Ja, Jodorowsky lässt nichts anbrennen. BOUNCER ist ein äußerst gewalttätiger Western, und damit meine ich nicht, dass geschossen wird und Blut fließt.
Das sowieso, aber BOUNCER bietet auch noch Hauen und Stechen, Foltern und Peitschen, Hundekämpfe plus ein atemberaubendes Gladiatorenspektakel: einarmiger Mann gegen wilden Braunbären.
(Und ich spoilere, wie das ausgeht: Der Mann obsiegt, weil der den Bär erstechen kann – mit den Knochen des vorausgegangenen Gegners!)
Yay, Jodorowsky! Wie schön, mit fast 90 Jahren noch kreativ zu sein (bis 2018 sind elf Alben erschienen, der deutsche Verlag schreiber&leser legt die ersten neun in vier Gesamtausgaben und die beiden letzten als Einzelalben vor.
Ich hab mir mal die Gesamtausgabe 4 erbeten, die die zusammengehörenden Geschichten 8 und 9 präsentiert: „To Hell…“ und „… and Back“.
„Bouncer“ heißt die Hauptfigur dieser Albenreihe, ein einarmiger Cowboy, der in Barro City oft den Saloon in Security-Funktion überwacht. Diesmal aber ist er durch ein Pokerspiel abgelenkt und bekommt nicht mit, dass Pretty John mit drei Handlangern im Saloon Frauen missbraucht. Als man ihn ruft, ist es bereits zu spät:
Eine schwangere Frau ist erstochen, der Barkeeper schwer angeschossen worden. Pretty John, der dandyhafte Sohn des Gefängnisdirektors Ugly John, ist auf der Flucht in die heimische Gefängnisfestung Deep End – diese liegt viele Meilen vor der Stadt, erreichbar mit einem Zug oder einem beschwerlichen Marsch durch eine steinige und trockene Wüste.
Das Doppelalbum „To Hell …“ / „ … and Back“ schildert uns die Reise des Bouncers in diese Knaststadt, die von den Verbrechern und der korrupten Gefängnisleitung selbstverwaltet wird.
Der Bouncer wird in den Kerker geworfen, muss ein mörderisches Duell überstehen, wird hofiert von der „Königin“ der Festung (Pretty Johns Mutter bzw. Ugly Johns Frau). Er kann mit Hilfe zweier indianischer Freunde entkommen, um den grausamen Pretty John der Justiz in Barro City auszuliefern.
Zwischen Bouncer und seinem Gefangenen liegt aber noch die tödliche Wüste, die es zu durchwandern gilt. Zudem sind ihm diverse Häscher auf den Fersen.
Der Stoff ist griffig geskriptet und durch Boucq atemberaubend inszeniert.
Endlich unterlasse ich auch (für den Moment, später mehr!) mein Gestänker gegen BOUNCER. Habe ich früher öfters gelästert, Zeichner François Boucq sei „im Westerngenre verschenkt“, weil der diesem nichts Neues hinzufügen könne, möchte ich das hier und heute relativieren
Für mich bleibt Boucq der König der absurden Phantastik, niemand sonst kreiert Seiten wie folgende zwei Seiten aus „Horst Katzmeier in der fünften Dimension – und der Haifisch, der hat Zähne“ (Edition Kunst der Comics 1996):
Aber das ist lange her, man muss Boucq zugestehen, eine Phase hinter sich gelassen zu haben. Es drängt den französischen Meister zu konventionellen Stoffen, siehe JANITOR, siehe BOUNCER – und weshalb auch nicht?!
Wenn man denn bei BOUNCER von „konventionell“ sprechen kann, hat er doch hier Jodorowsky an seiner Seite! Der einen Western schreibt, der die Filme von Sam Peckinpah wie Kinderfernsehen wirken lässt.
Seien Sie gewarnt, BOUNCER ist nichts für zarte Gemüter, aber ein Western darf auch brutal sein. Auch wenn darauf hingewiesen werden muss, dass Jodorowsky schwer überzieht:
Eine Wüstenfestung, die als Gefängnis fungiert, aber eigentlich ein Kasino der perversen Lüste ist, betrieben von einem orgelspielenden Mönch und seinem sadistischen Sohn? Ist das noch Western?! (Haben wir wieder vom Peyotl genascht?)
Tzzz, tzzz, tzzzz. Aber ich mag verrückte Stoffe, ich mag auch halluzinogene Drogen und bin für Kunst, die auf die Kacke haut.
Ihr könnt mir Bären aufbinden, so viel ihr wollt, solange es Schauwert hat. (Halt, der Bär ist schon tot, aber wir finden bestimmt Ersatz.)
Hauptgrund übrigens, dass ich mit BOUNCER leben kann, ist eine Veränderung im Stil.
Vielleicht halluziniere ich auch (hihi), aber mir scheint, Boucq hat seinen Western-Strich im Verlauf der Serie etwas aufgelockert. Wo er mir in den ersten Alben zu tight nach Giraud und Hermann aussah, ist er nun ein wenig fluider und eigenständiger.
Schaunsemal auf die fast flüchtig eingesetzten, dickgetuschten Pinselstriche:
Ich bilde mir ein, François Boucq ist abgerückt von der Nachahmung des klassischen frankobelgischen Westerns und besinnt sich rück auf seine Kompositionskunst, wie schon früh bewiesen in MONDGESICHT, TEUFELSMAUL oder DIE FRAU DES MAGIERS.
Kann auch sein, dass ich bloß Gespenster sehe! Und das ganz ohne diese Drogen.
Toll, dafür sind Comics da.
Das dicke Ende kommt leider noch
Auch wenn ich jetzt mit der Boucq-Beteiligung an BOUNCER meinen Frieden machen kann, muss ich doch auf die Verirrungen des Alejandro Jodorowsky hinweisen.
In Band 9 gerät der Western mehr und mehr zu einem dystopischen Stoff und wirkt, als wäre es ein Zwilling von JEREMIAH: die anarchische Gesellschaft in Deep End, die Flucht durch die Wüste, die Konfrontation mit den geisterhaften Häschern, den „Skulls“.
Auch entpuppt sich der sadistische Pretty John als Klischee vom „teuflischen Krüppel“ und (schlimmer noch) als Intersexmensch, der womöglich deswegen so aus der Art geschlagen ist! Pretty John könnte einfach ein Psychopath sein, der unter Verbrechern aufwachsen musste (wie auch gesagt wird).
Aber nein, der Jodorowsky-Greis musste ihn unnötigerweise noch mit sexueller Ambiguität befrachten, die hier gar nichts zu suchen hat.
„Du bist weder Mann noch Frau, du bist ein Teufel in Menschengestalt.“
Das ist schon übel. Entspringt offenbar der Sucht nach Grenzverletzung, die den großen Chilenen seit Jahrzehnten antreibt und auszeichnet. Das muss doch ein Schlag in die Magengrube für alle nichtbinären Menschen sein.
So gut mir die rabiate Höllenfahrt (Band 8) als eigenwilliger Western gefällt, so bitter gestaltet sich die Rückkehr (Band 9) aus der gesetzlosen Parallelwelt – und verdirbt mir den Gesamteindruck.
Wie blättern durch das Werk: