, wie er Kindern religiöse Lieder vorträgt (eine üble Fallhöhe zur vorherigen Rockmusiker-Fantasie), dann spricht ihn eine Mutter an und macht ihm Komplimente.
Jetzt platziert Ware die Einschubseite, an der wieder interpretiert werden darf: Die Frage nach Privatunterricht darf als Anmache verstanden werden, zumindest stellt sich Jason das vor oder erhofft es sich. Die sechs Miniaturbilder in der untersten Bildreihe schildern einen Seitensprung. Offen ist, ob es sich hier um Jasons Fantasie in der Gegenwart handelt oder um einen Blick in die Zukunft (den Ware uns hier schon gewährt). Denn in der Tat beginnt Jason eine Affäre mit der Frau.
Die Seite endet wieder mit Gegenwartsbezug: Die Familie tritt im Auto den Heimweg von der Kirche an (im Hintergrund zu sehen), Jasons Gedanken rotieren um die Berührung der Frau (die Hand), seinen anerkennenden Blick auf ihren Busen (das Dekolleté) sowie um seine Ahnung, eine Sünde zu planen (die schwarze Figur, die Rückbezug nimmt auf das erste Panel).
Mit dieser Handvoll statischer Momentaufnahmen brilliert Chris Ware erneut und beweist, wie viel Inhalt ein Comickünstler in wenige Bilder komprimieren kann, wenn er sie innovativ anordnet und Bildchiffren nutzt, um Querbezüge herzustellen.
Manisches Midlife
Damit komme ich zu Jasons „besten Jahren“, die sich in einem Umbruch gestalten: Wie es das Klischee verlangt, hat er Leslie und die Kinder verlassen, sich einen flotten Bart stehen lassen, versucht sexuell attraktiv und fit zu bleiben – und macht sich vor, dass er ein prima Leben hat.
Auf der folgenden Seite zeigt uns Chris Ware im linken Drittel den sportiven Jason, dem auf den zwei Dritteln der restlichen Seite Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf schießen.
Wares Liebe zur Miniatur findet hier schönen Ausdruck, dabei wechseln sich Bildpanels mit Wortpanels ab, womöglich um die Seite nicht zu bildgewaltig geraten zu lassen (und um ein wenig Lockerung einzustreuen).
In einem Gedankenstrom erleben wir hier einen Rechtfertigungs-Marathon (passt schön zum Laufband). Seine Frau Leslie habe ihn nicht mehr sexuell erregt, habe ihn fett werden lassen, Sohn Gabriel habe es schwer genommen, Sohn Zach hingegen vertrage sich gut mit der neuen Freundin, überhaupt sei der Sex mit ihr fantastisch, ein größeres Haus und mehr Geld habe er auch, alles sei wunderbar – nur leider komme er nicht mehr so gewaltig beim Orgasmus.
Spätestens hier müssten Sie diesen Widerling doch hassen, oder?
Mit seinem sterilen Stil jedoch erschwert uns Ware das Urteil. Er hält sich und uns auf Distanz zu seinen Figuren. Die sachliche, vermeintlich objektive Darstellung verweigert sich Wertungen (oder gar Ausbrüchen).
Solcherart überhöht Ware seine Charaktere zu Repräsentanten der Gesellschaft, eventuell sogar zu Gefangenen, die sich nicht aus den vorgegebenen Mustern befreien können oder wollen. Das macht Chris Ware zum Chronisten auf der Spurensuche nach Strukturen.
Resigniertes Rentnerdasein
Gegen Ende durchbricht Ware sein Erzählmuster und präsentiert auf fünf Seiten eine völlig andere Grafik, sogar um 90 Grad gekippt gezeichnet, dass wir den Comic drehen müssen (auch diese Sequenz zeige ich im Instagram-Video, Sie haben es oben wahrscheinlich schon gesehen.)
Ware verwendet diese Passage, um einen Flashback in die Jugend von Gabriel Lint zu werfen. Dort entfaltet sich ein Missbrauchsereignis: Jason hatte seinen Sohn aus Ärger so stark geschüttelt und gewürgt, dass dessen Schlüsselbein brach.
Gabriel schildert die Erfahrung in einem Buch, dass sein Leben mit dem cholerischen Vater beschreibt. Dieses Werk entdeckt Jason bei einer Google-Suche nach seinem Sohn und ist entsetzt, was er dort in der Inhaltsbeschreibung lesen muss: Er hatte keine Ahnung, dass sein Sohn Gabe seine Jugend als traumatisch erinnert.
Der Comicforscher Lukas Etter merkt dazu an, dass offen ist, wie wir diese Sequenz interpretieren können: Es könnte die grafisch gestaltete Erinnerung von Gabriel sein; es könnten Gabriels Erinnerung in nachträglicher Verarbeitung sein; es könnten Jasons erwachende Erinnerungen an den Vorfall sein (oder gar alles zusammen).
Auf jeden Fall ist diese Passage auch ein „Trauma“ für den Comic, den wir gedruckt vor uns haben: Die rot-weiß illustrierten Seiten zerreißen die Struktur des Werkes LINT, man beachte auch die beiden halbleeren (!) Seiten, die diese Erinnerung klammern.
(Gut zu sehen im Video, ich zeige hier nochmal den Beginn der Szene. Jason googelt seinen Sohn und entdeckt dessen Enthüllungsbuch.)
Zu beachten ist, wie akribisch Chris Ware die Google-Suche zeichnet (samt Treffern), dann sogar diesen Artikel aufruft. In peinsamer Arbeit handgelettert präsentiert uns der Künstler den ausführlichen Bericht, lediglich ergänzt um drei weitere, kleine Panels am unteren Seitenrand.
Wir sehen Jasons rechte Hand mit der Maus navigieren, dann schneiden wir um auf die frontale Ansicht seines Oberkörpers. Seine linke Hand ruht in einer Entsetzens-Geste auf der Stirn. Die Information des Internets fließt und vibriert durch seinen Körper, der Schock kommt aus der virtuellen Welt. Zugleich mag der Griff an die Stirn das Abrufen der Visionen befördern, wie sie auf den folgenden Seiten hereinbrechen (dazu s. wieder Video.)
Diesem Schock im Alter folgt auch das baldige Ableben unseres Protagonisten. LINT erzählt eisern von der Wiege bis zur Bahre: Jason stirbt allein im Krankenhausbett, seine letzten Fantasien scheinen sich um Gedanken an Orgasmen zu drehen, die übergehen in einen „roten Orgasmus“ des Todes – kreisrunde rote Punkte deuten dies an und greifen den Beginn des Albums auf, wo uns ähnliche Punkte bei der Zeugung des Menschen Jordan Wellington Lint, genannt Jason, begegnen.
Liebling der Wissenschaft
Chris Ware gilt seiner Seriosität wegen (und auch seiner Einladung zum Enträtseln und Interpretieren seiner Werke) als Liebling der Akademia, meint: der wissenschaftlichen Comicforschung, wie sie sich seit geraumer Zeit im Hochschulwesen manifestiert; einen exzellenten Überblick verschafft die Webseite der „Gesellschaft für Comicforschung ComFor“.
Ich möchte diesen Post noch mit den Betrachtungen eines weiteren Comicforschers schließen: Björn Hochschild hat sich in seiner (noch nicht veröffentlichten) Dissertation ausgiebig mit LINT befasst und weist u.a. darauf hin, dass die frühen Jahre von Jordan/ Jason auch in reduzierter Stilistik illustriert werden:
Farben, Formen, Abläufe, Panelanordnungen und Perspektiven sind noch rudimentär, so wie ein Kleinkind die Welt wahrnimmt, beispielsweise auf dieser Seite (die übrigens auch höchst komisch unser Unbehagen mit Körperausscheidungen und Geschlechtsteilen spiegelt):
In den Worten Hochschilds (fette Hervorhebungen von mir, kursive vom Autor):
„Drei von vier kleinen Panels zeigen einen Ausschnitt von Jordans Unterleib, aus dem der Kot (als schwarzer Strich) auf den Boden fällt. Das vierte Panel ist wiederum rahmenlos und zeigt Jordans Kopf falschherum auf weißem Untergrund.
Als Unterleib werden die drei ersten Panels erst im Feld einer größeren Panelgruppierung explizit: In drei größeren Panels ist Jordan auf allen Vieren als zusammenhängender Körper zu sehen, zunächst mit dem Kopf nach unten geneigt und anschließend lächelnd den Blick nach vorne gerichtet. Die ersten vier Panels weisen sich somit als Blick Jordans zwischen seine eigenen Beine auf seinen eigenen Unterleib aus.
In der Gestaltung dieser und auch weiterer Körper der Seite fällt vor allem ein Unterschied zwischen Rumpf und Gesicht auf: Während die Gesichter stets rundlich anmuten, bestehen die Rümpfe vorwiegend aus geraden Linien oder gar scharfen Ecken. Besonders prominent wird dies im zentralen und mit Abstand größten Panel der Seite. In diesem ist der Körper der Mutter zu sehen.
