SIBYLLA: grafische Poesie für eine Poetin

Kleine Warnung: Wer hier eine Geschichte, ein Narrativ mit Handlung, erwartet, wird enttäuscht werden. Dieses Buch präsentiert sehr persönliche und künstlerische Impressionen zum Thema „Sibylla Schwarz“ – die allerdings sind wundervoll!

Max Baitinger nämlich nähert sich seiner historisch verbürgten Protagonistin von allen möglichen Seiten: Er illustriert drei ihrer Gedichte und auch eine Handvoll ihrer Lebensstationen, ansonsten aber erfindet er Szenen, die sich im Hause Schwarz abspielen, bringt sich selber als Interpret der Zeit ein – und lässt uns noch am Schaffensprozess von SIBYLLA teilhaben!
Baitinger kredenzt uns eine wilde Melange aus Hommage und Satire, aus Auftragsarbeit und Herzensprojekt, aus bitterem Ernst und luftigem Spaß.

Schnell zur Figur: Sibylla Schwarz aus Greifswald war eine jugendliche Dichterin, 1638 mit 17 Jahren von der Ruhr dahingerafft. Ihr literarisches Werk ist um 1980 herum wiederentdeckt worden; 2021 ist zu ihrem 400. Geburtstag eine weitere Auswahl veröffentlicht worden. Das Jubiläum war auch der Anlass, SIBYLLA auf die Schiene zu setzen.
Herausgekommen ist ein knapp 180 Seiten starker Hardcoverband bei Reprodukt.

Springen wir einmal kopfüber hinein und schauen, was uns Baitinger auftischt:
Vater und Tochter Schwarz sind vor anrückenden Truppen ins Landhaus nach Frätow an der pommerschen Küste geflohen. Der verständnisvolle Vater richtet seiner Dichtertochter ein Schreibstudio ein:

Mit wenigen Strichen gestaltet Baitinger die Szene als Funny – als zentrales Motiv erleben wir die Gans Mathilde, die Federn wird lassen müssen (denn ein Gänsekiel ist das Schreibwerkzeug von Sibylla).

Drei Passagen in SIBYLLA gehören der Lyrik von Schwarz. Baitinger illustriert jeweils wenige Zeilen mit großflächigen visuellen Assoziationen.
Die Schattenfigur im Boot auf dem Meer verweist übrigens auf die letzten Seiten des Comics, wo eine solche Gestalt ins Bild tritt und der Dichterin Sibylla begegnet. Ich wage die Auslegung, dass Baitinger hier an sich selbst denkt und freundschaftliche Verbundenheit mit seiner Protagonistin ausdrücken möchte.

Neben biografischen Häppchen und lyrischen Zitaten reichert Baitinger sein Buch noch mit skurrilen Comedy-Einlagen an. Als Beispiel sei folgende Sequenz angeschnitten:
Ins Landhaus eigenmächtig einquartiert haben sich zwei Söldner, die sich dort breit machen. Vater Schwarz nähert sich den beiden Kerlen mit einem Uhrenkasten, der eine ganz besondere Zeit anzeigt. Der Zeiger nämlich präsentiert keine Tageszeit, sondern wem die Stunde zur Hausarbeit schlägt.

Vater Schwarz möchte, dass die Söldner (so wie er) ihre Namen auf die Scheibe eintragen und solcherart darstellen, wer als nächstes an der Reihe ist. Die Herren aber strafen den Vorschlag mit Missachtung.

Man traut seinen Augen kaum, aber Max Baitinger hat einen Wohngemeinschafts-Putzplan-Witz in den Dreißigjährigen Krieg transportiert. Ein dreistes Stück!
Ich möchte diesen Menschen gern die komplette Weltgeschichte illustrieren sehen.

Das ist der Anachronismus, wo ich mitmuss

 

Mich begeistert Baitingers ironischer Ansatz, der aber auch zarte Momente integriert. Betrachten wir zwei weitere Seiten. Was wäre gewesen, wenn Sibylla ihre Volljährigkeit erlebt und ihren Vater beerbt hätte?

Das wird alles einmal dir gehören!“, ist so ein Standard-Gag, den Baitinger jedoch in vollem Ernst ausdifferenziert: dein Garten, dein Beet, deine Schubkarre.
Direkt gefolgt von einem apokalyptischen Einzelbild, die Furie des Krieges in ganzer Schrecklichkeit. Wahrscheinlich hätte der Dreißigjährige Krieg sowieso alles vernichtet.
Wahrscheinlich“ ist auch das einzige Wort, mit dem Baitinger einen kontemplativen Vater-Tochter-Augenblick überschreibt.
Schön könnte dieses Leben gewesen sein. Ohne Krieg. Ohne Tod.

Zu Beginn habe ich erwähnt, dass Baitinger uns auch am Schaffensprozess teilhaben lässt. Er beschreibt, dass der ihn finanzierende Verein „Sibylla Schwarz e.V.“ seine Skizzen und seine Herangehensweise für gut befindet.

Somit baut sich Baitinger als Interpret selbst ins Werk ein und versieht SIBYLLA mit einer Meta-Ebene. Die er übrigens zu frechen Scherzen nutzt.
Offenbar war man beim Verein nicht glücklich mit dem Design seiner Häuser, die zeithistorisch „sicher nicht so ausgesehen hätten“.

Das scheint dem Zeichner ein Eingriff in  seine künstlerische Freiheit gewesen zu sein, denn als der Verein gegen Ende des Werks mit detaillierten architektonisch-bautechnischen Hinweisen an ihn herantritt, montiert Baitinger diese nur ein, um die akkuraten Gebäude augenblicklich in Flammen aufgehen zu lassen.

Das ist so „fein gemein“ inszeniert, dass ich dem Künstler die Hand schütteln möchte. Dienstleistung und Widerstand aus einem Guss. Meine Lesart, natürlich.

An anderer Stelle lesen wir: „Eine finanzielle Unterstützung könne der Verein schon leisten, heißt es. Für Geld würde ich auch weiter ausholen. Viel weiter.“

Es folgen Illustrationen aus der Urzeit der Erde, als die Fische aus dem Wasser an Land kommen und die Menschenaffen sich zu Herren der Welt aufschwingen. Was mit dem Thema „Sibylla Schwarz“ null und nichts zu tun hat!
(Allerdings kriegt Baitinger nach ein  paar Seiten wieder die Kurve und zeigt uns ein Evolutions-Panaroma zum Dreißigjährigen Krieg hin. Mission erfüllt.)

SIBYLLA setzt einer jungen Dichterin ein schönes Denkmal. Baitinger hat einen perfekten Teaser kreiert, um sich mit dem Werk der Sibylla Schwarz zu befassen. Hmmm. Dazu sollte man wahrscheinlich an diesen Verein herantreten.

Wie immer blättere ich durch das Werk und zeige ein paar hübsche Sequenzen: