MEMORABILIA schwelgt im Gestern

Das können wir kurz machen: Dieser Comic ist einfach schön, eines Zeichners Hommage an seine Vorbilder.

Der Italiener Sergio Ponchione spricht von seiner Liebe zu den Zeichenstars Steve Ditko, Jack Kirby, Wallace Wood, Will Eisner und Richard Corben.
Und weil womöglich nicht alle Comicfans diese Namen auf dem Schirm haben (es handelt sich um fünf bereits verstorbene Amerikaner), bettet Ponchione seine kurze Erzählung in folgende Rahmenhandlung ein:

Ein Nachwuchszeichner klopft beim Profi an und erbittet sich Tipps, um seine Kunst zu verbessern.

Ponchione verfügt, er solle die Werke von Ditko, Kirby und Wood studieren, diese drei hielten „Wunder bereit“ und hätten das Medium Comic mit ihren Stilen bereichert.

Alles richtig, obwohl ich mir gewisse Anmerkungen nicht verkneifen kann.
Steve Ditko zum Beispiel ist nie meins gewesen.

Der Mann war etliche Jahre lang Vielzeichner beim Billigverlag Charlton, ehe er bei Marvel mit SPIDER-MAN zu Ruhm kam.

Ditkos Artwork habe ich immer als mittelmäßig empfunden, sein SPIDER-MAN strahlt keinen Zauber aus. Der gute Ruf stammt von seinen psychedelischen Layouts, die er in DOCTOR STRANGE verwirklichen konnte.
(Ich linke oben übrigens den englischen Wikipedia-Eintrag, der deutsche umfasst kaum mehr als zehn Zeilen.)

Bezeichnend finde ich daher, dass Ponchione auch nicht auf Ditkos Artwork fokussiert, sondern auf dessen Kultstatus als Phantom der Comicbranche, von dem nur ein einziges Foto existiert.

Bei Jack Kirby sieht es anders aus: Hier imaginiert Ponchione ein Treffen des Zeichners mit einer seiner Kreaturen-Kreationen im Weltall – und widmet ihm einen Kirby-Planeten!

Kirbys Schaffen ist in der Tat ikonisch zu nennen, von seiner frühen Schöpfung CAPTAIN AMERICA bis hin zu seinen Glanztagen bei Marvel, wo er ab 1960 herum nicht nur die FANTASTIC FOUR und THOR, sondern auch groteske Monster wie GROOT, FIN FANG FOOM oder GROTTU gestaltete (und mit diesen die Beschränkungen durch dem Comics Code umgehen konnte).

Von all dem habe ich fast nichts gelesen, doch hat Kirby meinen Respekt für seine Siebzigerjahre-Phase bei DC, wo er in völliger Eigenregie Comics wie die NEW GODS, MISTER MIRACLE, THE FOREVER PEOPLE und THE DEMON aus der Taufe hob.

Die sind allemal absurd und pendeln zwischen ungläubigem Staunen und Cringe (in meiner Wahrnehmung!) – aber sie bieten tatsächlich eigene Visionen von Popkultur, die sich auch über die Jahrzehnte gehalten haben und fortgeführt wurden.

Über Wally Wood habe ich selber geschrieben; Ponchione legt dieses Kapitel als illustrierten Fachartikel an.
Auf nur fünf Seiten gelingt ihm eine bravourös komprimierte Vita inklusive der Würdigung seiner Meilensteine der Comicgeschichte.

Ponchione zeichnet dabei Szenen aus Wood-Comics nach und koloriert sie in elegantem Sepia.
Wenn ich meckern wollte (das will ich eigentlich immer, harhar), fehlt die Erwähnung seines Tippgeber-Flugblatts „22 Panels that always work“ – einer gezeichneten Handreichung von Bildkompositionen, die in seinem Studio kursierte und später ihren Weg zu Marvel und anderen Verlagen fand.

Wood war in der Tat enorm einflussreich auf Kollegen und Nachfolger, wobei ich mich frage, ob das heutzutage noch Gültigkeit hat. Comicschaffende, die im Jahr 2024 erstmalig einen Stift in die Hand nehmen oder ein Tablet einschalten, haben garantiert andere Vorbilder im Kopf!

Aber verweilen wir noch einen Moment bei der Wirkmächtigkeit der Klassiker und kommen wir zu Will Eisner, der Nummer Vier im Bunde.

(Für Kontext und Referenzen verweise ich frech auf meine eigene Beschäftigung mit Eisner bzw. deren Kommentierung auf Grundlage des Alexander-Braun-Werks „Graphic Novel Godfather“.)

Ponchione beginnt für Eisner und den noch folgenden Corben einen neuen Erzählfaden, was ein bisschen schade und inkonsistent ist.
Seine Trias um Ditko-Kirby-Wood nämlich hatte er als Einzelwerk vor über zehn Jahren bereits veröffentlicht. Nun klatscht er noch 15 Seiten dran, was MEMORABILIA leider einen zerstückelten Eindruck verleiht.

Ponchione bindet die beiden Restkapitel an Gespräche mit Kollegen an, was ich nicht recht verstehe. Er hätte doch ohne Not den Nachwuchszeichner wiederkehren lassen können, um ihm noch zwei Tipps zu geben? Egal.

Erfreut an den fünf Seiten über Eisner hat mich besonders die unscheinbar wirkende, oben gezeigte Seite. Der Comicfan erkennt nämlich, dass sich im Treppenhaus des „Eisner Buildings“ nicht nur sein Studio befindet, sondern sich auch Personal aus seinen Comics und Graphic Novels herumtreibt.

Das spiegelt wunderbar die wuselige Stimmung seiner Geschichten wider, die sich immer um normale Menschen aus der Nachbarschaft drehten bzw. um Figuren, die in Notlagen geraten.

Abschluss des Bändchens (es sind wirklich nur 55 Seiten) ist Ponchiones Beschäftigung mit Richard Corben, für den er wieder einen neuen Ansatz findet:

Er zeigt Corben als Jungen, der in einem UFO-Absturzkrater eine seltsame Masse findet, die er wie Knetgummi benutzt und solcherart seine Inspirationen findet!
Dieses „Corbenite“ also ist Motor seines Schaffens, der Künstler somit eine Art Alien – das Ganze gezeichnet wie eine Geschichte von Richard Corben.

Ein grandioser Meta-Spaß!

(Auch über Corben habe ich geschrieben; vor vier Jahren, da lebte er noch, wen es interessiert, der klicke HIER.)

Wo sind die Frauen?

Ein Vorwurf, den man MEMORABILIA machen kann: Es kreist um männliche Persönlichkeiten, deren Wirken tief im letzten Jahrhundert angesiedelt ist. Ist es ein Männerbuch für Männer?

Ich mag es nicht beurteilen, will nur ergänzen, dass der Blick auf Künstlerinnen des Comics lange vernachlässigt wurde oder noch immer wenig geschärft ist. Inzwischen gibt es einige Fachbücher über Frauen im Comicbusiness, die kürzlich verstorbene (oje) Trina Robbins hat hier Pionierarbeit geleistet.

Es fällt dennoch schwer, Zeichnerinnen zu nominieren, die einen Einfluss wie den der genannten fünf Kerle ausüben konnten. Am ehesten waren es die Französinnen Claire Bretécher und Annie Goetzinger, die seit den späten 1970er-Jahren stilbildend und nachwuchsprägend gearbeitet haben.

Heute ist das Feld weit offen und hat jede nationale Grenze gesprengt. Wer heute zeichnet, kann sich aus etlichen „Schulen“ bedienen, seien es Mangas, Superhelden, US-amerikanische Independents, die frankobelgische Großnasen-Tradition, die L’Association, Chiaroscuro, Ligne claire oder die Graphic-Novel-Schmiede um Anke Feuchtenberger. Die Möglichkeiten sind nicht endlos, aber vielfältig.
Ich wünsche mir einen Folgecomic über mehrere Stile und Ausprägungen der Neunten Kunst. Davon träume ich nachts …

Tschuldigung. Jetzt hab ich es doch nicht so kurz gemacht wie eingangs angekündigt. Allerdings bleibt mein Fazit: Dieser Comic ist einfach schön, eines Zeichners Hommage an seine Vorbilder.

MEMORABILIA lohnt sich allein für die sechs Seiten über Richard Corben!
Ich linke Ihnen noch die Verlagsseite bei avant (dort auch eine Leseprobe) sowie mein übliches Geblätter: