Manuele Fior ist eine größere Nummer in der Graphic-Novel-Szene. Der Italiener mit Wohnsitz in Paris hat bislang acht Werke vorgelegt, sechs davon auf Deutsch beim avant-Verlag zwischen 2005 und 2016.
Sein vorvorletztes Werk, DIE ÜBERTRAGUNG, hatte ich mal in der Ausleihe und war dermaßen angeödet davon, dass mir ein reflexhafter Graphic-Novel-Hass hochkochen wollte: verblasen, leer, schleppend, ohne Aussage, brrrr.
You give graphic novels a bad name!
Dann aber fiel mir diesen Winter sein vorletztes Werk auf Ebay zu: D’ORSAY-VARIATIONEN. Ein antiquarischer Spontan- und Lustkauf, ja, ich folge meiner Nase, und bei mir bekommt jede/r eine zweite Chance. Und wie wunderbar ist dieses Werk!
Leichtfüßig, witzig, kompetent, fantasievoll, träumerisch, originell, herrlich stimmig koloriert! (Die doofe ÜBERTRAGUNG ist ein Buch wie in Grau gewaschen.)
Im Pariser Musée d’Orsay geht es trotz des Kunstgenusses raunzig zu: Eine schroffe Museumswärterin ermahnt einen Besucher, nicht „so nah an das Bild“ heranzutreten. Der Besucher schwenkt genervt ab, wir bleiben bei der Frau, die einen Monolog über die ausgestellte Kunst beginnt. Gegenstand ihrer Kritik ist Henri Rousseaus „Die Schlangenbeschwörerin“ von 1907.
Die Wärterin gähnt und verfällt in ein Dösen, welches sie traumartig in das Gemälde versetzt (zeige ich im Instagram-Video, Link ganz unten am Ende des Beitrags).
Nun geht es Schlag auf Schlag: Wir fliegen durch die Zeit und die Schlangenbeschwörerin beschwört uns Rousseaus Kollegen Edgar Degas herbei. Der besucht einen weiteren Malerfürsten in seinem Atelier.
Jean-Auguste-Dominique Ingres wird sein Mentor und gibt ihm Tipps zur Gestaltung seiner Malerei. Gut, ob „Mehr Lininen, zeichnen Sie mehr Linien“ wirklich Gold wert ist, sei dahingestellt, aber Degas wird darüber nachdenken.
Wie in einer Boulevard-Komödie geht die eine Tür zu, die andere fliegt auf – und ein angetrunkenes Modell tritt ein, um Ingres zu inspirieren.
Im Anschluss fantasiert die Museumsfrau bzw. Wärterschlange von den Kunstbewegungen des Fin de Siècle und führt uns auf einen Künstlerstammtisch, wo die Meinungen hoch hergehen: Degas, Renoir, Manet und Pissarro streiten um einen Gruppennamen und veranstalten eine Vernissage als „Die Unbeugsamen“.
Die Bilderschau in einem noblen Palais gerät zum Höhepunkt dieses Comics, denn es kommt erst zu spitzzüngigen Debatten zwischen Malern und bourgeoisen Besuchern, dann sogar zu Handgreiflichkeiten!
Endend im Einschreiten eines Wärters, der uns mit seinem Mantra belustigt: „Nicht so nah an die Gemälde!“
Und damit schaltet Fior wieder in die Gegenwart, wo unsere Geistführerin durchs Depot streift und uns bittersüße Anekdoten vom Leid der verkannten Künstler auftischt.
Das Finale gehört dem alten Edgar Degas und einer großartigen, fantastischen, ironischen Vision von Kunst und Leben und ausgestellter Kunst in unserem Leben. Mehr sei nicht verraten.
L’art pour l’art – diesmal gerne!
Der Museumscomic ist ja bereits ein Genre der Graphic Novel (und wenn ich recht erinnere, ist das mindestens der dritte Comic, der das Pariser Musée d’Orsay zum Thema hat; hat nicht die Meurisse einen gemacht, äh, und noch jemand … äh … sorry, vage!).
Das Artwork von Manuele Fior ist ein begeisternder Mix aus Zeichnung und Malerei. Die Gesichter seiner Figuren sprechen Bände; seine Seiten sind kreativ komponiert, ohne die Konventionen zu verlassen; seine dezenten Farben orientieren sich an den Gemälden der Zeit und perfektionieren das stimmige Gesamtbild.
Einzige Seltsamkeit ist, dass Fior seine Graphic Novel gleich zweimal erzählerisch rahmt: Die Binnenerzählung gehört der Museumswärterin; doch die ersten drei und die letzen beiden Seiten rahmt ein Freundinnen-Paar, das das neue Paris nach der Jahrhundertwende um 1900 entdeckt.
Narrativ unnötig, aber damit verankert Fior seinen Comic in einer nostalgischen Perspektive, die einfach mal schön ist und uns Leser*innen abholt beim Gefühl des Staunens, das jedem Paris-Touristen bekannt vorkommen dürfte.
Mit dem Seitenübergang wechseln wir auch die Zeitlinie: Aus dem Bahnhof, den Odile und Gisèle bewundern, ist mittlerweile ein Museum geworden, in dem Menschen Kunst bewundern.
Die D’ORSAY-VARIATIONEN von Manuele Fior, nichts dran auszusetzen!
Ein Bilderbuchbeispiel für eine Graphic Novel.