Ihr rundliches Gesicht ist angeschlossen an einen im 90°-Winkel gebückten Rumpf. Von diesem gehen vier gerade Arme mit jeweils geraden oder um 90° geknickten Fingern ab, die jeweils horizontale, vertikale oder genau im 45°-Winkel diagonal verlaufende Linien bilden. In ihren unnatürlichen Ecken und Kanten der Gliedmaßen, die sich gegen die runden Kopfformen stellen, gestaltet sich eine verformende Bewegung der Körper in dieser Sequenz. Dominiert wird diese von dem Entsetzen der riesigen, vierarmigen und geradezu monströsen Gestalt der Mutter.“
Das Kot-Drama nimmt die oberen zwei Drittel der Seite ein, das untere Drittel schildert wie auf einem Laufband, wie der im Babybett liegende Jordan (der runde Kreis ist die Deckenlampe über ihm) an seinem Penis spielt. Das findet nicht den Beifall der Mutter, deren Arm am rechten Bildrand eingreifend ins Sichtfeld gerät. Ich zeige diese Bilderfolge noch einmal separat:
Dazu noch einmal Hochschild:
„Eine diagonale Symmetrie findet sich auch im zweiten Strip: Links und rechts sind nahezu identische Ansichten des Babybetts und der Deckenlampe zu sehen; in der Mitte eine alternierte Ansicht, die Jordans Unterleib in den Vordergrund rückt. […] Die Perspektive verweilt in ihrer extrem flachen Bewegung und deutet lediglich in den unteren Panels eine Tiefe als gestaffeltes Verhältnis von Vorder- und Hintergrund an, wenn etwa Beine oder Hände das Gitter der Krippe bedecken oder von diesem bedeckt werden. Im Gegensatz zur Perspektive verändert sich die Bewegung des Seiten-Layouts stark. […]
(Diese Seite) zeichnet sich in den Relationen dieser Bewegungen dominanter Gestaltungsmerkmale durch ein verformendes und konfligierendes Verhalten aus. In den Farben und ihrer leuchtenden Kontrastierung tritt ebenso ein Ausdruck von Konflikt hervor wie in der misskommunikativen Schrift-Bild-Beziehung. Die eben erst entstandenen Formen und Körper verformen sich zu gegensätzlichen Gestalten und das Seiten-Layout gestaltet in seiner Bewegung den Konflikt von Mutter und Sohn als auf Übertreibung und Misskommunikation beruhend.“
Ich schließe diese längere Analyse mit der Bemerkung, dass Chris Ware viel Sinn für Komik (allerdings leiser Natur) hat und dem Aufruf, sich auch mal länger und tiefer in einen Comic zu versenken (s. die Werke von Eckhoff-Heindl, Etter und Hochschild) – es lohnt sich.
Bonusbildchen zum Selbstinterpretieren: Jason erfreut sich als Student an Football, Bier, dummen Streichen und Promiskuität.
Hören Sie sich doch dazu Iggy Pops Spottlied auf den „alten weißen Mann“ an: „I’m a Conservative“ (40 Jahre alt, passt aber prima).
Hier noch Hochschilds Fazit zu LINT und zur Begegnung mit Comicfiguren an sich, zur Lektüre von Comics generell:
„Es entfaltet sich hier eine komplexe und unangenehme ästhetische Erfahrung der paradoxen Struktur der Wahrnehmung des Anderen. In dieser Struktur kann es kein ‚Ich‘ ohne Anderen und keinen Anderen ohne ‚Ich‘ geben und jede Wahrnehmung des Anderen ist gleichsam eine Verbindung und ein Gewaltakt.
Dass die Begegnung mit Jordan dennoch als Genuss bezeichnet werden kann, liegt letztlich in der Tatsache begründet, dass die Begegnung mit ihm eben keine unmittelbare Begegnung mit einem anderen Menschen ist, sondern aus der Begegnung mit einem ästhetischen Wahrnehmungsgegenstand hervorgeht.
Der Genuss an der Begegnung mancher anderer Film- und Comicfiguren mag darin bestehen, im ‚geschützten‘ Rahmen des wahrnehmbaren Wahrnehmens Figuren, Wesen und Welten anzutreffen, die außerhalb dieser Art von Begegnungssituation eine Gefahr für die Zuschauenden und Lesenden darstellen würden.“
Yep, so begreifen wir Comics als eskapistischen „safe space“, der uns dennoch die Welt und unsere Teilhabe darin erklären kann.