Schamlose Frau: ANAïS NIN

Das Besondere und das Bemerkenswerte an dieser Graphic Novel ist die radikale Introspektion, mit der das Werk seiner Hauptfigur folgt: Von der ersten bis zur letzten Seite bewegen wir uns ausschließlich in der Gefühls- und Gedankenwelt dieses Charakters, einer Frau, die schockierende Dinge tut (wartensemal ab, bis Sie ins letzte Drittel dieser 190 Seiten kommen).
Wir denken wie Anaïs Nin, wir fühlen wie Anaïs Nin, wir machen ein paar heftige Erfahrungen mit dieser Figur.

Die frankoschweizerische Zeichnerin Léonie Bischoff hat sich in ihrer Anaïs Nin eingegraben und schildert uns die Lebensphase dieser Schriftstellerin von ca. 1924 bis 1935. Dies ist der Aufbruch, die kreative und erotische Explosion der Anaïs Nin – einer Künstlerin, deren posthum neuaufgelegte Werke in den 1980er-Jahren für einigen Wirbel sorgten.
Ich erinnere aus meiner Jugend (auch wenn ich nie ein Wort von Nin gelesen habe), dass diese Frau als total verruchte Person gehandelt und gehypt wurde (Skandalschriftstellerin und so).

Dabei war Anaïs Nin womöglich nur eine radikal selbstbestimmte Frau. Das jedenfalls ist die Lesart, die sich mir in der Graphic Novel ANAïS NIN – IM MEER DER LÜGEN vermittelt. Was mich durchgehend bei der Lektüre fasziniert hat, ist, dass Bischoff ihre Protagonistin an keiner Stelle auflaufen lässt, bricht oder gar diffamiert.

Ganz brav beginnt dieser Comic: Anaïs reflektiert ihr Verhältnis zum Ehemann Hugo.

 

Krass und beeindruckend ist eine Sequenz vom Schluss: Nin treibt ihr schon fünf Monate altes Kind ab. Die grauenvolle Prozedur wird konterkariert durch Nins fantasierte Vorstellung ihrer Geburt als neue Frau. Sie opfert ihre Tochter für ihre Selbstverwirklichung. Und wir sind in der Figur drin – und glauben ihr!

Da wird es Leser*innen geben, die grün und blau anlaufen und diese Anaïs Nin verdammen möchten. Doch Bischoff beendet ihren Comic mit vier Seiten Sonnenschein, die eine erfüllte Frau präsentieren. Mich hat gewundert, dass ich jeden Exzess dieser Person nickend hinnehme und sage: Anaïs Nin hat ein konsequentes Leben geführt.

Das halte ich für den Husarenstreich dieser Graphic Novel. Ein vorurteilsfreies Licht auf diese Künstlerin zu werfen. Ich wundere mich auch, dass Bischoff knapp 40 Jahre nach der Nin-Welle diesen Stoff wieder aufgreift. Und ich freue mich über diese Neubewertung aus der Innensicht.

Die Zeichnerin hat zu Protokoll gegeben: „Mir ist bewusst, dass ich mit ANAïS NIN an einen Mythos rühre. Am schwierigsten ist es, sich von all den Quellen und biografischen Informationen zu lösen, die man im Laufe der Lektüre erhält.“

Seite 37 überrascht aus dem Nichts mit einer wüsten Szene: Ein Verleger bedrängt Anaïs sexuell. Schauen Sie, wie elegant Zeichnerin Bischoff diese Sequenz gestaltet.

Ich habe mich erst nach der Lektüre über die Person Anaïs Nin auf Wikipedia informiert. Der dürre deutsche Eintrag ist enttäuschend, wer mehr erfahren möchte, klicke besser auf den englischsprachigen Artikel.

Übrigens sollten wir uns schon mal gar nicht aufregen über Nins Libertinage und „wilde Frauen“ allgemein. Wenn Sie Künstlerinnen-Biografien der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg studieren, werden Sie auf ähnliche „Boheme-Schicksale“ stoßen.
Anaïs Nin ist hier kein Solitär, kein Unikum der sexuellen Freizügigkeit. Unsere Gesellschaft scheint mir (nach einem fragwürdigen Zwischenhoch in den Siebzigerjahren) in Prüderie abgesunken zu sein. Da finde ich es mutig von Léonie Bischoff, uns eine egozentrische und neurotische Person wie Frau Nin zu präsentieren.

Auf dieser Seite symbolisiert Bischoff den Aufbruch ins Doppelleben: Die zweite Anaïs kommt zum Vorschein und wird mit sich selber durchs Leben tanzen.

 

Was uns diese Graphic Novel jedoch auch vermittelt, ist, dass es Gründe für diese Persönlichkeitsstruktur gibt – und dass die Hauptfigur analytisch an sich arbeitet.
Nin wagt es, sich selber in aller Konsequenz auf den Grund zu gehen. Das ist zerstörerisch, aber auch heilsam. Ein Paradox, das viele nicht leben können.
Ich verstehe ANAïS NIN – IM MEER DER LÜGEN als Radikal-Biografie einer turbulenten Seele.

Sie merken schon, ich rede hier gar nicht über die Handlung dieses Comics, über die Personen in Nins Umfeld. Sie erleben das bitte in der Haut von Anaïs selbst!

Ganz schnell sei nur gesagt, dass Nin ein Doppelleben verfolgt: Sie liebt ihren Mann Hugo aufrichtig, aber sucht (aus Gründen der persönlichen Entwicklung) emotionale Abenteuer mit einer Reihe anderer Menschen.
Hier kehrt sie von einem Liebestreff mit Henry Miller nach Hause zurück. Ihr Verhältnis zum Ehemann Hugo hat eine ganz eigene Prägung, die Bischoff einfühlsam rüberbringt.

Der dunkle Spiegel

 

Ich möchte noch etwas zum Artwork von Léonie Bischoff sagen sowie einen möglichen Kritikpunkt anschneiden.
Obwohl die bunten Bleistiftzeichnungen oft simplifizierend wirken (rehäugige Frauen, profane Bildhintergründe), beherrscht Bischoff ihren Strich souverän und kreiert mit dem Einsatz subtilster Mittel unterschwellige Bedeutung.

(Studieren Sie noch mal die Seite 92 von vorhin, wo Anaïs nach einem Stelldichein mit Henry Miller zu ihrem Mann heimkehrt: Die floral verzauberte Landschaft mit der ausgelassenen Liebhaberin im Kleid verwandelt sich zur normalen Straßenszene, in der die Ehefrau im Wintermantel die Küche betritt!)

Will sagen: Diese vermeintlich oberflächlichen, konventionell arrangierten Bilder sind mit Grafikkunst aufgeladen – so wie Frau Nin mit ihrem Doppelleben. Ha. Ho. Hi.
Diese Figur ist alles andere als eindimensional.

Jede Affäre, die sich diese Künstlerin erlaubt, nutzt ihrer Entwicklung und Erkenntnis bzw. generiert neue Persönlichkeiten in ihr.

Kommen wir zur Kritik an ANAïS NIN – IM MEER DER LÜGEN: Kann man dem Werk ans Zeug flicken? Was mir durch den Kopf geht, ist, dass man es als „klischeehaft“ bezeichnen könnte.

Bischoffs bunte Bleistifte (die ich wunderhübsch finde) haben per se diesen Touch von Verniedlichung. Doch was harmlos aussieht, kann inhaltlich umso wuchtiger wirken.
Die Zeichnerin bedient sich generell einer nicht besonders originellen maritimen und floralen Symbolik, hier und da erkenne ich Anflüge von Jugendstil-Kitsch.

Ich kann beides verzeihen, sei es der zeitlich-historischen Einordnung halber oder dem Sujet der „Karussell der Leidenschaften“ geschuldet. Melodram hat seinen Preis.
Weiterhin finden sich abgedroschene allegorische Motive wie der Vater als „Sonnengott“-Figur oder der Prozess des Schreibens als „Gewirbel loser Blätter“. Das trägt dick auf, aber Deutlichkeit muss ja nicht als Einfallslosigkeit gewertet werden.

Auch wenn Sie beim Durchblättern denken mögen „bunte Bleistifte, zarte Blümchen, Frauen in Flammen, kenn ich schon“, seien Sie versichert, dass hinter dieser Kulisse ein erregendes Psychogramm verborgen ist.

Léonie Bischoff hat Anaïs Nin wiedergeboren. Ich bin gespannt auf die Diskussionen.

In der Wiederbegegnung mit dem Vater lotet Anaïs die Abgründe ihrer Jugend und die daraus resultierenden Neurosen aus.

 

Natürlich blättere ich auch durch den Comic, urteilen Sie selbst: