Dame, König, Alien, Spion: STRANGE SKIES OVER EAST BERLIN

Gott, wie vermisse ich den Kalten Krieg!
Es war alles so einfach damals: West gegen Ost, gut gegen böse, klare Sache, Dankeschön.

Dass diese Zementierung der Verhältnisse mit schrecklichen Verheerungen der kollektiven Psyche bezahlt wurde, ahnen wir zwar, doch dieser Comic von Autor Jeff Loveness und Zeichner Lisandro Estherren vermittelt uns diesen Tatbestand in kreativer Weise neu.

Anhand dreier Figuren (und deren spezieller Vergangenheiten) entwirft STRANGE SKIES OVER EAST BERLIN ein Zeitbild aus dem Jahr 1973: ein amerikanischer Spion, eine russische Obristin sowie ein deutscher Stasi-Mann treffen aufeinander.
Der US-Agent Herring hat sich in oberste Stasi-Zirkel in Ost-Berlin eingeschlichen, verhilft gleichzeitig Dissidenten zur Flucht über die Mauer. Stasi-Inspektor Keiner ist der Mann, der Herring gerne auffliegen lassen möchte; der weibliche sowjetische Oberst Anzhela ist die „große Schwester“, die über Keiner ihre schützende Hand legt.

Im üblichen Spionagegeplänkel passiert plötzlich etwas Unerwartetes: Ein unidentifiziertes Flugobjekt rast gefährlich tief über Berlin hinweg und schlägt irgendwo im Osten auf. Die Amerikaner schicken ihren Mann los, um der Sache auf den Grund zu gehen.

In einer Einführung sehen wir Herring bei seinen Überwachungsarbeiten, dem Aufspüren des Einschlagsortes im russischen Sektor sowie dem Besuch einer speziellen Bunkeranlage.

So wie Herring mit dem Fahrstuhl in der Dunkelheit versinkt, wandern seine Gedanken zurück in die Vergangenheit.
Herrings erster Verrat an einer chilenischen Dissidentin fundamentierte seinen Ruf als Kommunistenfresser, später wechselte er nach Ost-Berlin, nun steht er an der Front des Kalten Krieges – und ist in einem düsteren Bunker gefangen mit zwei gefährlichen Widersachern.

Denn neben Obristin Anzhela, die das UFO geborgen, seinen Insassen im Bunker eingesperrt hat und die Untersuchung desselben befehligt, tritt auch Keiner auf den Plan, der gefürchtete Verhörspezialist, vor dem selbst Herring die Hosen voll hat.

Die Farbe aus dem Weltall

 

Was sich hier wie Elektrizität aus Herrings Körper ergießt und in blauer Schrift mit ihm spricht, ist das Alien, das sich zugleich als Geist der von ihm verratenen Dissidentin Aya manifestiert.
Was da aus dem All zu uns gekommen ist, wird nie konkret verraten. Es ist womöglich eine höhere Instanz, die die Menschen für ihre Verbrechen untereinander und den Rüstungswettlauf der Supermächte zur Rede stellen möchte.

Dieses Alien ist zwar im Bunker gefangen, kann jedoch von Person zu Person springen, Gedanken lesen und mit den Betreffenden in Kommunikation treten. Die Paranoia des Kalten Krieges manifestiert sich nun als psychologische Schnitzeljagd durch den Bunker.

Wir können es auch „Gewissen“ nennen, was unsere drei Charaktere heimsucht. Herring reflektiert sein Lebensgebäude aus Lügen; Anzhela wird mit ihrer Trauer über den Bruder Ivan konfrontiert, den sie im  brennenden Berlin dem Tode überließ.
Stasi-Mann Keiners Geschichte entrollt sich als Überlebendenschicksal: Der jüdische Junge wurde aus einem Lager befreit und widmete sein Leben der Rache.

Das Leben der Eigenen

 

STRANGE SKIES OVER EAST BERLIN ist ein rückwärtsgerichteter Thriller: Egal wer auf welcher Seite steht – welche Kompromisse ist er für seine Karriere eingegangen? An welchem Abzweig des Lebenswegs hat er seine Menschlichkeit aufgegeben?

Dieser Comic ist die ultimative Meditation über den Preis der Lüge, die Angst vor dem Fremden, die Sucht nach Sicherheit. Sehr clever von Autor Loveness in drei Figuren implementiert, die in ihrer Interaktion erkennen müssen, dass es keine alleingültige Wahrheit gibt.

Was der junge Argentinier Lisandro Estherren grafisch inszeniert, finde ich nichts weniger als atemberaubend. Die wie hingeworfen wirkende Skizzierung seiner Charaktere ist umwerfend ausdrucksstark, seine Layouts sind simpel, aber effektiv – und seine Hintergründe und Räume auf faszinierende Weise atmosphärisch (Lob hier auch an den Koloristen Patricio Delpeche).

STRANGE SKIES OVER EAST BERLIN sind bloß vier Heftchen, versammelt in einem schlanken Tradepaperback von Boom!Studios, für etwa 15 Euro im Fachhandel erhältlich.

Ein Kalter-Kriegs-Thriller, der sich wie kein anderer zuvor dem Innenleben seiner Figuren widmet. Ich widme ihm noch ein Blätter-Video: