Der schönste Abgesang auf die USA heißt LIBERTY

Als ich LIBERTY Mitte der Neunzigerjahre las, war ich von mehreren Aspekten dieses Stoffs fasziniert. Nicht nur von Frank Millers bravourösem Skript und Dave Gibbons‘ kongenialem Artwork, sondern von speziellen Ideen und konkreten Szenen.

Eine moderne, divers aufgestellte Armee, die sich offensiv als gleichberechtigter Arbeitsplatz und Karrieremotor präsentiert – doch in Wahrheit ihre Soldatinnen und Soldaten gnadenlos verheizt? Heftig; ist mir das nicht in Paul Verhoevens bissiger Militärsatire „Starship Troopers“ wiederbegegnet?

Dieser vorbildlich diverse Werbespot für die Armee bedeutet hintergründig, dass die hier vorgestellten unterprivilegierten Menschen nichts als Kanonenfutter für die kapitalgesteuerten Interessen der Regierung sind.

 

Ein Terroranschlag, der das Weiße Haus samt dem halben Kabinett wegsprengt – und einen schüchternen Landwirtschaftsminister als ranghöchstes, überlebendes Regierungsmitglied zum neuen Präsidenten macht? Krass; hat man später die TV-Serie „Designated Survivor“ mit Kiefer Sutherland als unwahrscheinlichem Präsidenten draus gemacht.

Eine USA, die von innerer Spaltung zerrissen, sich in neun neue Staaten separiert – darunter New York als „kapitalistische Ostküsten-Diktatur“, Kalifornien als freizeitbesessenes „Wonderland“ mit künstlicher Intelligenz sowie Texas als „Lone Star Republic“ unter dem Landesmotto „Waffen, Rindfleisch und Bier“? Großartig; mit dieser Entwicklung rechne ich eigentlich jeden Monat.

Und das sind die lesbischen, endlich selbst bestimmten Südstaaten!

 

Niemals aus meinem Kopf bekomme ich auch das Bild des Demonstranten, der sich am elektrischen Zaun des Weißen Hauses mit dem KampfrufEchtes Fleisch für echte Menschen!“ zu Tode grillt, nachdem die Regierung die Rechte des allmächtigen Hamburger-Konzerns „Fat Boy“ beschneiden wollte.

Miller und Gibbons überzeichnen ihre Vereinigten Staaten auf eine Weise, die bei ihrem Erscheinen vor 30 Jahren definitiv satirisch gemeint war, heute hingegen nahezu vorstellbar scheint.

Wie konnte es dazu kommen?

 

Die Serie beginnt im Jahre 1995 mit der Geburt der Hauptfigur: Martha Washington kommt als schwarzes Mädchen im Elendsslum „Cabrini Green“ von Chicago zur Welt. Der gesichtslose Wohnblock ist mehr Gefängnis als Lebensraum. Draußen mogelt sich Präsident Erwin Rexall zur dritten Amtszeit, drinnen herrscht Ganggewalt.
Als überdurchschnittlich begabte Schülerin findet sie Förderung beim Lehrer Donald, der ihr mehr als die übliche stupide, regierungskonforme Rumpferziehung angedeihen lassen möchte.

Während der feiste Präsident Rexall im Santa-Outfit  und mit Hündchen auf dem Schoß in seiner Weihnachtsansprache an das Volk schwadroniert, dass alles besser werde und jeder seinen Truthahn zum Fest bekommen habe, schalten wir ins Wohn-, Ess- und Küchenensemble der Familie Washington: Sie leben zellenartig in einem anonymen Wohnblock, der Truthahn ist ein TV-Fertig-Dinner und ihre Zukunftsaussichten sind düster.

 

Donald wird bald Opfer eines brutalen Ghetto-Lords, doch im Affekt kann Martha den Killer tödlich niederstrecken. Daraufhin steckt man das traumatisierte Mädchen in eine Gefängnishaftanstalt und sediert sie mit Drogen. Als die Einrichtung aus Kostengründen aufgelöst und die Patienten von medizinischen Todesschwadronen liquidiert werden, kann Martha erneut einen Angreifer unschädlich machen und taucht mit dessen Kreditkarten unter.
Schließlich findet sie Unterschlupf und Neuanfang bei der Armee, die den Namen „PAX“ trägt, der römische Begriff für „Frieden“, natürlich.

Marthas Grundausbildung folgen augenblicklich lebensgefährliche Einsätze gegen Fleischkonzerne im Regenwald des Amazonas.

 

Im Amazonas gerät sie in grausame Kampfeinsätze und überlebt um Haaresbreite. Dort trifft sie auf ihre Nemesis und ihren Gegenspieler in LIBERTY: Leutnant Moretti. Der möchte als Agent der Fleischindustrie den Wald zur Weidenutzung brandroden, was Martha verhindern kann.
Band 1 endet auf einer unangenehmen Note: Martha und Moretti, die sich im Duell gegenseitig schwer verletzt haben, gelten beide als Kriegshelden – nur wird Moretti, der weiße Mann, zu ihrem Vorgesetzten befördert und tut alles dafür, Martha auf weitere mörderische Missionen zu schicken.
Während sie für die Regierung den Kopf hinhält, nutzt er sein Entree im Weißen Haus dazu, Intrigen zu schmieden.

Moretti macht sich hinter der Front den Lenz, während er Martha schikaniert. Wer würde einer jungen Schwarzen aus dem Slum Glauben schenken, die ihren Vorgesetzten des Landesverrats bezichtigt?

In Washington herrscht ein Machtvakuum, seit Präsident Rexall einem Attentat zum Opfer fiel (und sein Gehirn vom martialisch auftretenden Gesundheitsminister in einem Glasbehälter am Leben gehalten wird). An die Staatsspitze nachgerückt ist der überforderte Landwirtschaftsminister Nissen, der nun von Moretti manipuliert und schließlich sogar umgebracht wird.

Moretti befehligt nun die im Weltraum stationierte Strahlenkanone und führt damit einen Anschlag auf Martha aus, die sich zwischenzeitlich in einem Reservat der Ureinwohner in Sicherheit bringen konnte. Erneut verletzt und traumatisiert, landet sie in der Krankenhausfestung des Gesundheitsministers (auf Englisch klingt der Job besser: „Surgeon General“).

Der als Chirurg verkleidete und von Hygiene besessene Androide wäscht Marthas Gehirn und will ihr eine neue Identität einpflanzen. In letzter Minute kann sie von ihren Mitstreitern, der Telepathin Raggedy Ann und dem Apachenhäuptling Rotfeder, gerettet werden. Es kommt zum Showdown zwischen Moretti und seinen Verschwörern und Martha Washington, der tapfersten Frau des Planeten.

Der Gesundheitsminister bekommt vom Präsidenten im Glas einen eigenen Bundesstaat, wenn er ihm einen neuen Körper klonen kann; im Hintergrund winkt huldvoll die First Lady!

 

Ich finde diese spezielle Dystopie so erfrischend, weil sie auf sarkastische Weise visionär ist. Ihnen werden bei meiner komprimierten Beschreibung schon Tatbestände aufgefallen sein, die überraschend modern wirken.

LIBERTY registriert und bündelt etliche Befunde und Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und treibt sie auf die satirische Spitze: Unterdrückung und Kriminalisierung der schwarzen Bevölkerung, Selbstgerechtigkeit und Arroganz der weißen Bevölkerung, die egalitären Versprechungen der US Army, das marode Gesundheitssystem, technologische Heilsversprechen, Rüstungswahn und Vorherrschaftswillen, verbrecherische Großkonzerne, LGBTQ-Bestrebungen, faschistische Milizen, Leid und Ausbeutung der Ureinwohner, politische Intrigen im Weißen Haus – ist alles drin in LIBERTY, und zwar schon auf den ersten 100 von 200 Seiten: knallig, knackig und unverschämt unterhaltsam!

Eine faschistische Gruppierung hat die Weltraumkanone unter ihre Gewalt gebracht; Martha kommt auf Besuch, um die Bande auszuschalten (was ihr gelingen wird!).

 

Dass LIBERTY explizit politisch gemeint ist, dürfen wir übrigens annehmen. Denn im Original heißt die Serie nämlich GIVE ME LIBERTY, was sich auf ein Motto der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen des Jahres 1775 bezieht. „Give me liberty or give me death!“, proklamierte Gründervater Patrick Henry auf der Zweiten Virginia-Convention und schürte so Wut und Abscheu auf die britischen Besatzer.

Carlsens Vermarktung als LIBERTY ergibt wenig Sinn, die Neuausgabe bei Panini 2010 macht es besser, vermeidet die nicht transportfähige Anspielung und fokussiert auf die Hauptfigur: DAS LEBEN UND WIRKEN DER MARTHA WASHINGTON IM 21. JAHRHUNDERT.
Gut, das ist zwar sperrig, weckt aber epische Erwartungen und kommt mit hintergründigem Humor daher – wir befinden uns schließlich bereits im 21. Jahrhundert.
Autor Frank Miller stellt also ein politisches Motto in den Vordergrund und versteht seinen Comic als aktualisiertes Statement in der Zeitenwende um 1990 herum: Polizeistaat, Raubbau an der Umwelt, Marginalisierung der nichtweißen Bevölkerung.
Miller gibt sichtlich einen Kommentar auf die Reagan-Jahre ab, sein Präsidentencharakter Erwin Rexall ist ein eindeutiger Fingerzeig auf den 40. Amtsinhaber von 1981–89.

Der ist übrigens am Ende zurück, als Männchen in der Blechtonne, und Martha darf triumphieren: Moretti landet hinter Gittern und erwartet seine Anklage.

An solchen Panels erkennt man, dass Miller und Gibbons mit einem Augenzwinkern auf herrschaftliche Inszenierungen schauen. Dasselbe Bild haben wir in LIBERTY schon viermal zuvor gesehen, da allerdings noch mit einem Präsidenten aus Fleisch und Blut (und jemals weniger Security-Präsenz!).

 

Keine Fortsetzungen, bitte

 

Jetzt muss ich noch über die Sequels reden, die ich sämtlich für überflüssig halte. Dem ursprünglichen Run von vier Teilen (GIVE ME LIBERTY) folgten 1994 die Miniserie MARTHA WASHINGTON GOES TO WAR sowie in weiteren Jahren eine Handvoll Kurzgeschichten, die auf Deutsch übrigens alle in den drei Bänden bei Panini versammelt sind.

Die erwähnte Hauptfortsetzung erschien 1995 ebenfalls bei Carlsen unter dem Titel LIBERTY – KRIEGSGEISTER. Diese kleinformatiger produzierte Ausgabe muss man meiner Meinung nach nicht mehr lesen. Dave Gibbons trumpft zwar mit sagenhaftem Action-Artwork auf, doch Millers Szenario wirkt plötzlich eindimensional und nahezu uninteressant: Martha Washington ist wieder Soldatin bei PAX und kämpft gegen die in LIBERTY kurz vorgestellten Separatisten. Völlig außer Acht bleibt, wer denn inzwischen die Regierungsgeschäfte führt und weshalb sich Martha vor diesen Karren spannen lässt.

Zudem ist der Gesundheitsminister als Gegenspieler wieder zurück, ein einfallsloser Aufguss, der sich in purer Wiederholung erschöpft. Neu ist die Partei der „Geister“, ein internationales Konsortium pazifistischer Wissenschaftler, das wie von Zauberhand alle Probleme lösen kann.

Der Humor beschränkt sich auf einen müden Running Gag über defekte Technik, der Plot ist nicht mehr aus Gesellschaftskritik aus, sondern auf plumpe Spannung: Werden Martha und die Geister es schaffen, die fliegende Superfestung des Gesundheitsministers rechtzeitig aufzuhalten?

War LIBERTY noch zynische Anklage jeglicher Missstände und erging sich boshaft in der Ausmalung derselben, präsentiert KRIEGSGEISTER die simplifizierende Rettung der Welt durch technischen Vorsprung.
Das ist, als sei Miller von seiner Haltung her vom Linkswähler zur FDP übergelaufen, herrje.

Wo stehst du, Frank?

 

Ich habe Millers angeblich islamophobes Werk HOLY TERROR von 2011 nie gelesen. Das hat er offensichtlich als persönliche Aufarbeitung seines 9/11-Traumas verfasst (und sollte bereits 2006 als Batman-Projekt erscheinen). 2018 hat er sich davon auch distanziert. Ich kann nicht einschätzen, wo der Mann politisch einzuordnen ist. Ich kann nichts dazu sagen, dass seine späteren LIBERTY-Nachträge das Gedankengut der neokonservativen Ikone Ayn Rand widerspiegeln sollen.

Als er 1990 mit 33 Jahren LIBERTY schreibt, scheint er mir jedenfalls einem fatalistischen Anarchismus anzuhängen. Er entwickelt darin eine USA der nahen Zukunft (hauptsächlich um 2010 herum), die dem Untergang geweiht ist.
Ein Vergleich mit der aktuellen Netflix-Wintersensation „Don’t Look Up“ sei erlaubt: Die Gesellschaft geht im Laufschritt zum Teufel, aber es macht einen irren Spaß, dabei zuzuschauen.

Schlussbemerkung:

Miller und Gibbons laden LIBERTY immer wieder symbolisch auf: Als Martha Washington, die schwarze Hauptfigur, zum Finale erneut gegen Moretti antritt, den Prototyp des privilegierten Weißen, stilisiert Gibbons das Duell zu einem Aufeinandertreffen von Raubkatze und Großwildjäger.
Dieser Comic lässt sich lesen als afroamerikanische Behauptung gegen weißen Imperialismus und ein überholtes WASP-Amerika. Er funktioniert genauso gut als atemlose Action-Unterhaltung.

Dieser Beitrag wird in sehr ähnlicher Form auch im März 2022 in der COMIXENE Nr. 142 erscheinen. Ich erlaube mir hier noch die Bemerkung, dass die deutsche Übersetzung von LIBERTY teils holprig und wenig gelungen ist.

Im meinen ausgewählten Beispielen ist das kaum zu erkennen, doch gerade die Figur des „Gesundheitsministers“ (der Begriff geht gar nicht, hihihi) verblasst hier völlig.
Der „surgeon general“ nämlich spuckt im Original stenografisch-militärische Befehle, die ihre Wirkung in dieser Übersetzung nicht entfalten.

Comicübersetzungen sind in den letzten 30 Jahren kompetenter und engagierter geworden, scheint mir, ich gehe daher blind eine Wette ein, dass die neueren Panini-Ausgaben es besser machen – ohne auch nur einen Blick hineingeworfen zu haben.

Einen Blick können Sie aber mit mir gemeinsam in die Carlsen-Alben werfen. Ich zeige Ihnen schnell, wie umwerfend schön diese Großbände aussehen!