Dieser Comic nimmt einen nicht bei der Hand. Was Vor- und Nachteile haben kann. Ich hasse wenig mehr als biografische Stoffe, die uns in sturer Chronologie Station für Station durch ein Leben führen. Ich finde das langweilig, faktenfixiert und unkreativ – zudem kann sich kein Lesefluss entwickeln, weil wir im „Stop-and-Go“-Verfahren Anekdoten abhandeln.
Mir gefallen Ansätze, die solche Konventionen über Bord werden, die nur auf eine Phase fokussieren, die den Mut haben, auch frei Schnauze zu fiktionalisieren, damit aber eine Interpretation der betreffenden Person lebendig werden lassen.
(Am radikalsten geht HIER Jan Bachmann mit Erich Mühsam um.)
Was ich in puncto SEX PISTOLS sagen will: Dieses Werk ist so’n Zwischending. Wir bekommen einen Mix aus Fakten, Zeitkolorit, historischem Kontext und episodischer Figurenzeichnung. Das Werk klammert sich nicht an programmatisch-spannungsarme Authentizität, sondern erlaubt sich kleine Exkurse – wie diese Seite, auf der „Anarchy in the UK“ britische Ohren erreicht:
Komm, nimm mich bei der Hand!
Mir ging es so, dass ich SEX PISTOLS – DIE GRAPHIC NOVEL in der Mitte abgebrochen und zugeklappt habe. Nicht, weil er mir nicht gefallen hätte, sondern weil ich das Bedürfnis nach Recherche hatte. Der Comic verlangt Vorkenntnisse, wie ich finde.
Wer waren die Mitglieder der Sex Pistols? Wann spielte sich das Ganze ab? Wie war die Band auf ihren Manager Malcolm McLaren gestoßen? Was war mit den Plattenverträgen und Fernsehauftritten? Wo hat es Skandale gegeben?
Der englische Wikipedia-Eintrag ist sehr ausführlich und hat alle meine Fragen beantwortet. (Kürzerer deutscher Eintrag HIER.)
Bei meiner fortgesetzten Lektüre und dem dabei erfolgenden Abgleich des Wiki-Artikels mit SEX PISTOLS – DIE GRAPHIC NOVEL registrierte ich mit Erstaunen, dass man aus den Internet-Infos allein diesen Comic skripten kann. Vielleicht war das sogar der Fall.
Autor Jim McCarthy nämlich schreibt (habe ich dann mit Erschrecken festgestellt) seit zehn Jahren am Fließband Skripte für Graphic Novels über Musiker: Kurt Cobain, Michael Jackson, Bob Marley, Metallica, Tupac Shakur, Eminem, The Ramones …
Das mag Ausweis für einen routinierten Zugriff auf die Materie sein, mag aber auch bedeuten, dass McCarthy im Schnellschussverfahren Prominenten-Wundertüten abpackt und als Pendant einer Pralinenpackung für Comicfreund*innen verscherbelt.
SEX PISTOLS – DIE GRAPHIC NOVEL steht somit im Verdacht, mehr originelles Mitbringsel als ambitionierter Comic zu sein.
(Andererseits ziehe ich meinen Hut, sollte McCarthy die Chuzpe besessen haben, aus Wikipediawissen Comics zu machen!)
Tatsächlich verfestigte sich mein Eindruck, dass hier eins zu eins von Internet zu Comic transferiert wurde, zumindest über weite Strecken.
Ein Beispiel (Text zum Vergrößern anklicken):
Punkige Vermarktung
Zur Darreichungsform: Ein normalformatiges 100-Seiten-Album (von den 100 Seiten sind wohlgemerkt zehn Seiten noch Bonusmaterial) als „Graphic Novel“ auszuzeichnen, kommt uns Deutschen etwas prätentiös vor (denn wir sind weitaus umfangreichere Graphic Novels gewohnt).
Der Band heißt im Original jedoch SEX PISTOLS – THE GRAPHIC NOVEL, daher erklärt sich das (denn im englischen Sprachraum kann schon ein Album eine Graphic Novel sein).
Ich linke Ihnen HIER die Panini-Verlagsseite und kann mir eine editorische Anmerkung nicht verkneifen: Das Vorwort ins Deutsche zu übertragen, hätte man sich schenken können. Musikjournalist Mark Paytress vergleicht die Pistols darin mit britischen Comicfiguren, die hierzulande wirklich keine Sau kennt.
Ein sachlicher Abriss der Pistols-Geschichte wäre dienlicher gewesen – und damit schließt sich der Kreis zum Beginn dieses Artikels: Ich empfehle, sich vor Lektüre kurz über die Sex Pistols schlau zu machen.
(Der oben erwähnte englischsprachige Wikipedia-Eintrag scheint tatsächlich die Blaupause für den Comic zu den, ohne Studium desselben verstehen Sie manche Passagen der Graphic Novel nicht!)
Wo ist bitte das erwähnte Blut hin? Ohne Kenntnis der Wiki-Fakten macht Sids Getobe in der Toilette wenig Sinn.
Das gibt natürlich Abzugspunkte. Die zweite Hälfte von SEX PISTOLS – THE GRAPHIC NOVEL habe ich wie erwähnt damit verbracht, Absatz für Absatz auf Wikipedia zu lesen und mir dann anzuschauen, wie sie es in Bilder umsetzen! Eigentlich nicht der Sinn von Comics.
Auch wenn wir die sprunghafte Dramaturgie hinnehmen (liegt in der anekdotischen Natur der Sache), bleiben noch andere Defizite: Die Erzählstimme (in Schreibmaschinenschrift gelettert) will auf ihre Weise „punkig“ klingen, wirkt mitunter jedoch abgehackt und rätselhaft. Letzteres mag ein „Lost-in-Translation“-Problem sein, schwerer wiegt, dass die Charaktere schablonenhaft bleiben und mir niemals nahe kommen.
Spannender wäre es gewesen, die Bandgeschichte aus einer einzelnen Perspektive zu erzählen – sei es die von Malcolm McLaren, Sid Vicious, Johnny Rotten oder auch Vivienne Westwood, Siouxsie Sioux oder Nancy Spungen …
(Das aber hätte einen völlig anderen Recherche-Ansatz verlangt und das Internet wäre einem nicht so schön entgegengekommen, zwinker.)
Aber: Wenn man sich für die Sex Pistols interessiert (und sich kundig machen mag) , präsentiert einem dieser Comic das ansprechende Komprimat einer kurzen Karriere in illustrierter Form.
(Und es präsentiert einen tollen Schlussmonolog von John Lydon, den ich hier noch spoilere!)
Punkige Panels
Das Gelingen eines solchen Bandes hängt zu großen Teilen vom Artwork ab. Hier illustriert auf passend struppige Weise Steve Parkhouse, Veteran der britischen Szene, Zeichner für 2000 AD, WARRIOR, CRISIS, dem noch unentdeckten Alan-Moore-Comic THE BOJEFFRIES SAGA, hauptsächlich jedoch minderer Werke wie DOCTOR-WHO-Comics.
(Parkhouse behauptet im Nachwort, für MAD gezeichnet zu haben, wofür ich jedoch keinen Beleg finde.)
Parkhouse aber hätte zu MAD gepasst, er passt auf SEX PISTOLS – DIE GRAPHIC NOVEL und bedient sich einer schicken Kombination: karikaturistische Figurenzeichnungen mit kontrastreicher Kolorierung aus dem dunkleren Spektrum, dazu Einsatz von kreativen Texturen und effektvoller Lichtsetzung für die Hintergründe.
Dieser Comic wirkt unangestrengt, lässig und regelrecht hemdsärmelig, ist jedoch subtil komponiert – was ihm meine Sympathien sichert!
An dieser Stelle können Sie mein Instagram-Blättervideo abrufen, im Anschluss biete ich noch vertiefendes Material zur Band und ihrer Wirkung an.
Sex Pistols – reloaded!
(Tschuldigung für das abgegriffene „reloaded“, aber bei Pistolen passt es, chhhrrr)
Ich halte die Sex Pistols für ein (sehr kurzlebiges) britisches Phänomen und mich reizt an der Erzählung das „Phänomenale“. Nicht so sehr die Songs, nicht die Chartserfolge, sondern der Umbruch, den die Pistols in der britischen Gesellschaft bewirkt haben. Die „Revolution der Sitten“, wenn man so will.
Ihr Album „Never mind the bollocks, here’s the Sex Pistols“ zählt für mich zu den prägenden Kulturerfahrungen meiner Jugend.
Es ist mir unmöglich, über die Pistols zu schreiben und nicht wenigstens ein Video zu posten: „God save the Queen“ von 1977, mit Sid Vicious und einem Pumuckl-roten Johnny Rotten.
Hach, ich liebe die Rotzigkeit der Sex Pistols, die hat heute noch Schmiss.
(Wer es rockiger mag, darf sich gerne für die Coverversion von Motörhead 2017 entscheiden, hihihi.)
Zum „Phänomen Sex Pistols“ einige Clips:
1976 lümmelt sich die Band (noch ohne Sid Vicious) samt Entourage als Gast in einer Fernsehshow. Johnny Rotten sagt „Shit“ (was er nicht soll), daraufhin macht Moderator Grundy die damals noch blonde Siouxsie Sioux an, wofür Gitarrist Steve Jones ihn mit Flüchen belegt: „Bastard“, „Fucker“, „Dirty old Man“.
Erster Live-Fernsehauftritt der Pistols in der Sendung „So it Goes“, auch 1976.
„Get off your arse!“, begrüßt Johnny Rotten sein Publikum, dann intoniert die Band „Anarchy in the UK“ und pogt ein bisschen.
(Nur mal zum Vergleich: In Deutschland läuft in diesen Tagen die „ZDF-Hitparade“ mit Dieter Thomas Heck; dort singt Jürgen Drews „Ein Bett im Kornfeld“, Cindy & Bert schmettern „Addio, mia bella musica“ und Wolfgang Petry präsentiert „Sommer in der Stadt“.)
Sehenswert ist auch ein Zusammenschnitt, der Johnny Rotten 1979 (nach den Pistols) als biertrinkenden Jury-Clown in der Sendung „Jukebox Jury“ zeigt, wo er eine Donna-Summer-Platte verreißt.
(In Deutschland terrorisiert die „ZDF-Hitparade“ uns derweil mit „Goethe war gut“ von Rudi Carrell, „Was wird sein, fragt der Schlumpf“ von Vadder Abraham sowie Didi Hallervorden & Helga Feddersen mit „Die Wanne ist voll“ – mehr Comedy geht kaum.)
Ich mag sogar die schrottige Version von „My Way“, die Sid Vicious kurz vor seinem Tod solo eingesungen hat (ich fürchte, ich hab sie betrunken mal auf einer Party karaokisiert). Hey, ho, Klassiker-Demontage, let’s go!