Die Insel des Dr. Moreau

Manchmal hat man nur Ärger mit den Klassikern.
Der englische Schriftsteller H. G. Wells gilt als Visionär der fantastischen Literatur, seine Hauptwerke bewegen die Menschheit seit Jahrzehnten und stehen in höchstem Ansehen:

„Die Zeitmaschine“, „Die Insel des Dr. Moreau“, „Der Unsichtbare“ und „Krieg der Welten“ (alle übrigens in jährlichem Abstand von 1895 bis 1898 erschienen!) sind jeweils dutzendfach adaptiert sowie geklont, verwässert und beliehen worden in allen Darreichungsformen der Popkultur. DIE INSEL DES DR. MOREAU trifft das besonders hart, doch dazu später.

Der Comiczeichner Gabriel Rodríguez wollte diesen Stoff umsetzen (und hat es getan, mit redaktioneller Schützenhilfe des IDW-Verlegers Ted Adams).
Rodríguez nahm sich allerdings die Freiheit, den Protagonisten Edward (der nach einem Schiffsunglück auf die Insel gespült wird und sich mit dem verrückten Wissenschaftler Moreau und seinem Handlanger Montgomery konfrontiert sieht) durch eine Biologin namens Ellen auszutauschen.

Ein Genderswap also, auch Ellen kommt durch das Schiffsunglück (das nie erklärt wird, eigentlich ein hübsches Geheimnis) auf die Insel und entdeckt zu ihrem Entsetzen, dass der Doktor biologische Experimente an Tieren durchführt.

Im Nachwort motiviert Rodríguez seine Änderung wie folgt:
Ich wollte einen Blickpunkt anbieten, der den Perspektiven von Moreau und Montgomery entgegensteht. Ich denke, die dominante Metapher hinter einer Figur wie Moreau ist eine sehr männliche Machtfantasie. Der Alpha-Mann, der sehr leicht auf einen destruktiven Weg gelangt und nicht immer erkennt, welchen Schaden er anrichtet.
Wenn wir eine weibliche Figur mit hochentwickelter Empathie-Fähigkeit einführen, dann verstärken wir damit die Spannung und den Konflikt der Story, vor allem, wenn wir das im Kontext jener Zeit betrachten, jenem kulturellen Moment der Menschheit, dem historischen Zeitrahmen dieser Adaption. Frauen kämpfen für ihre Rechte und präsentieren einen anderen Blickpunkt als die männliche Dominanz
.“

Jetzt gibt es Menschen, die nennen das sexistisch. Klingt erst mal paradox, der Zeichner hat doch gerade einer Frau den Arbeitsplatz zugeschustert!
Andererseits tat er dies, weil er die Frau als Vehikel ihrer vermeintlich „hochentwickelten Empathie-Fähigkeit“ benutzt und somit binäre Geschlechtsidentitäten zementiert (die wir als überholt ansehen).

Ich habe den Comic (zunächst) nicht als sexistisch gelesen (und der Rollentausch funktioniert für mich auch). Er ist keineswegs pin-up-sexistisch (stellt den Körper der Frau nicht zur Schau), jedoch kann man ihn als strukturell sexistisch bezeichnen (wegen seiner Rollenbilder, Charakterzuschreibungen und so).

Was mir darüber hinaus aber noch auffiel: DIE INSEL DES DR. MOREAU leistet sich einige Bildchiffren, die wir als klassisches „damsel in distress“-Motiv lesen können (Frau in Nöten). Ellen ist zwar kein Weibchen, sie hantiert mit Waffen und tritt energisch auf – aber rein von der Ikonografie, von der Bildsprache her, sehen wir hier zum Beispiel eine schluchzende Frau am Boden:

Jetzt werde ich schon speziell, so weit will ich gar nicht gehen. Ich möchte nur zeigen, wie differenziert wir heute Comics besprechen können. Wie reflektiert unser Blick sein kann.

(Ein Advocatus Diaboli könnte als Gegenargument anbringen, dass gerade diese althergebrachte Bildsprache und der retroillustrative Zeichenstil an sich doch ganz prächtig in die Zeit des Dr. Moreau passen, als Rollenbilder noch nicht hinterfragt wurden. Und vielleicht doch in Ordnung bzw. verschmerzbar wären? Wobei wir aber einer Verfälschung aufsitzen würden, denn im Original war ja ein Mann die Hauptfigur!)

(Wiederum andererseits habe ich Schwierigkeiten, mir DIE INSEL DES DR. MOREAU als nur mit Kerlen besetzt auszumalen. Werkgetreu oder nicht, hätte das im Jahre 2020 funktioniert?! Ist diese literarische Vorlage überhaupt noch den ganzen Ärger wert?)

So fluktuieren wir lustig hin und her, aus dem Korpus heraus in die Metaebene, aus der inhärenten Werksbetrachtung in die Rezeptionsgeschichte. So stürzen meine Gedanken vom Pro ins Contra und hängen sich an Legitimierungsfragen auf.

Willkommen in Teufels Küche

 

„Teufels Küche“ übrigens der Spitzname des Labors des Dr. Moreau. Nein, Spaß.

Aber was taugt denn jetzt der Comic bitteschön? Verlassen wir die Gender- und Bildchiffren-Problematik und reden wir als Sprechblasen-Konsument. Was keine Diffamierung sein soll, heheh.

Ich bin ja ein Mensch, der Wert auf die Geschichte legt, das Skript hinter dem Comic, die Motivierung der Figuren und die Dramaturgie der Abläufe.

Die Handlung huscht leider extrem schnell vorüber: Auf nur einem Spaziergang begegnet Ellen gleich mehreren erschröcklichen Kreaturen, platzt in Dr. Moreaus Operationssaal, flieht zu den Tiermenschen, erlebt dort eine Einweisung in die Sitten und Gebräuche, wird von Moreau und Montgomery aufgespürt, macht eine Szene (die oben gezeigte) und lässt sich dann Moreaus Absichten erklären.

Damit ist der Comic (der nur 50 Seiten hat) auch schon über die Hälfte rum. Mir kommt es vor, als mache die Formel Eins Station auf der Insel des Dr. Moreau. Nach diesem rasanten Qualifying schwingen sich die Figuren noch einmal in ihre Rollen und preschen ins Finale: Tiermenschen befolgen eine Regel nicht, allgemeine Konfrontation, Puma-Mann tot, Kreatur entwischt aus Labor, Moreau tot, Montgomery betrunken, Labor in Flammen, Montgomery tot, Tiermenschen frech, Ellen gewinnt Oberhand.

Ich habe mich gefragt, ob der Originalstoff so eine galoppierende „Grütze“ ist oder ob die Komprimierung durch Rodríguez diesen unvorteilhaften Eindruck hervorruft.
Ich habe den Wells nicht gelesen (und habe es auch nicht vor), auf Wikipedia aber scheint es mir, als käme der Roman deutlich getragener daher und nähme sich Zeit für seine Figuren (natürlich).

Ich habe daher den Verdacht, dass Rodríguez das Material dahingehend ausschlachtet, die saftigsten Szenen herauszupicken und als prächtige Tableaus und actiongeladene Doppelseiten-Panoramen in den Vordergrund zu stellen.

In der Tat brilliert jede Seite durch einen sauberen Look und interessante Kompositionen. Dieses Vorgehen ist legitim für einen Illustrator, aber tödlich für die Dramaturgie. Auf der Strecke bleiben nämlich die Psychologie und die Glaubhaftigkeit der Figuren, die in ihren Dialogen oft „überliterarisch“ und wenig lebensnah reden.

Ellen adressiert Dr. Moreau und kassiert von ihm eine Antwort, die mir in ihrer Flapsigkeit nicht werkgetreu vorkommt.

 

Überragend, exquisit und atemberaubend sind die Tiermensch-Kreaturen, die Rodríguez mit beinahe perverser Liebe fürs Detail gestaltet. Da kann und darf man staunen.

Dass der Stoff von Wells heute keinen mehr vom Stuhl reißt, ist nicht die Schuld des Dr. Moreau, sondern des totkopierten Konzepts durch seine zahllosen Nachahmer.
Ob Fernsehserien, Superheldencomics, Videospiele oder Actionfilme – die geheimnisvolle Insel fernab der Zivilisation mit dem verrückten Wissenschaftler und den unheimlichen Machenschaften ist ein derart dankbares Setting, dass es fast schon lächerlich wirkt.

(Der in der Materie bewanderte Übersetzer des Comics, Josef Rother, hat mir versichert, DIE INSEL DES DR. MOREAU sei schlechthin der Urknall dieses Topos gewesen.)

Das Los der Klassiker. Oft kopiert, stets erreicht. Harhar.

Es gab übrigens 2017 bei Splitter schon eine andere Comicadaption der INSEL.
Darauf wies mich beim „Kollektiv der Comic-Köpfe: Runde 4“ der Florian von Geekeriki hin. Da bleibt der Mann (wie bei Wells präsentiert) die Hauptfigur, der Comic soll aber auch nicht so prall sein …

Das könnte man jetzt schön vergleichen, aber ich bin zu müde, mir den Stiefel nochmal reinzuziehen. Schauen wir lieber hinein in die Panini-Fassung der aktuellen Adaption (ehe ich in meine ZEITMASCHINE steige und mich UNSICHTBAR mache, KRIEG ich noch WELTEN aus der Südsee präsentiert, autsch):